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Baron Gösta schloß sich in seine Zimmer ein, die in der Vesterlängstraße in der Nähe der vielen Bureaux lagen, in denen er nach damaligem Brauche zugleich beschäftigt war, und er wartete nun mit der ganzen Naivität der Jugend darauf, daß der Kummer seinem Leben ein Ende machen und ihn wieder mit der Geliebten vereinen sollte. Ach, giebt es wohl eine trügerischere Hoffnung als diese! Ein kalter Luftzug an einem Sommertage kann ein Vorbote des Todes für zwei Liebende, die sorglos träumend in der festlich geschmückten Natur umher schwärmen, werden, doch ein Herz kann qualvolle Jahre, Decennien verzehrender Sehnsucht durchleben, ohne daran zu vergehen.
Er ließ sich nicht mehr in den Bureaux sehen. Dies fiel weiter nicht auf, da auch ohne ihn an jungen Auskultatoren kein Mangel war, und die meisten annahmen, daß er nach Smäåland auf sein Gut gereist war. Die jungen Aufwärterinnen in weißen Häubchen, die dazumal in den Restaurants die Stelle der Kellner vertraten, glaubten ebenfalls an seine Abreise, als der Baron ihren Lokalen nicht mehr die Ehre erwies.
Die alte Malena sorgte für alle Bedürfnisse ihres Barons. Er hatte seine eigene Aufwärterin verabschiedet, und alle Bitten der Alten, er möge doch seine Freunde besuchen, im Wirtshause essen und nicht beständig über seinen Kummer brüten, ließ er unbeachtet. Die alte Malena geriet in Verzweiflung, die Sorgen und Mühen Marthas vereinten sich mit ihrer Trauer. Ihre Kochkunst ließ manches zu wünschen übrig, und da der Baron Gösta Wochen hindurch dieselbe Diät hielt und den im Arbeitszimmer aufgetragenen Resultaten ihrer gutgemeinten kulinarischen Anstrengungen nur ein, höchstens zweimal täglich die Ehre anthat, glaubte sie, daß dies die Schuld ihrer Zubereitung sei und grämte sich sehr darüber. Die Trauer? Ja, natürlich, Malena aber trauerte ja auch aufrichtig, ohne deshalb ihre drei Mahlzeiten zu verschmähen und das Kaffeetrinken bleiben zu lassen. Sie ließ darum eines Tages das Essen vom Schuhmacherkeller holen, wirklich gutes und auch feines Essen, doch an diesem Tage wollte der Baron nur ein Butterbrot haben.
Der junge Baron wurde gebeten nach Halleborg zu kommen. Der alte Inspektor, dem er bei der Beerdigung seines Vaters nur kurze, unvollständige Anweisungen gegeben hatte, schrieb an ihn, ebenso der Hallinger Präpositus und die andern alten Freunde seines Vaters. Ein schmerzliches Lächeln verdüsterte Göstas Gesicht, als er die Briefe las. Oh, sie wußten nichts, konnten nichts wissen! Wie hätte man sonst ihm, der auf den Tod wartete, von der Zukunft, den Bedürfnissen der Begüterung, Urbarmachen und Bauplänen sprechen können! Oh, wie Vetter Karl Emil, der nächste Majoratserbe ihnen gefallen würde!
Zwei Monate vergingen. Drei Monate.
Baron Gösta haßte sich selbst, sobald er in den Spiegel blickte. Sein Gesicht sah noch ebenso jung und hübsch aus, die Wangen hatten ihre Farbe wiederbekommen, und die schwarzen glänzenden Augen zeigten keine Spur von den Thränen, die bei den täglichen Besuchen auf dem Kirchhofe, wo ein einfaches Marmorkreuz mit dem Namen Julia das Ziel seiner Schritte und Gedanken war, so reichlich vergossen wurden.
Eines Maimorgens merkte er zu seiner Überraschung, daß er um neun Uhr aus einem tiefen, stärkenden Schlafe erwacht war und klagte sich schändlicher Untreue gegen die Geliebte an. Großer Gott, wie konnte er essen, schlafen und im Sonnenglanze die Frühlingsluft einatmen, während sie dort unten in der schwarzen Erde ...
Nun gut, er wollte der Natur ein wenig zu Hilfe kommen ... Oh, Julia, Du sollst sehen ... Und so flog sein Blick nach dem Sofa hinüber, über dem die alten, blanken, ciselierten Reiterpistolen hingen.
Pfui! Die hatten Mannesarme in manchem blutigen Strauß geführt. Mit ihnen hatte Fähnrich Hallenhjelm in der Schlacht bei Nördlingen seinem Obersten das Leben gerettet. Mit ihnen und seinem guten Schwerte hatte ein Major Hallenhjelm, ein Gösta wie er selbst, sich einmal einsam durch eine Schar Kroaten hindurchgeschlagen, und nun sollten sie einen Hallenhjelm helfen von der Walstatt des Lebens, wo der heißeste aller Kämpfe ausgefochten wird, zu desertieren!
Nein, das durfte nicht geschehen!
Er versenkte sich in seinen Kummer. Er berauschte sich an seinen Erinnerungen. Er liebkoste seine Reliquien und ging, statt wie früher zweimal, jetzt dreimal des Tages nach dem Kirchhofe. Hätte er das langsam pulsierende Blut, das angegriffene Gehirn, den Pessimismus der heutigen Jugend, der es dazu noch oft an jeglicher religiösen Anschauung fehlt, besessen, so hätte er die beste Aussicht gehabt, sich allmählich zum Wahnsinn hinauf zu arbeiten. Doch sein Blut war zu warm, sein Hirn zu gesund, seine Nerven stählern, und die Heilkraft der Zeit wie die anreizende, belebende Frühlingsluft wirkten unwiderstehlich auf diese gesunde Natur ein.
Schließlich konnte er es in der Hauptstadt nicht mehr aushalten. Es war ihm unmöglich, wieder in seinen früheren Umgangskreis einzutreten, und es verdroß ihn, seine Bekannten bei jedem zufälligen Begegnen wie vor einem Gespenste zurückstutzen zu sehen und mit weitgeöffneten Augen ein: »Hallenhjelm! Großer Gott, bist Du in Stockholm? Wo in aller Welt hältst Du Haus?« murmeln zu hören.
Nachdem er eine lange Sommernacht hindurch von dem weißen Kreuze draußen auf dem Totenacker Abschied genommen, ging er am nächsten Morgen mit der alten Malena an Bord eines Schiffes und traf nach achttägiger Reise auf Halleborg ein.
Die erste Zeit war schwer. Den alten Inspektor wurde er am leichtesten los. Gösta fertigte den alten treuen Diener mit dem allgemeinen Bescheid ab, alles nach alter Weise gehen zu lassen, monatlich Rechenschaft abzulegen und vorläufig weder an Baupläne noch an Urbarmachen zu denken. Nach ein paar mißglückten Versuchen, sich mit dem neuen Majoratsherrn zu beraten, fand sich Svensson in sein Schicksal, ohne jedoch damit zufrieden zu sein.
Gösta beschloß, dem alten Präpositus alles zu sagen. Die Teilnahme einer Person seines eigenen Bildungsgrades that ihm wohl, und außerdem widerstrebte es ihm, den alten Ehrenmann den allgemeinen Glauben der Gutsleute, daß seine Düsterheit sich von der überspannten Trauer um seinen Vater herschriebe, teilen zu lassen.
Schwerer war es mit der lebenslustigen, bekanntschaftsuchenden, adligen Jugend der Umgegend. Der alte Baron war Witwer und seit vielen Jahren Invalide gewesen, und da Gösta, sein einziger Sohn in Stockholm lebte, hatte Halleborg in den letzten zehn Jahren in dem Gesellschaftsleben des Kreises keine Rolle gespielt. Jetzt forderte man von ihm die Erfüllung seiner sozialen Verpflichtungen, und es regnete förmlich Einladungen über den jungen Majoratsherrn. Sie wurden zwar abgelehnt, verpflichteten jedoch zu Visiten und diese wurden wieder eifriger beantwortet als es, genau genommen, notwendig gewesen wäre, besonders von seinen Altersgenossen und den Jugendfreunden, die heiratsfähige Schwestern hatten, bis dann schließlich der Tag kam, da man gerade heraus sagte, mit Baron Gösta sei nichts anzufangen, und sich verletzt zurückzog.
Aus den Monaten war erst ein, dann zwei Jahre geworden. In den Bureaux in Stockholm war Göstas Abwesenheit schließlich doch aufgefallen, und da er sich dort nicht einmal »für Geld« wieder sehen lassen wollte, meldete er seinen Austritt an. Dies nahm niemand Wunder. Er war ja ein reicher Majoratsherr!
Die alte Malena siechte dahin. Sie sah sich für überflüssig an und die Dienerschaft auf Halleborg versüßte ihr auch gerade nicht das Leben. Da sie sich stundenlang in den Zimmern des Barons aufhielt und stets in lebhafter Unterhaltung mit ihm begriffen war, glaubte man, daß sie über ihre Mitdiener klatschte, und die Haushälterin hätte beinahe gekündigt, nachdem sie eines Abends vom Speisesaal aus den Baron und Malena mindestens zehnmal hatte Mamsell sagen hören. Von wem konnte da wohl anders die Rede sein als von ihr, Mamsell Stina Lindberg? Wie hätte sie auch wissen können, daß ihr Herr und die gebrechliche, einfache Alte süße, alte Liebeserinnerungen miteinander auffrischten.
Es wurde so leer als die alte Malena starb. Ihr: »Erinnern sich der Herr Baron ...« – »Wissen Sie noch, Herr Baron ...« – »Ach, heute ist ja Mamsell Julias Geburtstag!« hatte die Herzenswunde freilich wieder aufgerissen, aber die zärtliche Hingebung und der dem Andenken der Geliebten geweihte Kultus waren ihm zugleich ein Balsam gewesen.
Der Geburtstag des Gutsherrn war stets als ein Festtag betrachtet worden, und alles sollte ja bleiben, wie es früher gewesen war. Daher ließ denn auch Inspektor Svensson wie gewöhnlich bunte Papierlaternen in dem Garten aufhängen und große Ausziehtische mit Speise und Trank unter den Linden an der Seite des Hofes aufstellen. Baron Göstas Geburtstag war zu Ende des Sommers. Es wurde ein, wenn auch gerade nicht fröhlicher, so doch reichlicher und opulenter Geburtstagsschmaus sowohl im ersten, wie im zweiten Jahre, das der neue Majoratsherr auf Halleborg verlebte, gegeben. Als Gösta sich an diesem Abende, nachdem er seinen Leuten herzlich gute Nacht gesagt hatte, zurückzog, war er nachdenklicher als gewöhnlich. Er war heute 34 Jahre geworden. An seinem nächsten Geburtstage würde Vetter Karl Emil kraft § 17 der Fideikommißurkunde hier Einzug halten und alle seine Rechte erben.
Nun wohl, dies hatte er ja keinen Augenblick aus dem Gesichte verloren! So wollte er es ja selbst haben! Der Überschuß, den die Einkünfte des Majorates während dieser beiden so eingezogen verlebten Jahre abgeworfen hatten, würde mit dem Erlös für das Inventar, das nicht zur Erbschaft gerechnet wurde und das der neue Majoratsherr stets aus der Hinterlassenschaft seines Vorgängers käuflich erwerben mußte, ausreichen, ihm sein bescheidenes Brot zu sichern und den fortgejagten Gutsherrn vor Not zu schützen. Dann konnte er ja, wie er es so gern wollte, nur seinem Grame und seinen Erinnerungen leben, verborgen und vergessen.
Wäre das nicht gut?
Doch über Nacht träumte er, daß Vetter Karl Emil, der gerade nicht zu den Weichherzigen gehörte, den alten Johann aus der Häuslerei Spanhyttan fortgejagt, Inspektor Svensson ausgescholten und Ajax, Göstas Lieblingspferd, mit den Sporen traktiert habe, daß das Blut rann. Und er selbst habe am Fenster des Fremdenzimmers gestanden und in ohnmächtiger Wut zugesehen. Er erwachte mit einem ärgerlichen Ausrufe und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Gott sei Dank, noch war er Herr auf Halleborg.
Gösta begann jetzt Dinge in die Hand zu nehmen, um die er sich vorher gar nicht gekümmert hatte. Er besuchte seine Tagelöhner und Pächter, besah ihre Wohnungen und erkundigte sich mit lebhaftem Interesse nach ihren Verhältnissen.
– »Aber mein bester Svensson, Nisse auf Planen muß kräftig unterstützt werden. Das Häuschen bedarf einer gründlichen Ausbesserung und ihm ist seine Kuh gestorben. Wir müssen ihm Geld zu einer neuen vorstrecken oder – nein, hören Sie! Sie verkaufen ihm eine gute Kuh, aus dem Gutsstalle für den halben Wert in bar und das Versprechen, daß Nisse den Rest im Sommer mit einigen Tagewerken bezahlt.«
Der alte Svensson verbeugte sich.
»Wie Sie befehlen, Herr Baron! Ich hatte auch schon daran gedacht, aber ...«
»Aber?«
»Ein Diener hat nicht das Recht, nach eigenem Ermessen zu handeln. Ich fürchte, der Herr Baron halten den alten Svensson schon so wie so für zu selbständig.«
»Nun, weshalb kommen Sie denn nicht zu mir und fra...«
Gösta biß sich auf die Lippen und schwieg. Das hatte er dem Alten ja selbst abgewöhnt.
»Darf ich es nun manchmal?« rief Svensson, und ein Freudenstrahl erhellte sein altes, bärtiges Gesicht. – Der 21. Januar, der 21. Februar. Jetzt konnte man die Monate zählen. Am 21. August war alles zu Ende. Er hörte den Hufschlag der Pferde seines Vetters immer deutlicher. Er vermeinte den verbindlichen Kammerherrn, der keinen Neujahrstag oder Geburtstag vorübergehen ließ, ohne »dem Haupte des Hauses« schriftlich seine Ehrfurcht zu bezeugen, schon drunten in der Halle stehen zu sehen und seine Befehle austeilen zu hören: »Natürlich die größte Aufmerksamkeit gegen Baron Gösta, so lange er noch hier bleibt.« »Erkundige Dich, ob Baron Gösta den Kaffee auf seinen Zimmern zu trinken wünscht.« – »Sieh, da bist Du ja, lieber Vetter!« – »Ich hoffe, daß Du Dich hier wie zu Hause fühlst.« »Der Flügel steht zu Deiner Disposition.« »Und Fuhrwerk.« »Ja, das versteht sich von selbst.«
Er trat in den Rittersaal, wo die Familienbilder hingen und blieb vor dem Verfasser des § 17 stehen, einem barsch aussehenden Artillerieobersten, der den Eindruck machte, daß er nie sein Wort zurücknehmen werde, auch wenn er sich nun aus seiner Gruft erheben und es hätte thun können. Gösta ertappte sich selbst darauf, daß er ungeduldig auf den Fußboden stampfte und murmelte: »Verwünschter Eisenkopf! Verbohrter Aristokrat! Als ob ein ehrlicher Mann nichts weiter auf der Welt zu thun hätte, als den Erben Deines alten Halleborg eine Mutter von ›adliger Herkunft‹ zu schaffen!« Doch der alte Oberst Hallenhjelm sah so kalt und ruhig auf ihn herab, als wollte er sagen: »Ja, Gott bewahre mich! Geh Du in die Welt hinaus, mein Junge, und richte dort wirkliche Wunderdinge aus; denke aber daran, daß hier eine Burgfrau von adliger Herkunft hausen soll und Bastarde niemals den Fußboden dieses Saales betreten dürfen!«
Das alte Heim, das unter Julias Küssen so zusammengeschrumpft war, daß sie es mit allen seinen Reizen mit ihrem kleinen Finger hätte bedecken können, erschien ihm nun mit jedem Tage größer, schöner und lieber. Aber jeder Tag brachte es auch Vetter Karl Emil näher, und mit Entsetzen fühlte Gösta, daß nun zwei Sorgengefühle in seinem Herzen um die Herrschaft stritten: die Trauer um Julia und der Kummer über den Verlust seines Heims.
Der 21. März! Noch fünf schnell dahinschwindende Monate, und er würde heimatlos sein.
Für ihn, dem die Zeit in seinem Herzenskummer mit Schneckenschritt zu gehen schien?
Ja, es ließ sich nicht leugnen, § 17 hatte den Tagen Flügel verliehen.