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Während seine Augen erstaunt über die Zeilen hineilten und seine Finger eifrig Blatt für Blatt umwandten, hatte er vieles, vielleicht das meiste überschlagen. Er versuchte nun von Anfang an wieder zu beginnen. Es war ihm unmöglich. Seine Blicke wurden wieder von den Zeilen gefesselt, in denen sich ihre unbewußte, aufkeimende Liebe, ihre zärtliche, hingebende Resignation verriet.
Es wurde an die verschlossene Thür geklopft. Jemand wollte mit ihm sprechen. Er mußte antworten, damit man nicht glaubte, es sei ihm ein Unglück passiert, öffnete aber nicht.
Sein erstes Gefühl war natürlich, sofort nach Lindenäs zu eilen, sie in seine Arme zu schließen und sie jubelnd als sein wirkliches, geliebtes Weib heimzuführen.
Doch das konnte er nicht und glaubte auch, es nicht thun zu dürfen. Sie sollte nie erfahren, daß er ihr Geheimnis gestohlen hatte, er mußte wie von selbst kommen, wie einer, der seine eigenen Gefühle nicht mehr zu beherrschen imstande war und demütig und bebend ihre Entscheidung über sein Geschick erwartete. Wer weiß? Vielleicht wäre es schließlich auch so gekommen. Vielleicht? Vielleicht auch nicht? O wie er bei dem Gedanken schauderte, daß die Stunde des Verständnisses am Ende erst geschlagen hätte, nachdem die schöne Sommersonne ihres Lebens bereits zu Thal gegangen!
Doch nun! Wie leicht wurde es ihm nun, vor sie hinzutreten, da er wußte, daß er in ihrem eigenen Herzen seinen mächtigsten Fürsprecher hatte!
Ja, so war es am besten. Und nun erst war es ihm möglich, mit freudetrunkenen Gefühlen und strahlenden Blicken, diese geliebten, teuren Tagebuchblätter, den Glücksbrief fürs Leben, Wort für Wort aufmerksam durchzulesen. Der Abend brach herein. Die Nacht ging dahin. Erst am folgenden Morgen war er, nach sieben- oder achtmaliger Wiederholung mit dem Lesen des teuren Manuskriptes fertig, mit seinen Gedanken, Gefühlen und Plänen ins Reine gekommen. War dies dieselbe Erde, die er gestern gesehen hatte, war dies wirklich dieselbe Sonne, die darüber schien, als er neu gestärkt, verjüngt, gesund und überglücklich an dem schönen Herbstmorgen nach der durchwachten Nacht auf der Freitreppe stand und auf den Wagen wartete?
»Schneller, Johnson! Schneller!«
Auf der Brücke ließ er halten, nahm einen kleinen Schlüssel aus der Westentasche und warf ihn weit in den Fluß hinaus.
Es war Amelys Schreibtischschlüssel.
Sie sollte ihn bei ihrer Heimkehr nicht im Schlosse finden und sich darüber aufregen, daß ihr Geheimnis so schlecht verwahrt gewesen sei. Auch sollte ihr Mißtrauen nicht dadurch geweckt werden, daß er selbst oder ein anderer ihn ihr brachte. Sie mußte glauben, daß sie ihn verlegt oder verloren habe. Nach eifrigem, vergeblichem Suchen würde sie dann das Schloß öffnen lassen und die Tagebuchblätter an ihrem Platze finden, ohne jemals zu erfahren, welche Aufgabe sie in ihrem beiderseitigen Leben erfüllt hatten.
Amely stand vor dem Spiegel am Fenster und legte die letzte Hand an ihre Toilette, als sie ihn im Galopp die Allee herabfahren sah. Sie wurde unruhig. So früh, schon vor dem Frühstücke! Wenn nur nichts passiert war!
Doch dann lächelte sie wehmütig. Was konnte denn passiert sein?
Von kleinen Mißgeschicken im Haus und Hof oder in der Gutswirtschaft machte ihr Reichtum sie ja unabhängig. Und etwas anders, ... ein vereinendes Band, etwas, das ihnen beiden gehörte, etwas Liebes, etwas, für das liebevolle Herzen beben, vielmals an einem Tage, über das sie sich freuen, und dann wieder aufregen, etwas Lallendes mit wunderbaren Blicken und runden Ärmchen, das besaßen sie ja nicht ... würden sie nie ihr eigen nennen.
Er traf sie in der Halle und stutzte bei ihrem Anblicke. Hatte er denn alles geträumt? Konnte diese ruhige, gleichgültige Außenseite wirklich eine so hingebende, liebevolle Gedankenwelt einschließen? Er trat nahe an sie heran, legte die Hand auf ihren Arm und flüsterte:
»Amely, ich möchte gern, daß Du jetzt nach Hause kämest!« Sie sah ihn erstaunt an. Seine Stimme klang verändert, und weshalb hatte es solche Eile mit ihrem Nachhausekommen?
»Wann Du willst. Montag etwa?«
Seine Augen glühten, und seine Hand griff fester um ihren Arm.
»Weshalb nicht jetzt?«
Er fühlte eine brennende, berauschende Lust, sie in seine Arme zu ziehen, sie jetzt gleich in den Wagen zu setzen und dann ... heim ... heim ...
»Ja, heute Abend schon, wenn Du es gern willst.«
»Nein, eher, eher, Amely! Nach dem Frühstücke kommst Du mit, nicht wahr?«
Was war ihm eigentlich? Zustimmend neigte sie das Haupt und ging, um ihrer Mutter ihre Abreise anzukündigen. Auf dem Heimwege sprach er kaum ein Wort. Doch das Gefühl neben ihr zu sitzen, ihre frische, feine Wange und das blonde, süße Köpfchen zu sehen, beseligte ihn. Ja, nun machten sie ihre Hochzeitsfahrt nach Lindenäs!
Er hob sie aus dem Wagen, er hob sie hoch in die Luft. Und als sie nun wieder in der Halle am Fuße der breiten Treppe standen, flammte es vor seinen Blicken wie Rosenschimmer, mit einem Jubelrufe legte er den Arm um sie und trug sie wie ein Kind hinauf ...
Dort setzte er sie auf denselben Stuhl wie am Hochzeitsabende, kniete vor ihr nieder und verbarg das Haupt in ihrem Schoße ...
Verwirrt, erschreckt, wußte sie weder, was sie sagen, noch, was sie thun sollte. Unwillkürlich legte sie die Hand aus sein schönes, lockiges Haar ...
Doch sie zog sie so hastig wieder zurück, als hätte sie sich daran verbrannt. Großer Gott! War dies Verzweiflung? Verzweiflung und eine stumme Bitte um Vergebung? Konnte er das Leben, das sie sich vorgezeichnet hatten, nicht weiter führen? Hatte er sie der Mutter und den Geschwistern nur deshalb so hastig entführt, um ihr dies zu sagen. Nun wohl, dann wollte sie ihm das erste Wort ersparen.
»Ist es Dir zu schwer geworden, Gösta? Geht es nicht länger?« Ihre Stimme klang dumpf und tonlos.
»Nein, Amely, es geht nicht! Diese Tage der Trennung haben mir die Augen geöffnet. Verzeih mir! Ich muß es Dir sagen. Dieses Leben können wir nicht führen ...«
Leichenblaß erhob sie sich, schob ihn leise zurück und stammelte:
»Ich danke Dir für Deine Aufrichtigkeit ... ich ...«
Doch er schloß sie in seine Arme, verbarg das Haupt an ihrer Brust und flüsterte:
»Nein, es geht nicht, ich ertrage es nicht, denn ich liebe Dich ... Dich, Du mein fremdes, gekauftes Weib! Ich verrate Dich nun zum zweiten Male! Ich habe Dir jetzt Gleichgültigkeit gelogen, wie ich vor dem Altäre Liebe log! Alles oder nichts! Verzeih mir, Amely! Ich kann nicht anders! Sprich mir nun das Urteil!«
Und sie sprach ihm das Urteil!
War es denn möglich? Konnte diese grausame, unheimliche Erniedrigung mit dieser unendlichen Seligkeit schließen? Waren es wirklich er und sie, die hier saßen? Wie konnte Gott so unaussprechlich gut gegen sie sein, die mit vollem Bewußtsein einer seiner heiligsten Institutionen Hohn gesprochen hatten. War es denn wahr? Wirklich wahr?
Sie konnten sich später im Leben gar nicht genau erinnern, wie sie diesen wunderbaren Tag eigentlich verlebt hatten. Sie hatten eine dunkle Erinnerung daran, daß sie sich vor der alten Kerstin, die sie zu Tische rufen wollte, wie Kinder im Parke versteckt hatten, daß sie lange, lange Hand in Hand auf den großen Steinen am Seeufer gesessen hatten, und bisweilen das beängstigende Gefühl gehabt hatten, es würde jemand trennend zwischen sie treten. –
Und sie gingen auf die in den See ragende Landzunge hinaus und sahen von dort im Lichte der Herbstabendsonne ihr schönes stattliches Heim in gelbrotes Laubwerk gebettet liegen. Oh, er kam sich so unwürdig vor! Er hatte sich selbst verkauft und diese reine junge Seele zu seiner Mitschuldigen gemacht, und nun streute sie die unendliche Wonne ihrer reichen Liebe über sein ganzes Leben!
Wo blieb die göttliche Gerechtigkeit?
O, so konnte es nicht immer bleiben. Das Leben lag wie ein unbekanntes Land vor ihnen und nun, nun gab es für den Schmerz und das Unglück tausend Thüren, durch die sie zu der reichen Gutsherrschaft ans Halleborg eindringen konnten! Dem Einsamen, dem Tiefunglücklichen gegenüber steht das Schicksal beinahe waffenlos da, gegen den, welcher liebt, geliebt wird und sein Leben genießt, richten sich in der Welt um ihn herum tausende vergifteter Pfeile. Doch komme was da wolle! Sie war doch sein, und Brust an Brust würden sie das höchste und beste Glück des Lebens auf Halleborg fürderhin gegen Sorgen und Prüfungen verteidigen.
Er hatte sie auf sein Knie gezogen, ihre Wange ruhte an der seinen, und sie hatte den Arm um seinen Nacken gelegt. Sie saßen in seinem Zimmer, in das sie sich früher so selten hineingewagt und das sie nur ausnahmsweise betreten hatte, um Blumen in eine Vase auf dem Tische zu setzen oder um seine Meinung über eine Haushaltsangelegenheit einzuholen. Sie erhob die Augen und richtete sie auf die verschlossene Thür, hinter der Julias Heiligtum lag.
Er ließ sie von seinem Knie hinabgleiten und zog einen Schlüssel aus der Westentasche.
»Nein, nein! Ich will nicht ...«
»Aber ich will es ...«
Als die beiden in stillem, gefühlvollem Schweigen Julias Bild und alle Reliquien lange betrachtet hatten, blieben sie noch einmal vor dem Bilde stehen, und er schloß sie fest in die Arme:
»Mein Goldkind, wirst Du auf sie, die Deinen Geliebten geliebt hat, eifersüchtig sein?«
Amely schwieg.
»Oh nein, Du wirst es nicht? Sprich!«
»Verzeih mir, Gösta! Vielleicht würde ich es werden, wenn Du sie hier drinnen vor mir verbärgest, wenn ich nicht selbst, wenn ich wollte, kommen und der Schönen, Herrlichen, Guten dafür danken dürfte, daß sie Dir diese Liebe eingeflößt, die Dich nachher so wunderbar bewahrt und zu mir geführt hat. Doch draußen im Sonnenschein, an einem Ehrenplatze in unserm Heim, als eine Erinnerung an einen guten Engel, der mit dem verklärten Blicke himmlischer Liebe auf seine Lieben herniederblickt, auch auf mich, die so kühn war. Dich zu lieben! Nein, da werde ich Dir helfen ihr stets, stets unsere besten, wärmsten Gefühle darzubringen. Darf ich es? Dies ist meine erste Bitte an Dich!«
Schweigend nahm Gösta das Bild von der Wand und stellte es in eine der tiefen Fensternischen des andern Zimmers, wo die untergehende Abendsonne einen milden Schein auf die schönen, sanften Züge der Verklärten warf.
Und die Flügelthüren des Sanktuariums öffneten sich der holden Herrin von Halleborg wie die unsichtbaren seines Herzens es schon lange gethan hatten.
Und zum zehnten, zwanzigsten Male an diesem seligen Tage setzte er sich, um von ihren rosigen Lippen und errötenden Wangen die Beichte der lange genährten, himmlischen Liebe zu küssen, von der er, wie sie glaubte, erst heute erfahren, an der er sich jedoch, ihr unbewußt, schon vorher berauscht hatte.
Ein langes, langes, entzückendes Schweigen ...
Schließlich erhob sie sich und sagte:
»Nun, mein Geliebter, jetzt müssen wir einander bis morgen lebewohl sagen!«
– Lebewohl! Gute Nacht! Sie war ja sein Weib ...
»Gute Nacht, mein Geliebter!«
Verwirrt stammelte er:
»Schlafe gut! Gute Nacht! Gott behüte Dich, mein Goldkind!«
Doch als sie die Schlafstubenthür öffnete, hörte sie hastige Schritte auf dem weichen Teppiche ...
»Amely ... mein Weib ...!«
Sie wandte sich um, und der Purpur, der ihre rosigen Wangen färbte, ergoß sich bis auf ihren Hals, als sie den weichen, runden Arm um seinen Nacken legte.
»Dein Weib? Ja, das bin ich und will es werden ... aber ... vor langer, langer Zeit, ehe ich krank wurde ... in den Mädchenträumen des heranwachsenden Kindes war etwas, das wich so frühlingshaft berauschte, so lockend anzog ... Später habe ich nie wieder daran gedacht ... hast Du es? ›Verlobt sein ...‹ Oh, wie schön und fein das klingt. Mir ist, als wäre das Leben nicht vollständig, wenn man nicht auch die Erinnerung an die Brautzeit hat. Wir sind nie ein Brautpaar gewesen, Gösta ...«
Nie mehr in diesem Leben – er fühlte es deutlich – würde er sie so lieben wie in diesem Augenblicke. Seine Liebe würde vielleicht noch stärker, noch inniger, von süßen Erinnerungen umwebt und gebunden werden, doch nie wieder würde sie die heilige Reinheit besitzen, die sie in diesem Augenblicke atmete, da seine Geliebte ihn so rührend in heimlicher Angst um die schöne, frühlingshafte, ahnungsvolle Seligkeit der Brautzeit bat. Er drückte die Lippen andächtig auf ihre hohe, weiße Stirn und flüsterte:
»Schlaf wohl! Träumeden rosenfarbenen Brauttraum, mein Goldkind!«
Druck von C. H. Schulze & Co. in Gräfenhainichen.