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Die Trauer um eine Fortgegangene lebt von Erinnerungen. Ich will nicht bestreiten, daß man eine Braut ebenso sehr lieben kann wie eine Frau. Ach, viele lieben ihre Frau nie so, wie sie ihre Braut geliebt haben, auch wenn sie beides in einer Person ist! Doch wenn die Liebe in beiden Fällen so groß ist, wie ein Mensch sie zu empfinden vermag, da betrauert man die Frau anders und tiefer als die Braut. Nicht im Anfange. Der erste, furchtbare Schmerz läßt sich weder messen, noch vergleichen. Doch die Erinnerungen an alle äußeren Bande, an das innere, vertrauliche, gemeinschaftliche Leben, fachen nach einer durch den Tod gelösten Ehe jeden Augenblick die Qualen wieder an, auch wenn das Herz so geblutet hat, daß es scheinbar nicht imstande ist, noch mehr zu leiden. In der Brust des hinterbliebenen Gatten findet die Sorge so viele Stufen, auf denen sie bis zum Gipfel emporklimmen kann, wenn die Erinnerung den Verlust beweint, während der Schmerz des verzweifelten Bräutigams mehr einem wirren Chaos unerfüllten Sehnens und bitterer Trennungsqual gleicht.
Der Tag kam, da Gösta sich selbst darauf ertappte, daß er sich am Tage vorher nicht einmal eine Minute in sein Heiligtum, wo alles ihn an Julia erinnerte, eingeschlossen hatte. Und als er nun dafür drei volle Stunden dort saß, wurde es ihm zu seinem Erstaunen klar, daß es beinahe nur aus Pflichterfüllung geschah.
Ohne daß er selbst hatte merken können, wie es zuging, hatten die Jahre seinen wilden Schmerz in eine milde Wehmut verwandelt.
Der Frühling kam zeitig und brachte gelindes, beständiges Wetter mit. Schon zu Ende April konnte Amely erst im geschlossenen, dann im offenen Wagen ausfahren und bald auch kleine Spaziergänge im Garten und im Parke machen. Gösta begleitete sie meistens auf ihren Ausfahrten, und begegnete ihr oft ganz unvermutet im Garten oder am Seeufer.
Wenn er dann so unvorbereitet ihr schönes, jetzt lieblich gerundetes Gesicht, das vom beständigen Wachsen der Kräfte Zeugnis ablegte, vor sich sah, fühlte er einen Stich im Herzen, als wäre er einem Gläubiger, den er nicht befriedigen konnte, begegnet. Er litt wirklich unter ihrem Anblick und hätte gewünscht, daß Professor Lindroth, der wieder um Rat gefragt worden war, eine zweite Reise nach dem Süden für ihre Gesundheit notwendig gehalten hätte. Doch der gelehrte Mann hatte lächelnd erklärt:
»Nein, das Wunder ist vollkommen. Jetzt können Sie gern mit einander ins Ausland reisen, wenn Sie dazu Lust verspüren, ohne daß Sie sich dabei ängstlich an bestimmte Breitengrade zu halten brauchen. Nun, eine Reise nach dem Nordpol und dem nebligen London möchte ich nicht gerade empfehlen, aber im übrigen, Frau Baronin, gebe ich Ihnen überall hin Freipaß. Gott sei Dank! Gott sei Dank! Das Wunder ist, wie ich sagte, vollständig. Ja, unser Herrgott ist und bleibt doch stets der beste Arzt; hier aber hat er doch so unmittelbar eingegriffen, daß ich mich, so sehr es mich auch freut, beinahe schäme.« –
»Zusammen reisen!« Großer Gott! Das war ja sein und Julias Plan gewesen! Nein, nie, nie!
Sie hatten einander rückhaltlose Aufrichtigkeit gelobt. Müßte er ihr nun nicht eigentlich offen sagen, daß ihr Anblick ihn zu quälen anfange, daß sie besser thäte nach dem Süden zu reisen, sei es nun nötig oder nicht. Gut würde es ihr in jedem Falle thun. Oder wenn er auf einige Monate verreiste?
Ja, bei Tische wollte er die Sache so allmählich einleiten ...
Die Junisonne schien hell in Halleborgs großen Saal. Ein reich mit Blumen geschmückter Tafelaufsatz prangte auf dem Mittagstische. Durch die Facetten der geschliffenen Karaffe funkelte der Capwein. Amely hatte ein neues, einfaches, helles Kleid angezogen, das ihr vorzüglich stand. Er betrachtete sie forschend. Eine unglückliche Gefangene, die ein so ruhiges, zufriedenes Gesicht zeigen konnte wie die Herrin von Halleborg, mußte eine routinierte Schauspielerin sein. War sie denn noch ein Kind mit unreifen Gefühlen oder war ihre Seele keines Aufschwunges fähig, so daß sie nicht unter dem unnatürlichen Verhältnis litt?
Sie setzten sich, antworteten einander höflich und verbindlich, plauderten sogar – was jetzt, sobald man nur erst in Gang gekommen war, ziemlich leicht ging – und tranken einander zu.
Plötzlich geschah etwas Merkwürdiges. Ein frisches, zweistimmiges Lachen ertönte durch den Saal ... Sie verstummten beide und blickten verlegen auf ihre Teller nieder. War denn von etwas so Lächerlichem die Rede gewesen, daß sie ihrer Munterkeit keine Zügel hatten anlegen können? Sie wußten es wirklich nicht. »Was fällt ihr ein?« dachte Gösta und warf ihr einen forschenden Blick zu. »Er trägt es wie ein Mann,« dachte Amely und wurde sehr still.
Der Sommer ging dahin und neigte sich bald seinem Ende zu. Gösta hatte kein Wort von seinen Plänen verlauten lassen, und keiner von ihnen hatte sich weiter als bis nach Lindenäs und einigen der Nachbargüter begeben, wo Amely auf einigen Gesellschaften Göstas Weihnachtsgaben eingeweiht hatte. Einmal waren die Nachbarn auch auf Halleborg eingeladen gewesen. Es war ein schweres Opfer, doch es mußte sein. Amely war eine liebenswürdige Wirtin. Es fehlte ihr freilich an Erfahrung, und Frau Ragnhild mußte sie auf dieses und jenes aufmerksam machen, doch an den Hauptsachen fanden selbst die scharfzüngigsten alten Damen nur wenig auszusetzen. Manchmal erging es ihnen wie an jenem Mittage, da Gösta ihr offen und ehrlich mitteilen wollte, daß sie sich auf einige Zeit trennen müßten: sie gerieten ins Gespräch, vergaßen Zeit und Stunde, und hielten mitten in einem lebhaften Meinungsaustausche oder in einem merkwürdigen Anfalle von Munterkeit, die ihnen beiden höchst unmotiviert vorkam. Manchmal drohte dieses seltsame Zusammenleben Gösta unerträglich zu werden, und er hatte das Wort auf der Zunge: »Es geht nicht, Amely. Wir müssen diesem Spiele ein Ende machen, sonst gehen wir daran zu Grunde.«
»Wir?« Empfand sie es denn ebenso schwer wie er? Ja, das wußte er nicht, doch er glaubte es. Einige Male war sie mit rotgeweinten Augen beim Frühstück erschienen, und mehrmals hatte er gesehen, wie sie im Garten einen Umweg machte, nur um ihm nicht begegnen zu brauchen. Dann wieder konnte sie lustig und vergnügt sein, und das schöne Antlitz strahlte oft in wunderbarem Glanz.
Nein, ein wenig Ruhe mußte er haben! Er behauptete, daß die Tapeten und der Anstrich in Amelys Zimmer schlecht seien und vor dem Herbste noch renoviert werden müßten, und während der Zeit könne sie sehr gut nach Lindenäs reisen.
»Ich finde, daß die Zimmer sehr gut in Ordnung sind, und wenn Du sie durchaus feiner haben willst, so kann ich ja so lange in eines der andern Zimmer ziehen; es giebt hier auf Halleborg ja Platz genug.«
»Aber keine bequemen Zimmer auf der Ostseite, wie Du es gewohnt bist und so gern hast. Die Fremdenzimmer in Lindenäs liegen auch auf der Ostseite«, fiel er eifrig ein.
Amely wurde dunkelrot. Er wollte sie also um jeden Preis auf ein paar Tage los sein! Konnte er denn nicht selbst fortreisen! War dieses Halleborg, das sie beide so teuer erkauft hatten, ihm denn so lieb, daß sein einziger Lebensgenuß darin bestand, dort einsam zu weilen!
Sie drang jetzt selbst auf die unnötige Reparatur und reiste schon einige Tage vor Ankunft der Handwerker nach Lindenäs. Sie wollte ihm eine so lange Frist wie möglich gewähren ...
Er atmete erleichtert auf, als er allein von Lindenäs zurückkehrte. Jetzt konnte er überall frei umhergehen, ohne diesem fremden jungen Mädchen, das sein Leben von ihm zu fordern hatte, begegnen zu müssen.
Er saß allein, hatte jedoch keinen Appetit. Er ging früh zu Bett, schlief aber schlecht. Er konnte überall hingehen, ohne seiner Frau zu begegnen, und ging meistens in – ihre Zimmer, wo alles ihn an sie erinnerte. Die Räume waren freilich noch nicht von ihr nach ihrem eigenen Geschmack eingerichtet worden, sie enthielten beinahe nichts von ihr selbst Gearbeitetes, und von dem kleinen Schreibtische war alles beschriebene Papier sorgfältig fortgenommen, alle Auszüge verschlossen und der Schlüssel ausgezogen worden. Gerade, wie wenn man ein Hotelzimmer verläßt. Arme Kleine! Sie hatte sich hier gewiß nie recht zu Hause gefühlt, würde es wohl nie thun. Sie war wirklich zu bedauern! Ob sie wohl manchmal schrieb? Auf dem Schreibzeuge lagen gebrauchte Federn und das Tintenfaß war halbvoll.
Es war doch gut, daß er nun auf ein paar Wochen des Alleinseins rechnen konnte!
Doch Mamsell Ulla war außer sich über den geringen Appetit des Barons, und er selbst fuhr zweimal in drei Tagen nach dem Pfarrhofe, und das letzte Mal lud er den alten Präpositus dringend ein, »ihm am nächsten Tage in seiner Einsamkeit Gesellschaft zu leisten.« In der Einsamkeit, auf die er sich so gefreut hatte!!!
Er wollte nun wirklich die Mäher inspizieren. Doch in Gedanken ging er nach einer Richtung, wo garnicht gemäht wurde und nur eben gepflügte Äcker lagen. Als er sich dessen bewußt wurde, halte er schon den halben Weg nach Lindenäs zurückgelegt. Da kehrte er sofort um.
Doch es war ja wahr! Er mußte auf jeden Fall dorthin! Amely mußte ja selbst die Farbentöne und die Tapeten für ihre eigenen Zimmer aussuchen; das erforderte schon die allergewöhnlichste Höflichkeit. Wie dumm, daß er nicht daran gedacht hatte, als sie noch zu Hause war, dann hätte er nicht nötig gehabt, sie jetzt aufzusuchen. Nun ließ es sich jedoch nicht ändern. Er brauchte ja nicht lange dort zu bleiben. Und damit eilte er nach Hause, raffte die Tapetenproben zusammen und fuhr nach Lindenäs. Dort hörte er schon von weitem lautes Gelächter und muntere Stimmen. Im Garten war eine lustige Gesellschaft versammelt, in deren Mitte er schon aus der Ferne Amelys runden Strohhut erkannte. Doch was war das? Sie stützte sich vertraulich auf den Arm eines Herrn!
»Mein Mann – Vetter Bernhard, der Marineleutnant, von dem wir so oft gesprochen haben.«
»Freue mich sehr, endlich die Bekanntschaft meines neuen Vetters zu machen! Und nun muß ich Deinen Arm wohl einem Würdigeren überlassen?«
»Gösta will wohl mit Papa sprechen,« sagte Amely, ohne den Arm des Leutnants loszulassen. Es war ein recht stattlicher Vetter. Über sechs Fuß lang, mit hübschen Zügen und frischer Farbe, strammer Haltung, offenem, männlichem Wesen und einem blonden, welligen Vollbarte. Er war früher sehr oft in Lindenäs gewesen und schien mit Amely recht intim zu sein. Die beiden plauderten, lachten und steckten die Köpfe zusammen. Er war gewiß ein wenig frech, der Herr Vetter! Ein Vetter ist doch kein Bruder ...
»Amely, hast Du vielleicht einen Augenblick Zeit, die Tapeten für Deine Zimmer auszusuchen?«
»Oh, wähle selbst, Gösta! Mir ist jede Farbe recht. Ich fand die alten recht hübsch; ich ...«
»Ich bin indessen einzig und allein aus diesem Grunde gekommen, und deshalb bist Du wohl so gut und ...«
Amely fuhr zusammen! In einem solchen Tone hatte er noch nie mit ihr gesprochen. Seine Stimme klang strenge und befehlerisch. Sie folgte ihm sofort in den Saal, wo sie die Proben besahen und ihre Wahl trafen, das heißt, er machte ihr einige Vorschläge, und sie war mit allem einverstanden.
Als sie damit fertig waren, peitschte ein wolkenbruchartiger Regen die Fensterscheiben und bleigraue Gewitterwolken verdunkelten den Himmel. Stunde auf Stunde verrann, doch das Gewitter verteilte sich nicht. Gösta, der im offenen Wagen gekommen war, konnte nicht ans Nachhausefahren denken und mußte schließlich der dringenden Bitte, die Nacht über in Lindenäs zu bleiben, nachgeben, wenn er nicht launenhaft erscheinen wollte.
Dies war die erste Nacht, die er unter dem Dache seiner Schwiegereltern zubrachte.
Er lag Wand an Wand mit seiner Frau.
Seltsame Gedanken durchkreuzten sein Hirn, dessen Brennen ihm unerklärlich war.
Wenn er scharf aufhorchte, konnte er durch die dünnen Bretter der Thür jede Bewegung seiner Gattin hören.
Dieser Vetter Bernhard? Bah, Dummheiten!
Wie konnte es ihn nur so aufregen, daß er zum erstenmal einen Mann vertraulich mit seiner Frau hatte umgehen sehen.
Er erschien sich selbst lächerlich. Einem nahen Verwandten und Jugendfreunde gegenüber darf man doch nicht so dumme Gedanken in betreff seiner eigenen Frau hegen.
»Frau!« »Seine eigene Frau!« Das war nun schon das dritte oder vierte Mal, daß er diesen Gedanken mit einem gewissen hungrigen Eifer verfolgte, obgleich er ihm doch eigentlich verhaßt sein mußte. Sie war ja nicht seine Frau, das hatte er sich nun schon so oft gesagt. Die Ehre seines Namens war bei ihr gut verwahrt, davon war er fest überzeugt.
Doch wenn ...?
Wer ein solches Leben, wie Gösta es in den letzten Jahren geführt hatte, hinter sich hat, verliert in der Regel die Furcht vor dem bewußten, folgerichtigen Ausdenken der ihn verfolgenden unangenehmen Gedanken. Wenn nun diese beiden für einander in Liebe erglühen sollten (er hatte ja aber keinen vernünftigen Grund für diese Annahme ... daß sie mit ihrem Vetter Arm in Arm ging und ungeniert mit ihm verkehrte? ... Dummheiten!), so könnte er sie ja höchst einfach freigeben und die beiden einander heiraten lassen; zu Lebzeiten des Verfassers des verhängnisvollen § 17 war das Gefühlsleben noch nicht so kompliziert, daß er einen solchen Fall hätte vorhersehen und Bestimmungen dafür treffen können. Halleborg blieb ihm also in jedem Falle. Dann wäre ja alles gut! Wenn Amely glücklich würde, könnte er sich selbst ja ruhig und ohne Gewissensbisse seines Besitzes erfreuen! Mit welcher Freude würde er nicht auch fernerhin die Lindenäser unterstützen!
Ja, er freute sich auch schon sehr darauf, so sehr, daß ... seine Stirn sich mit Schweiß bedeckte, das Herz ihm in der Brust weh that und er sich mühsam atmend dicht an die Wand drängte, um auch das kleinste Geräusch in dem Zimmer seiner Frau hören zu können ... seiner Frau ... seiner Frau. Dazu hatte er das dunkle Gefühl, daß ihn nichts auf Erden so erfreuen würde wie der Tod dieses Vetters, dem er so gern, so sehr gern seine Frau abtreten wollte ... seine Frau ... Er warf sich die ganze Nacht im Bette umher und verspürte eine Seelenangst, deren Ursache er sich so wenig erklären konnte, daß er sich für krank hielt. Er fühlte, daß er auf etwas wartete, wußte jedoch nicht auf was. Dann begann es sich in ihrem Zimmer zu rühren. Er hörte leichte Schritte durch das Zimmer gehen, das Wasser in dem Waschbecken plätschern und das Fenster öffnen. Die Uhr war kaum acht. Sie beeilte sich wohl so, um den Vetter möglichst bald zu treffen ...
Das Gewitter hatte ausgetobt und dem herrlichsten Sonnenschein Platz gemacht. Gösta hatte keinen Grund mehr, nach dem Frühstücke noch zu bleiben. Nein er wollte es auch gar nicht und ließ seinem Kutscher sagen, daß er präzise elf Uhr vor der Freitreppe halten sollte.
Beim Frühstücke bediente er Amely mit ausgesuchter Aufmerksamkeit.
»Danke! Sie hat schon bekommen!« sagte er mit ironischer Höflichkeit, als Vetter Bernhard ihr einen Augenblick zu spät die Brachsenschüssel präsentierte.
»Warte nur noch ein wenig, mein Junge,« dachte er dabei voller Wut. »Du kannst Dich darin später – auf der Hochzeitsreise üben.«
Der Wagen mit den beiden eleganten Pferden fuhr vor. Es waren feurige Tiere von der aus dem Oriente stammenden Flyingerrasse, die man früher stets als Wagenpferde benutzte, bis das englische Halbblut, die Hannoveraner und zuletzt die Trakehner sie allmählich verdrängt haben. Amely, die mit den übrigen auf der Treppe stand, konnte einen Ausruf der Bewunderung nicht unterdrücken.
»Oh, wie sind Deine Grauen schön!«
»Unsere, willst Du sagen,« unterbrach er sie so scharf, daß sie ihn ganz erstaunt ansah.
Er ging von einem zum andern und verabschiedete sich. Plötzlich blickte er sie an und sagte heftig:
»Du füttertest das Füllen gestern Abend eine volle halbe Stunde. Sind Omar und Zuleima nicht auch eines Zuckerstückes und einer Liebkosung wert?«
Was war ihm eigentlich? Einen solchen Ton hatte er früher ihr gegenüber nie angeschlagen!
Errötend ging sie ins Eßzimmer, nahm eine Hand voll Zucker aus der Dose, und begann mit der Miene eines gescholtenen Schulmädchens die Pferde zu füttern.
»Adieu, Amely!«
»Adieu!«
Er fühlte, daß Vetter Bernhards Blicke auf ihn gerichtet waren. »Warte, Du baumlanger Bengel, Dich will ich ärgern!« dachte er und – legte den Arm um Amely und drückte einen langen Kuß auf ihre Lippen.
Sie zitterte und wurde blutrot.
Arme Kleine! Würde sie sich nun auch vor der Rückkehr nach Halleborg ängstigen und sich in feiner Gegenwart unsicher fühlen? Sie that ihm leid, aber er hatte sich nicht bezwingen können.
Zu Hause trieb er die Maler an. Die Zimmer konnten ihm gar nicht schnell genug fertig werden; acht Tage darauf hielten Omar und Zuleima wieder vor der Lindenäser Freitreppe.
»Sie fahren doch wohl nicht heute schon wieder nach Hause?« fragte Vetter Bernhard. »Wir dachten heute Abend eine Kahnfahrt zu machen.«
Gösta that, als hörte er es nicht.
»Bist Du fertig, Amely?« fragte er mit fester Stimme.
»Sofort,« antwortete sie, ihn fest anblickend.
Nach einer halben Stunde fuhren sie ab.
Vetter Bernhard wurde sehr artig aufgefordert, nach Halleborg zu kommen, hatte aber keine Zeit dazu. Zwei Tage darauf fuhr er wieder nach Karlskrona zurück, wo ein junges Mädchen wohnte, das er über alles in der Welt liebte und das, wie er Amely und Tante Ragnhild mit glückstrahlenden Augen anvertraut hatte, auf ihn warten wollte, bis sein Gehalt ihm erlaubte, einen Hausstand zu gründen.
Doch auf Halleborg saß Gösta und legte sich die Worte zurecht, mit denen er ihm dereinst seine Frau abtreten wollte, und dachte dabei, welch angenehmes Gefühl es doch sein müsse, ihn in der Ferne, am liebsten in fremden Landen tot und begraben zu wissen.
Endlich begriff er, wie es um ihn stand. Oh Scham, oh Schande! Er war es also, der sein Gelübde nicht gehalten hatte!
Er liebte seine Frau!
Er ging in seinen Juliatempel, fiel auf die Knie und rief seine alte Liebe zu Hilfe, flehte sie an, bat und beschwor sie, ihm zu helfen. Seltsam! Er empfand es nicht wie eine Kränkung für Julia; er liebte sie ja noch so heiß, so heiß! Doch hierin konnte die Tote ihm nicht helfen. Er war jung, er war gesund und stark, und sein treues Gemüt hatte doch endlich die Verzweiflung überwunden. Neben, außerhalb, ja, Gott helf ihm, selbst über der Liebe, die nur lieben und gedenken konnte, war diese neue, erschreckende Liebe entkeimt, die auch besitzen wollte.
Als ihm dieses erst klar geworden war, entwickelten sich seine Gefühle sehr schnell. Sie bezauberte und fesselte ihn körperlich und geistig mit ihrem reinen, jungfräulichen Wesen und der Macht ihrer Schönheit. Er wußte nicht mehr, wo die eine Anziehungskraft begann und die andere aufhörte. Ach, die Liebe ist ein geflügeltes Wesen und während die Sonne den einen Flügel bescheint, schleift der andere nicht selten im Erdenstaube. Das äußere eheliche Band, das er so gering geschätzt hatte, rächte sich nun dadurch, daß es die Begierde seines Herzens zur Reife brachte.
Sollte er von Anfang beginnen? Sollte er sie zu gewinnen versuchen? Er unterschätzte seine persönlichen Vorzüge nicht und würde mit frischem Mute ans Werk gegangen sein, wenn sie frei gewesen wäre. Doch das eheliche Band zwischen ihnen mußte ja jede Neigung ersticken; der Zwang ist der Tod der Liebe. Er schauderte bei dem Gedanken, daß sie bange werden, daß sie ihn mißverstehen könnte. Und wenn sie auch fassen könnte, was in seinem Herzen vorging, was dann? Der Gedanke an das Ungeheuerliche, das darin liegt, zu einem Verehrer, der schon ihr Gatte war, ja und nein sagen zu müssen, würde jedes zärtliche Gefühl unbarmherzig töten. Sechs unverschlossene Thüren und nächtliche Stille! Und sie war so lieblich und schön! Er wand sich in Fieberangst aus seinem Lager und merkte mit Entsetzen, daß das Tier in ihm zu erwachen begann. Als sie vom Tische aufstanden, wo er die innere Glut mit dem Safte der Trauben zu löschen versucht hatte, wollte er sie an seine Brust ziehen und ihr zuflüstern:
»Es geht nicht, Geliebte! Ich habe uns beide belogen und betrogen. Sei mein, werde mein!« Doch der Gedanke an das Erschrecken, das ihre Augen dann wiederspiegeln würden, kühlte ihn ab. Vielleicht wäre es dann für immer zu Ende, und er würde sie nie wiedersehen.
Sechs unverschlossene Thüren und stille Nacht. Und das kirchliche Recht und die Welt, die alles in Ordnung finden würde ... »Wer ist da?« – »Dein Mann.« – »Großer Gott! Ich habe keinen Mann. Ich habe mich nie einem hingegeben. Bist Du wahnsinnig?« – »So gehe denn.« – »Morgen reise ich ab und komme nie wieder.« Vielleicht würde sie gar nichts sagen. Nur Entsetzen, Verachtung und Haß empfinden, die die Scheidewand zwischen ihren Herzen unübersteiglich machen würden.
Seine Furcht, sich zu verraten, seine ängstliche Vorsicht, den in ihm brennenden Vulkan zu verbergen, ließen ihn im Verkehr mit ihr reizbar, schroff und launisch erscheinen. Sie merkte die Veränderung und ihr Herz krampfte sich zusammen. Er würde ihren Anblick auf die Dauer nicht ertragen; Widerwillen und Abscheu hatten ja sichtlich schon die freundliche Teilnahme und das Mitgefühl verdrängt. So wurde auch sie verlegen, unruhig, nervös und mißtrauisch. »Sie hat gemerkt, wie es mit mir steht; die Furcht verwandelt sich in Haß, die Gleichgültigkeit in Ekel. Bald ist alles zu Ende,« dachte Gösta.
Eines Mittags war er eben im Begriffe, vor seiner Frau niederzufallen und um ihre Liebe zu flehen. Doch er bezwang sich.
Und am Abend stand er mit flammenden Augen und klopfendem Herzen vor ihrer Thür, um zu ihren Füßen um Erbarmen zu flehen. Doch er kehrte wieder um.
So fand ihn der Morgen denn schließlich an seinem Schreibtische sitzend und au seine Frau schreibend. Jetzt wurde es ihm nicht so schwer wie damals, als er den ersten Brief an sie schrieb. In fliegender Fahrt eilte die Feder über das Papier hin:
»Unaussprechlich Geliebte!
Diese ungewohnten Worte, die noch nie den Blick und das Ohr meines Lieblings getroffen haben, erschrecken Dich; Du bist nicht sicher, meine Handschrift genau zu kennen und wendest das Blatt um, damit die Unterschrift Dir sage, wer Dich so anzureden wagt, Dich, Du Reine, Gute, deren Seele der Erdenstaub noch nicht befleckt hat.
Wer?
Er, der es von allen am letzten wagen dürfte. Dein Gatte. Erschrick nicht, Amely, ich weiß ja, daß ich nicht Dein Gatte bin; es thut nur meinem blutenden, gequälten Herzen so wohl, mich mit diesem Namen zu bethören.
Ja, ich liebe Dich heiß und unaussprechlich, und deshalb bin ich fort von hier, wenn Du diese Zeilen liest, deshalb will und kann ich Dich nicht mit meinem Anblicke quälen.
Sieh, ich verlasse mein Halleborg, das mich vermocht hat, für seinen Besitz wider Pflicht, Ehre und Gewissen zu handeln. Ich verlasse es ohne Sorge und Bedauern, weil ich außer Dir nichts bedauern oder vermissen kann.
Ich wollte schreiben: ›Du wirst mich nie Wiedersehen!‹ Doch dazu fehlt es mir an Kraft; Du sollst mir das Urteil sprechen. Ich werde in Stockholm Deinen Entschluß abwarten. Forderst Du von mir, daß ich Dir auch in Zukunft meinen Anblick erspare, so verspreche ich Dir es zu thun. Begehrst Du Deine Freiheit, so sollst Du sie erhalten. Unter einem Dache können wir nicht mehr wohnen, das würde mich wahnsinnig machen. Doch wolltest Du, wolltest Du, Geliebte meiner Seele, mir die Hoffnung, Dich noch einmal wiederzusehen, lassen, so werde ich Dich bis zu meinem letzten Atemzuge segnen. Was ich damit will, weiß ich selbst nicht. Bin ich denn wirklich so thöricht, etwas zu hoffen ...? Ich will versuchen, es nicht zu thun. Wie lange ich Dich geliebt, weiß ich nicht. Wohl seit der Zeit, da ich in meiner Blindheit glaubte, ich sei auf dem Wege, Dich zu hassen, und Dir soviel wie möglich auszuweichen versuchte. Ja, da begann es wohl. Doch was machst Du Dir daraus? Ja, Du hattest vielleicht das Recht, die Wahrheit früher zu fordern.
Wenn ich mich auch grausam gegen Dich vergangen habe, so ist dafür meine Strafe auch größer, als ich es in meinen Gewissensbissen je hätte ahnen können. Doch ich würde gern alles ertragen, wenn Dich nur ...«
Da ertönten Hufschläge auf der Brücke, und er hörte ein dumpfes Stimmengewirr in der Halle. Er öffnete das nach dem Hofe gehende Fenster. Es war der Lindenäser Stallknecht, und Gösta hörte aus dem wirren Durcheinander nur die Worte heraus: »Der Kammerjunker ist über Nacht gestorben!«