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Achtes Kapitel.
Ein milderes Klima

Die Luft wurde kühler, die Abende feuchter. Amelys Husten klang dumpf und scharf. Man konnte hören, wie die arme Brust Atom für Atom verzehrt wurde. Vom Oktober an durfte sie nicht mehr ausgehen, am zehnten September hatte man angefangen, in ihren Zimmern zu heizen. Sie lag gewöhnlich den ganzen Tag zu Bett und war seit lange nicht bei Tische erschienen.

Der Kreisphysikus kam.

Er war artiger, höflicher und hatte einen besseren Rock an und einen reineren Kragen um, da er sich bei dem Majoratsherrn von Halleborg einfand, als er es bei dem blutarmen Lindenäser Herrn, bei dem das Honorar unsicher war, für nötig gehalten hatte, doch sein Ausspruch war an beiden Stellen derselbe: unheilbare Schwindsucht. Weder weiche Teppiche, noch prächtige Zimmer, schwellende Kissen und der beste Medizinalwein konnten etwas daran ändern.

Schon im letzten Stadium?

Nein. Während die Krankheit selbst Fortschritte gemacht, waren die Körperkräfte im allgemeinen merkwürdigerweise infolge besserer Pflege und größerer Ruhe stärker geworden. Es war noch große Widerstandskraft da. Eine lange, schwere Leidenszeit stand der Kranken wahrscheinlich bevor. Fortgesetzte sorgfältige Pflege, äußerste Vorsicht, Ruhe und Stille, kleine Quantitäten stark versüßten Alkohols und stärkende Weine, weiter ließ sich nichts thun. Medizin war überflüssig. Das Ende konnte in einigen Wochen da sein, es konnte aber auch noch ein Jahr dauern. Länger jedoch schwerlich.

Ein paar Wochen später besuchte Präpositus Hjelm Halleborg und brachte seinen alten Jugendfreund und Schulkameraden, den berühmten Professor Dr. med. Lindroth mit. Dieser logierte im Pfarrhause und wollte gern einen Blick in das Hallenhjelmsche Familienarchiv werfen, da er sich in den Stunden, die er von seiner Wissenschaft und Praxis erübrigen konnte, eifrig mit Genealogie beschäftigte. Der Professor erhielt denn auch das gewünschte Versprechen, daß er in der Bibliothek sitzen, studieren und Aufzeichnungen machen dürfe, ohne daß jemand sich verpflichtet fühlte, ihm gegenüber den Wirt machen zu müssen. Er kam zwei Tage, er kam auch den dritten. Am vierten Tage kam er, um sich zu verabschieden, und der Präpositus begleitete ihn. Sie blieben zum Mittagsessen da, und nach beendeter Mahlzeit sagte der alte Hjelm:

»Es hat ja leider keine Bedeutung mehr, aber es thut mir weh, daß hier ein leidendes Wesen und Schwedens berühmtester Arzt sich unter einem Dache befinden, ohne einander gesehen zu haben!«

Baron Gösta verbeugte sich.

»Das Anstandsgefühl verbot mir, eine solche Bitte zu stellen. Der Forscher, nicht der berühmte Arzt, beehrte Halleborg mit seinem Besuche.«

»Herr Baron, der wirkliche Arzt vergißt seine eigentliche Lebensaufgabe nie, und ich würde mir selbst Zutritt bei der Frau Baronin ausgebeten haben, wenn ihre Krankheit nicht derartig wäre, daß der Letzte unseres Berufes sie ebenso gut beurteilen kann, wie der Erste. Hjelm teilte mir Doktor Johanssons Ausspruch mit. Und es unterliegt leider wohl keinem Zweifel, daß er recht hat.«

Der alte Präpositus erhob sich.

»Ich glaube auch nicht, daß Du etwas dabei vermagst. Doch – Du bist mein bester Freund, und sie ist mein liebstes Beichtkind. Komm! Du gestattest wohl, Gösta?«

»Ich bin natürlich äußerst dankbar dafür!«

Sie gingen alle drei zu der Kranken, die mit den müden, fieberglänzenden Augen an den Lippen des berühmten Arztes hing und mit der zitternden Flamme aufrührerischer Lebenslust vor dem erwarteten Urteil bebte. Doch er sagte nur:

»Sie sind leider sehr krank, Frau Baronin, doch Ihre Kräfte sind besser, als man es bei einem so zarten, weichen Körper hätte vermuten können.«

In Göstas Zimmer angekommen, drückte er dem Baron teilnehmend die Hand und sagte:

»Es verhält sich wirklich so, wie ich dachte. Sie ist dem Tode verfallen.«

»Läßt sich denn gar nichts, gar nichts dabei thun?«

»Was sollte das nützen? Könnte sie in diesem Augenblicke durch einen Zauberschlag nach dem Süden versetzt werden, an die Küste des Mittelmeers, nach Capri oder Nizza, so würde eine plötzliche, scheinbare Veränderung eintreten, einige schmerzensfreie Monate die Kräfte heben, das Endresultat jedoch dasselbe sein. Die Summe des Leidens, das sie erdulden müßte, ehe die Stunde der Erlösung schlägt, würde sich vielleicht verdreifachen. Und was hätte man damit gewonnen? Vielleicht würde ihr Leben dadurch sechs Monate verlängert, das wäre alles!«

Der Präpositus betrachtete Gösta mit forschender Miene. Dieser erhob sich hastig.

»Es muß doch versucht werden. Ein Menschenleben muß anders beurteilt werden, als das eines todkranken Tieres. Kann sie möglicherweise jetzt reisen?«

»Unmöglich! Schon die lange Fahrt in der feuchten Herbstluft bis zur nächsten Hafenstadt würde ihr den Tod geben. Doch, wie gesagt, die Kräfte sind noch gut. Ich glaube nicht, daß es diesen Winter schon zu Ende geht. Bei äußerster Vorsicht würde sie, falls hier im Norden kein allzuheftiger Temperaturwechsel vorkommt, vielleicht im Frühlinge reisen können.«

»Und die Reise aushalten?«

»Das läßt sich nicht mit Bestimmtheit voraussagen. Doch ich halte es für durchaus nicht unwahrscheinlich. Es kommt natürlich darauf an, in welchem Zustande sich die Kräfte befinden.«

»Doch an Genesung ist wohl nicht zu denken?« fragte der Präpositus.

»Du weißt selbst, Hjelm, daß nur einer über Leben und Tod bestimmt. Doch ich kann Dir sagen, daß er sich heutzutage nicht mehr mit Wunderwerken befaßt.«

Und damit nahm der Professor Abschied.

Dieser Gedanke an Amelys Aufenthalt in einem milderen Klima erschreckte und betrübte anfänglich alle, erschien ihnen aber schließlich doch als beste Lösung. Gösta hielt es für grausam, eine schwache Kranke zu beunruhigen und anzustrengen. Der Kammerjunker und die Kleinen weinten. Frau Ragnhild widersetzte sich der Reise aus allen Kräften. Was würde es ihr, was würde es Amely selbst nützen, daß sie ein wenig länger lebte, wenn sie von den ihrigen getrennt, einsam und allein in fremden Landen weilen müßte? Wären nicht sechs, zwei, ja ein Monat in der Nähe des geliebten Kindes besser, als Jahre der Trennung, die ihr nur das Bewußtsein gäben, daß ihre Tochter noch auf Erden weile! Wäre Amely ihr im Himmel nicht ebenso nahe wie auf Capri!

Vielleicht hätte sie heutzutage, in dem Zeitalter der besseren Verbindungen, wo eine Reise um die Erde kürzere Zeit in Anspruch nimmt, als dazumal die Fahrt von Malmö bis Haparanda, anders gedacht.

Doch dann stieg ein verlockendes Bild vor Göstas inneren Augen auf. Wenn sie reiste, war er ja frei, ganz frei von der täglichen Erinnerung an seine That, nicht von der Fessel, die ihn nicht drückte, wohl aber von der Erinnerung an den Preis, für den er das Gut seiner Väter gekauft hatte. Und ihr würde auch leichter sein, wenn sie getrennt von ihm lebte. Ihr würde dadurch eine kurze, schmerzensfreie Frist gegeben, hatte der berühmte Arzt gesagt. Vielleicht würde sie sich dann noch ein wenig an all dem Neuen, all dem Märchenhaften, das sie sich nicht einmal im Traum vorgestellt hatte, erfreuen können! Ein wenig Abendsonne für dieses junge, sich so hastig seinem Ende zuneigende Leben! Oh, wie gern er ihr das gönnte! Doch dann mußte die Mutter mit. Sie von einander zu scheiden, wäre ein Verbrechen. Und Frau Ragnhild war gesund, sprachenkundig und des Reisens gewohnt, so daß außer ihr weiter keine Begleitung nötig war.

»Doch mein Mann, die Kinder, die Lindenäser Wirtschaft?« wandte Frau Ragnhild erschreckt ein, als Gösta ihr zum erstenmale diesen Vorschlag machte. Ja, es war schwer, aber sie würde ja wieder kommen, und dann würde die Freude um so größer sein. Jetzt war ihr Platz bei dem Kinde, das ihrer am meisten bedurfte. Und er wollte ihr gern Mamsell Ulla auf unbestimmte Zeit für den Lindenäser Haushalt und die Webekammer abtreten.

So gab denn Frau Ragnhild endlich nach.

Und von diesem Tage an begannen Amelys Gedanken die Gestalt zu wechseln. Freilich wurde es ihr schwer ums Herz bei dem Gedanken, daß sie von den Geschwistern scheiden müsse, daß sie vielleicht nie wieder vertraulich mit Hanna plaudern, nie wieder Erik und Ragnar und die andern lieben Kleinen ans Herz schließen würde. Doch es war ihr auch wieder so ruhig zu Mute, nun da sie wußte, daß sie eine gute Erziehung und den besten Unterricht erhalten würden und einer gesicherten Zukunft entgegen gingen. Und dort draußen würde sie vielleicht den Kauf, der ihnen alle diese Vorteile gebracht, vergessen können. Und er! Ja, vielleicht würde er, wenn sie nicht mehr in seiner Nähe weilte, wenn er sie nicht mehr zu sehen brauchte, es nicht so genau nehmen, wenn sie noch ein bißchen länger lebte. Er wußte ja selbst, welche Gefahr er dabei lief, daß ihr Zustand sich vielleicht für kurze Zeit verbessern konnte, und doch bestand er auf diese Reise. War dies nicht ein Beweis dafür, daß er ihr gern noch eine längere Frist gönnte, wenn er nur nicht ihr Leben zu teilen brauchte? Ja, gewiß!

So wurde schließlich Amelys Reise nach dem Süden allen ein lieber Gedanke, ein unerschöpflicher Gesprächsstoff, ein gemeinsames Interesse, das sie näher mit einander verband. Es war, als wäre Amely durch diesen Beschluß, für Gösta eine andere geworden, nicht mehr die Mitspielende in der Ehestandsparodie, sondern ein leidender, geduldiger, liebenswürdiger Gast des alten, allzeit gastfreien Hauses, ein Gast, dessen Abreise schon bestimmt war und der es so gut wie möglich haben mußte, dem man mit Aufbietung ritterlicher Freundlichkeit die bestmöglichste Meinung von dem Orte, an dem er unter so eigentümlichen Umständen weilte, beibringen mußte.

Gösta lud Frau Ragnhild und die Kleinen unaufhörlich ein. Die erstere war bisweilen durch ihre Wirtschaft und die Vorbereitungen zu der langen Reise verhindert, dann nahm Gösta alle Kinder mit, die dadurch ihre Schularbeiten nicht versäumten, ja, zur Weihnachtszeit waren alle Lindenäser beinahe vierzehn Tage in Halleborg.

Weihnachten! Ja, das war ein seltsamer Heiligabend, und Gösta hatte sich lange vor dem Gedanken daran gefürchtet, davor gebebt, daß Mutter und Tochter an diesem Tage, dem letzten Heiligabende vielleicht, den Amely auf Erden verlebte, zum erstenmale von einander getrennt sein sollten. Aber sie konnte ja nun im Winter nicht ausfahren, und der Mutter war es unmöglich, am Heiligabend selbst ihr Heim, den Gatten, die Kinder und ihre Leute zu verlassen.

Sie kam jedoch gleich nach Tisch und blieb eine Stunde bei Amely. Sie brachte eine wollene Weste zur Reise von Hanna, ein von Erik geschnitztes Papiermesser und ähnliche liebe, materiell wertlose Geschenke von den übrigen mit.

Als das Schellengeläute ihres Schlittens in der Allee verklungen war, ging Gösta aufgeregt und unschlüssig – er war beinahe den ganzen Tag drinnen bei Julia gewesen – mit seinen Weihnachtsgaben in das hell erleuchtete Schlafzimmer. Die Geschenke des reichen Halleborger Majoratsherrn waren unansehnlich und klein. Was hätte er auch der Todesbraut wohl von den Gaben des Lebens schenken können, ohne sie schmerzlich daran zu erinnern, daß ihr nur noch eine kurze Wanderung bevorstand! Doch vor einigen Tagen hatte er sie sehr durch eine bedeutende Geldsumme erfreut, die sie unter die Lindenäser Leute und die Gutsarmen, die ihr alle so nahe standen, und die Halleborger, deren unsichtbare Herrin sie war, ohne einen von ihnen zu kennen, hatte verteilen dürfen, und sie war froh und stolz darüber gewesen, ihren neuen Untergebenen etwas übermitteln zu können, weil darin ja eine Anerkennung ihrer Stellung lag.

Gösta schenkte ihr nur die Gedichte von Tegnér, Wallin und Franzén, diesem poetischen, bischöflichen Kleeblatte, die dazumal, in den 30er und 40er Jahren, das Beste und Höchste ihrer Zeit waren und es wohl noch heute sein könnten. Ferner einige Toilettengegenstände und Reiseeffekten für die bevorstehende Reise. Man kannte damals noch nicht den zehnten Teil des raffinierten Luxus und Komforts, der uns nun auf diesem Gebiete überall entgegentritt, doch es war das beste, was es gab, und bei mehr als einem der kleinen hübschen Dinge geriet Amely in Verlegenheit, da sie nicht wußte, wie sie es aufmachen und zu welchem Zwecke es dienen sollte. Und als dann alles auf der Decke des großen Bettes und dem neben dem Bette stehenden Lehnstuhle aufgebaut war, reichte Gösta ihr drei schöne Rosen, die er zu diesem Zwecke in der Orangerie hatte treiben lassen.

Amely war müde von dem langen Aufrechtsitzen im Bette und wußte nicht recht, mit was für Worten sie ihrer Dankbarkeit Ausdruck verleihen sollte. Sie sank leichenblaß und krampfhaft hustend in die Kissen zurück und lag eine Weile mit geschlossenen Augen da. Auch sie hatte ein Geschenk, doch es wurde ihr schwer, es ihm zu geben. Ach, die weibliche Handarbeit bewegte, obgleich sie wohl ebenso nützlich war wie heutzutage, sich damals in engen Kreisen, und Amelys Kränklichkeit sowie die in ihrem Elternhause herrschende Armut waren schuld daran, daß sie nicht einmal in dieser recht zu Hause war. Sie hatte allerdings ausgesprochenes Talent fürs Malen gehabt, wenigstens war es der Mutter so vorgekommen, und so hatte sie sich denn eine kurze Zeit in der Blumenmalerei versucht. Sie hatte Blumen auf kleine Lesezeichen gemalt, wie es bei den adeligen Fräulein jener Zeit gebräuchlich war, doch weiter nichts als Blumen. Ihr Gefühl hatte ihr gesagt, daß ihre Fertigkeit darin zu gering sei, als daß sie es wagen könnte, dem Besitzer der bedeutenden Halleborger Bildergalerie diese bescheidenen Erzeugnisse anzubieten. Und so hatte sie sich denn etwas anderes ausgedacht. Doch dieses andere war so geringfügig, so gewöhnlich und lächerlich, daß eine Schamröte ihre marmorweißen Wangen färbte, als sie nun daran dachte, es ihm zu überreichen. Sie zog etwas sehr Weiches und sehr Schwarzes unter dem Kissen hervor, überreichte es ihm mit ihrer kleinen, mageren, durchsichtigen Hand und stammelte:

»Willst Du ... willst Du so gut sein! Es ist nur – ein paar Fausthandschuhe. Du kannst sie vielleicht nicht gebrauchen, aber ich habe sie selbst gestrickt und wenn ... wenn ich fort bin, werden sie Dich an diejenige erinnern, deren Du auf Deinem Lebenswege für eine Weile bedurftest ...«

Gösta hatte das Gesicht in sein Weihnachtsgeschenk gedrückt und schwieg. Sie betrachtete ihn forschend. Ob er es wohl lächerlich fand? Sie hatte es doch gut gemeint und über einen Monat daran gestrickt, da ihre schwachen Kräfte ihr kein anhaltendes Arbeiten erlaubten.

Er ließ die Hände sinken, sah sie an und strich leise über ihre Hand. Seine Wangen hatten sich gerötet und seine Augen glänzten feucht. Da faßte sie Mut und flüsterte:

»Sieh, das ist wirklich von mir selbst, von meinen eigenen Schafen. Papa hatte sowohl Hanna wie mir zwei Schafe geschenkt, deren Wolle wir bekommen. Manchmal spannen wir sie, und bisweilen verkauften wir sie. Das ist das einzige Geld, das ich je besessen habe, bevor ... bevor ...«

»Bevor Du Dich selbst verkauftest. Du armes kleines, leidendes Lamm,« schloß Gösta in Gedanken und drückte einen leichten Kuß auf die blutlose Hand.

Am dritten Feiertage kamen alle Lindenäser, und nun wurde die milde, bleiche, leidende Amely der Mittelpunkt eines innigen, friedlichen Familienlebens, das selbst den alten Kammerjunker vermochte, sich von der besten Seite zu zeigen, denn nun mußte er auch beständig mit dabei sein. Amely war ja auch sein Kind, und er würde sie zuerst verlassen. Am ersten Abend ging es nicht so gut mit der Punschkaraffe, wie es zu wünschen gewesen wäre. Der Kammerjunker hatte wohl die besten Absichten, wußte aber wie gewöhnlich nicht recht, wieviel er vertragen konnte, und mußte zeitig zu Bett.

Als der Punsch am nächsten Abende hereingebracht wurde, sah Amely ängstlich aus und wand sich unruhig im Bette. Gösta merkte es, nahm die Karaffe vom Präsentierbrette, reichte sie Mamsell Ulla und sagte:

»Da wir so lieben Besuch haben, wollen wir unsern Gästen zu Ehren aus den alten venetianischen Gläsern trinken, die mein Vater nur bei wirklich feierlichen Gelegenheiten hervorholen ließ.«

Es war auch ein herrliches Service, dieses venetianische, und der klare Krystall glitzerte wunderbar. Doch das beste von allem war, daß die dazu gehörende Karaffe auffallend klein war. Nachdem die Kinder und die Damen ein paar Tropfen und Gösta und Herr Lugner ein bis zwei Gläser bekommen hatten, konnte man dem Kammerjunker getrost den Rest überlassen und versichert sein, daß er dennoch ein sehr liebenswürdiger, netter Papa bleiben würde.

Sehr selten zog Gösta sich in seine Wohnung zurück, und geschah es, so hatte er wirklich zu thun. Sorge und Unruhe, Angst und Vorwürfe legten sich draußen in der milden, reinen Luft zur Ruhe. Alles war erfüllt von der innigsten Liebe zweier guter Frauen für einander und der Freude der Kinder, die sich der Angst und des Druckes unbewußt, rückhaltlos in Halleborgs Sälen Luft machte.

In das Krankenzimmer, das höchstens vier Personen auf einmal besuchen durften, drang der Lärm des bunten Reigens, als draußen im Saale der alte Rundtanz »Drillichweben« getanzt wurde. Die Zimmer lagen in einer Flucht und Amely konnte von ihrem Zimmer aus die Vorderseite des Tannenbaumes und den Reigen der Kinder um denselben herum sehen, während Hanna und der junge Lugner sangen:

»Hohe Berge, weites Feld!
Hier ist die Braut, die mir gefällt!«

»Die Braut, die mir gefällt!« Nein, sie war nicht hier, sie lag tief in der kalten schwarzen Erde auf dem Kirchhofe in Stockholm! Und die Braut, die ihm nicht gefiel, sollte binnen kurzer Frist auch in die geweihte Erde gebettet werden, und was dann?

Er ging leise in sein dunkles Zimmer, warf sich auf die Chaiselongue und vergegenwärtigte sich lockende Bilder aus der Vergangenheit, die vertraulichen Plauderstündchen mit Julia, die unvergeßlichen Abende in ihrem Hause, die Heimkehr vom Theater nach beendeter Vorstellung. Und dann eilten die Gedanken zurück zu ihrem ersten Zusammentreffen im Foyer der Schauspieler und dem letzten Scheiden in dem wirbelnden Winterschnee.

Doch draußen begann ein neuer Rundtanz:

»Den Richtertanz, den Richtertanz,
Wollen wir nun tanzen!
Hast Du getrunken Met und Wein?
Warst bei der Liebsten Dein?
Dann darfst Du mit uns tanzen!«

Ja, nun war er einen Augenblick bei seiner Liebsten gewesen und mußte sich jetzt wieder bei denen dort draußen sehen lassen. Doch nur freundliche, gute Blicke begegneten ihm dort, und das Herz wurde ihm weich in diesem Kreise, der ihm vor einem Jahre noch ganz unbekannt gewesen war.

Mit Amely ging es während des Winters auf und ab. Manchmal zog der Sensenmann seine Avantgarde zurück und gestattete ihr, einige Stunden im Lehnstuhl oder auf dem Sofa im Salon zuzubringen, ja sogar bei Tische zu erscheinen. Doch schon am nächsten Tage war das Feuer – die qualvollen, herzzerreißenden Hustenanfälle – der Vorposten des Todes wieder in vollem Gange.

Der Frühling kam zeitig. Um die Mitte des April waren die Wege trocken und das Gras begann hervorzusprießen. Professor Lindroth wurde von Lund nach Halleborg gerufen, um in betreff der Reise den Ausschlag zu geben.

»Ein Wagestück ist's,« meinte er, »ein großes Wagestück, doch – ein Mord ist es nicht. Lassen Sie sie reisen!«

»Wann?«

»Augenblicklich. Die Zeit ist für sie kostbar. Im Mai können wir kälteres Wetter haben als jetzt.«

So war denn der Augenblick gekommen, den Gösta so eifrig herbeigesehnt hatte! Er würde wieder ganz für sich bleiben können und aller beängstigenden Erinnerungen, aller Verkehrspflichten, kurz jeden Zwanges entledigt sein. Amely würde sich auch sehr freuen, fortzukommen und alles hinter sich zurückzulassen, was sie hinderte, sich als unabhängig und frei anzusehen. Und war sie erst im Süden angekommen, so würde sie ja eine kurze Zeit ziemlich gesund sein, wie es der berühmte Arzt ihr in Aussicht gestellt hatte.

Doch es war eigentlich merkwürdig, daß er sich am Abende vor der Abreise nicht befriedigter fühlte. Es war ein schöner Frühlingsabend, und alle befanden sich auf der Terrasse, wo Amely, in Tücher eingehüllt und mit einem Respirator vor dem Munde, im Lehnstuhle saß. Seit ein paar Tagen war sie täglich auf die Terrasse getragen worden, damit sie sich allmählich an die frische Luft gewöhne. Alle waren um sie herum! Gösta konnte sich bei dem Gedanken, daß er nun ganz allein bleiben würde, eines Gefühls des Verlassenseins nicht erwehren. Er legte den Arm um Ragnars Nacken und fragte:

»Nun, mein Junge, Du wirst doch wohl Deinen Schwager nicht ganz vergessen, wenn Deine Schwester auch fortreist?«

Ob Amely wohl etwas ähnliches empfand? Ja gewiß, nur viel stärker. Sie mußte ja von allen, außer der Mutter, scheiden. Er trat zu ihr, beugte sich über sie und sagte:

»Gebe Gott, daß Du unter dem milderen Himmel keine Schmerzen habest!«

»Unter dem milderen Himmel! Ja, die Luft dort wird mir gut thun, sagte der Professor, wenn ich nur erst die Reise überstanden habe. Doch ich fand das Leben auch im Winter so schön ... in der Liebe der Meinen und durch all Deine ... all Deine ... große Freundlichkeit. Es thut mir weh, wenn ich daran denke, daß es so viele Menschen giebt, die nicht einmal unter einem so milden Himmel wie hier in Halleborg leben!« –

Es war die Rede davon gewesen, ob Gösta sie zu Wagen bis Jönköping, wo sie an Bord gehen mußten, begleiten sollte. Frau Ragnhild hielt es nicht für nötig. Er konnte doch nicht auf dem Bocke sitzen, und sie wollte lieber mit Amely allein in dem großen, viersitzigen Medeviwagen bleiben, damit Amely sich niederlegen könnte, wenn sie wollte.

»Wir könnten ja noch einen Wagen nehmen, Mama, und abwechselnd bei Amely sitzen.«

Frau Ragnhild blickte ihn erstaunt an und erwiderte kein Wort. Gösta las in ihren Augen, daß ihr dieses Arrangement, das bei einem liebenden Ehepaare so natürlich gewesen wäre, hier seltsam und affektiert vorkam. So wurde denn nicht weiter davon gesprochen.

Am nächsten Morgen sollte also auf Halleborgs Freitreppe Abschied genommen werden. Die Aufregung, verbunden mit unerklärlichen Gefühlen hatte in dieser letzten Nacht den Schlaf von Amelys Ruhekissen fern gehalten, und sie war sehr schwach bei der Abreise. Göstas schönes Gesicht war ernst und bleich. Würde er sie wiedersehen? Wahrscheinlich nicht. Nun wohl, es war ja auch so am besten, und doch wurde es ihm wieder so unheimlich bei diesem Gedanken zu Mute, und er war so erschüttert, daß er sich Gewalt anthun mußte, um einigermaßen gefaßt zu erscheinen. Amely blickte ihn mit ihren großen, blauen, heute durch die Schmerzen ungewöhnlich scharfen Augen verwundert an.

»Was ist Dir? Bist Du auch krank?«

Er lächelte bitter.

»Amely! Denkst Du denn gar nicht daran, daß auch ich ein Mensch bin und menschliche Gefühle und ein Herz habe?«

Ihre Augen leuchteten auf; sie drückte ihm leise die Hand und flüsterte:

»Verzeih mir!«

Die beiden standen auf der Freitreppe. Sie kraftlos, totenbleich, erschöpft und nur von seinem starken Arme aufrecht gehalten. Er kräftig, schön, stattlich und jung. Welch ein ungleiches Paar! Welch beißende Ehestandsparodie! Doch nun war sie ja auch zu Ende ...

»Lebewohl Gösta!«

»Lebewohl! Gott segne und behüte Dich!«

Dort standen ihre Eltern, alle Geschwister und Dienstboten. Er schämte sich, schämte sich wirklich, in diesem Augenblicke andere sehen zu lassen, wie das Band, das sie beide mit einander verknüpfte, in Wahrheit beschaffen war. Er drückte ihren Arm, als wollte er sie um Entschuldigung bitten, beugte sich zu ihr hinab und küßte sie – auf den Mund. Sie hatte die Augen geschlossen und hing willenlos auf seinem Arme. Doch er zuckte zusammen! Der Mund, den er geküßt, war nicht, wie er erwartet hatte, kalt und schlaff gewesen. Es war wohl ein dünnes, bleiches, aber doch warmes lebendes Lippenpaar!

»Lebewohl!«

»Lebewohl! Möge Gott ...«

»Fahr zu, Johnsson!«


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