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Niemals ist ein Versprechen redlicher gehalten worden als das der Familie Granbom, daß Jenny ganz zur Familie gezogen werden würde, nie ist das Gefühl des Zwanges und Respektes einem Menschen, der seine erste Stelle antritt, schneller verflogen als Jenny. Bjelkåsa lag kaum 35 km von Elgarås entfernt, aber Jenny war noch nie dort gewesen und hatte auch die Familie noch nie gesehen. Vor vielen Jahren war Papa einmal auf einem Markte mit dem Hauptmann zusammen gewesen und hatte ihm ein paar magere Ochsen abgekauft, und im Pfarrhause war gelegentlich davon gesprochen worden, daß die Frau Hauptmann eine geborene Baronesse sei; dies waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen Jenny ihrer hatte erwähnen hören. Denk, wenn sie sehr stolz und von oben herab wären, wenn das Versprechen »ganz zur Familie gezogen« nur dafür Garantie böte, daß sie nicht ganz auf ihr Zimmer oder die Küche angewiesen sei, wenn Besuch kam, oder daß sie manchmal mit den Herrschaften ausfahren dürfe.
Die Dämmerung des kurzen Märztages brach herein, als Jenny in Bjelkåsa mit dem Granbomschen Wagen, der ihr auf halbem Wege begegnet war, anlangte. Schon der jämmerliche Zustand der Auffahrt und die losgerissenen Strohbüschel, die hier und da auf dem baufälligen Viehstalldache im Winde hin und her wehten, fesselten gleich den Blick der Landmannstochter, und als der Wagen dann über den Hof fuhr und die Pferde vor der einen Thür des Wirtschaftshauses scheuten, die aus ihren verrosteten Haken in Stücken auf die Erde gefallen war, da begann ihre Ehrfurcht und Ängstlichkeit sich schon in eitel Verwunderung zu verwandeln.
Ein schöner Hühnerhund kam ihr entgegen; er bellte nicht, sondern sah freundlich zu ihr auf und wedelte mit dem Schwanze. Dann kam eine Magd mit zottigem, schwarzen Haar, aber sie grüßte weder, noch knixte sie oder nahm Jenny den Fußsack ab; sie schrie nur: »Jesses!« und setzte in leichtem Kurzgalopp an der Längswand des rotangestrichenen, stallähnlichen Gebäudes entlang, an dessen Quergiebel vermutlich die Küchentreppe belegen war.
Jenny hatte sich gerade selbst von der Reisedecke und dem Fußsacke befreit und war vom Stuhlwagen gesprungen, als sie eine fröhliche Stimme hörte:
»Willkommen, liebes, süßes Fräulein Högfeldt! Willkommen, willkommen! Ist niemand zum Aufpassen hier? Nein aber, Christine! Otto, wo bist du? Schmiere mich nicht mit deinem Butterbrote ein, allé! Gleich gehst du hinein, Anna, sonst giebt's etwas! Guten Abend! Seien Sie herzlich willkommen! Treten Sie näher! Du Ungetüm! Diesen Weg!«
Sie gingen durch eine große dunkle Halle an der linken Seite in einen geräumigen Saal mit niedrigen Wänden und verräucherter Decke, worüber man sich gerade nicht wundern konnte, denn gerade in diesem Augenblicke zog schwarzer Rauch aus dem schiefstehenden, oben eingesprungenen Lampencylinder. Mit einem hastigen: »Um Vergebung!« eilte Jenny hin, schraubte den Docht niedriger und gab dem Cylinder durch einen kleinen Stoß mit dem Nagel eine etwas geradere Stellung.
Dann warf sie einen schnellen Blick um sich, der sie weder die Wienerstühle mit ihrem defekten Rohrgeflecht, noch die zerrissene Decke auf dem runden Tische unter der Hängelampe unterscheiden ließ, ihr weder zeigte, daß die schmutzigen Gardinen schief hingen, noch daß der Fußboden des Scheuerns bedurfte und die Büffetthüren nicht schlossen, sie aber doch mit dem instinktartigen Gefühl von Unordnung und Unsauberkeit erfüllte.
Und gerade vor ihr stand eine kleine, vergnügt aussehende, braunäugige lachende Frau von einigen dreißig Jahren, deren guter Humor augenscheinlich weder dadurch gestört wurde, daß ihr Gebiß schrecklich schlecht gemacht war, noch dadurch, daß ihre rote Tricotbluse große Fettflecken hatte. Sie plauderte unaufhörlich:
»Nein, es ist wohl am besten, daß Sie erst auf Ihr Zimmer gehen und ablegen. Bitte, Fräulein! Schreckliches Gör! Wohin gehst du, Christine? Nimm Brita mit und tragt die Sachen hinauf. Ja, Fräulein, Sie bekommen, wie wir schrieben, ein eigenes Zimmer, aber es wäre schrecklich, wenn Anna und Lotte dort »nur des Nachts« schlafen dürften. Ja hier ist es. Groß und hell. Aber, Kreuz, wie sieht das Wasser merkwürdig aus! Großer Gott, das ist ja die Wasserflasche, die ich in Gedanken hergesetzt habe. Sehen Sie, Fräulein, heute müssen Sie so gut sein und mit einer leeren Bierflasche vorlieb nehmen, morgen kommt eine ordentliche Karaffe vom Kaufmanne. Ja, hier haben Sie Ihre kleine Freistatt. Aber denken Sie, in Lottes Matratze waren Wanzen und wir mußten sie auftrennen und sie auskochen. Können Sie die ersten Nächte Lotte mit in Ihrem Bette schlafen lassen, Fräulein? Sagen Sie es aufrichtig! Sie ist ein merkwürdiges Kind, sie stößt gar nicht mit den Füßen.«
Jenny maß mit einem flüchtigen Blicke das wenig über eine Elle breite Feldbett und die ganz gut entwickelte, achtjährige, flachsblonde Lotte, die mitgegangen war und nun mit allen zehn Fingern zugleich im Munde ihre künftige Lehrerin ernsthaft betrachtete. Und dann sagte sie, daß es ihr ein aufrichtiges Vergnügen sein würde, Lottchen mit ins Bett zu nehmen, worauf die Frau Hauptmann ihr einen Kuß gab, bat, Du sagen zu dürfen und ihr mitteilte, daß sie selbst Alma hieße.
Als sie wieder in den Eßsaal traten, war der Hauptmann da. Er war ein hochgewachsener, strammer, blonder Mann mit kurzgeschnittenem, graugesprenkeltem Haar. In voller Uniform mochte er auch wohl ein recht stattlicher Mann sein, nun aber erschien er mit einer Lederweste unter der Joppe, einem drei Zoll langen Stoppelbarte und einem Kragen von zweifelhafter Farbe. Munter und freundlich, hieß er Jenny willkommen und dann setzte man sich zu dem einfachen Abendessen nieder, wobei Jenny auch ihre beiden andern Eleven in Augenschein nehmen konnte. Anna war neun Jahre alt und glich Lottchen wie ein Ei dem anderen, der sechsjährige Axel dagegen hatte das dunkle Haar und die braunen Augen der Mama geerbt. Die Kinder hatten gute Gesichter, aber alle ihre Manieren schienen deutlich zu zeigen, daß sie bisher in Freiheit dressiert worden waren. Beim ersten Bisse in das erste Butterbrot verfinsterten sich die Züge des Hauptmanns bedeutend, und er hielt seiner Frau die Schnitte gerade unter die Nase.
»Was ist das, Alma?«
»Oh, es ist zum Verrücktwerden! Christine! Christine! Wenn du dich nicht vor dem Brotschneiden wäschst, wenn du eben die Lampen zurecht gemacht hast, wirst du etwas von mir zu hören bekommen, darauf kannst du dich verlassen.«
Eine halbe Stunde später war auf Bjelkåsa alles still und dunkel, und Jenny lag in dem schmalen Feldbette und suchte die kleine Lotte und ihren eigenen müden Leib aufs beste unterzubringen, damit doch etwas aus der Nachtruhe werden könnte.
Zum erstenmale hatte sie fremdes Brot, Dienerbrot gegessen und obgleich es einen unbestimmten Petroleumgeruch gehabt, hatte es doch weniger bitter geschmeckt, als sie es geglaubt hatte. Was bedeuteten die Mängel des Hauses gegen die Freundlichkeit, mit der man ihr entgegengekommen war. Hier konnte sie sich nützlich machen und zum Segen gereichen, das fühlte sie. Hier würde man ihre Arbeit sehen, schätzen und würdigen können. Und mit den wärmsten Gefühlen für ihre kleine, braunäugige, unordentliche Herrin drückte Jenny den Kopf an Lottchens Wange und schlief endlich ein, während ihre unklarer werdenden Gedanken liebevoll zu »Mama und den kleinen Geschwistern« schwebten.
*
Die Nachbarn kannten Bjelkåsa bald kaum wieder. Allerdings war der Weg noch ebenso schlecht und die Stallbündel flogen schlimmer als je auf dem Strohdache umher. Aber die Gardinen waren rein und hingen gerade, der Saalfußboden war gescheuert und mit einem feinen Läufer bedeckt, und das Essen war gut und ordentlich zubereitet.
Die gute Frau Hauptmann machte durchaus kein Hehl daraus, wessen Verdienst dies war.
»Das ist wirklich eine Achtung gebietende Krebsomelette, liebe Alma, von der muß ich mir noch ein bißchen nehmen,« sagte die Pastorin einmal, als sie und ihr Mann gebeten worden waren, den Abend zu bleiben. »Ja, Jenny versteht sich aufs Kochen, wie die feinste Hotelköchin. Das Schlimmste ist, daß Otto, der seit unserer Hochzeit nie recht Appetit gehabt hat, nun so ißt und sich so vollstopft, daß er uns noch die Haare vom Kopfe ißt,« erwiderte die Frau Hauptmann.
Aber nicht nur der Appetit des Hauptmanns hatte eine Veränderung erlitten; seine ganze Erscheinung machte einen gepflegteren Eindruck gegen früher. Seit alles im Hause sauberer und gemütlicher geworden war, wollte es ihm nicht mehr behagen, den ganzen Abend in hohen Stiefeln zu gehen und die Lederweste begann ihn im Hause zu genieren. Die Bartstoppeln hatten ihn früher nie belästigt, selbst wenn sie zolllang waren, aber nun kratzten sie ihn ganz verwünscht, sowie er sich zwei Tage nicht rasiert hatte.
Gleichzeitig wurden die Mädchen und alle in den Anfangsgründen unterwiesen. Rasch ging es freilich damit nicht, aber nachdem sie ihre Lehrerin ordentlich lieb haben und ihr gehorchen gelernt und eingesehen hatten, daß sie die Macht und die Befugnis hatte, selbst handgreifliche Erklärungsmittel anzuwenden, ging es auch nicht so schlecht damit.
Dagegen konnten Jennys Buchführungskenntnisse vollständig ruhen. Auf Bjelkåsa wurde überhaupt nichts aufgezeichnet. War Geld im Hause, so gaben der Hausherr und die Hausfrau es mit einer Freiheit und Gleichheit aus, die sogar den Verein für das Besitzrecht der verheirateten Frau zufrieden gestellt hätte; war kein Geld da, so kann man sich auf dem Lande, wo man Korn, Milch, Eier, Kartoffeln, Schlachtvieh und ein Kontobuch beim Materialwarenhändler hat, doch ein gutes Stück weiter helfen. Daß sie zurückkamen, wußten beide ohne Buchführung und wie weit es damit ging, das würde einst die Sache der Gläubiger sein.
Bald war eigentlich Jenny faktisch Hausherrin in Bjelkåsa und bestimmte alles, vom Weben, Schlachten, Einkaufen bis zum Flicken von Almas Ärmeln und dem Reinigen der roten Trikotbluse. Jenny's Aufnahme im Verkehrskreise wurde natürlich durch ihre Stellung im Hause bestimmt, und überall kam man ihr mit Achtung und Freundlichkeit entgegen. Von Mama kamen gute Nachrichten und Jenny würde so glücklich gewesen sein, wie sie es bei ihrem ruhigen, gleichmäßigen Temperamente begehrte, wenn sie nicht unter der Sorge um die Zukunft dieser Familie, die sie wirklich lieb gewonnen hatte, gelitten hätte. Bald würde die Zeit gekommen sein, da ihre Kenntnisse nicht mehr ausreichten, Anna, das älteste der Mädchen zu unterrichten, und aus diesem Grunde schenkte sie am Ende ihres zweiten Jahres auf Bjelkåsa dem Anerbieten Gehör, welches die Frau Assessor Klint, die Frau des Landrichters, ihr machte. Sie sollte zu dem Bruder und der Schwägerin der Assessorin kommen, einem Ingenieur Rünkrans, für 300 Kronen jährlich, angenehmes Leben »und wirklich großartige Geschenke zu Weihnachten und auch wohl zwischendurch,« wie Frau Klint versicherte.
Das war ein Jammer ohne Ende auf Bjelkåsa, als Fräulein Jenny fortwollte. Der Hauptmann verlor aufs neue den Appetit, stieß den armen Hühnerhund mit dem Fuße, fluchte über die Knechte und erklärte sich bereit, den Lohn bis auf 120 Kronen zu erhöhen, wenn nur alles beim Alten bliebe. Alma weinte und nannte sie undankbar, die kleinen Mädchen weinten ebenfalls und versprachen, viel fleißiger im Rechnen zu werden, wenn sie Jenny nur behielten, und der kleine Axel erklärte sich bereit, Vater und Mutter zu verlassen und seiner Lehrerin bis ans Ende der Welt zu folgen.
Diese Anhänglichkeit erfreute Jenny und schmerzte sie zugleich. Doch vergebens suchte sie mit Alma vernünftig darüber zu sprechen und ihr vorzustellen, daß sie aus vielerlei Gründen ja doch nicht viel länger zusammenbleiben könnten und daß es doch für ein armes Mädchen ohne Beziehungen, ohne bedeutende Kenntnisse und weitere Zeugnisse, ungewiß wäre, je wieder eine solche Stelle wie die ihr nun erbotene zu finden. Die gute Frau Hauptmann war eine unverbesserliche Vollblutsegoistin.
»Du handelst nicht recht gegen mich, und ich halte doch so viel von dir. Du hättest bei uns bleiben müssen, so lange es noch mit uns geht,« war ihre ständige Antwort auf alle Vorstellungen.
Doch als die Abschiedsstunde endlich kam, zerschmolz alle Unzufriedenheit in Thränen, da hingen die Kinder an Jennys Mantel und heulten wie junge Wölfe, und der Hauptmann drückte ihr gerührt die Hand, und Alma umarmte sie so, daß die Knöpfe von der roten Trikotbluse Nr. 2 absprangen, und die Strohbüschel tanzten wehmütiger als je auf Bjelkåsas baufälligem Stalldache.