Rudolf Hawel
Im Reiche der Homunkuliden
Rudolf Hawel

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Sechstes Kapitel

Ein großes Fest der Homunkuliden. Lorenz beginnt das große wissenschaftliche Experiment zu bereuen.

Der Professor und Lorenz hatten sich nicht lange in Venedig aufgehalten. Der Unterschied zwischen dem Einst und Jetzt war dem Professor zu schwer auf die Seele gefallen. Damals, als er, ein kaum vierundzwanzigjähriger Mann, auf dem Markusplatz gestanden war, hatte das bunte Treiben auf dem malerischen Platze ihn mächtig ergriffen. Jetzt war ihm zumute gewesen, als sei er in eine Stadt der Toten gekommen – überall die ewiggleichen, starren Gesichter, die kein Zug des Frohsinns belebte, allüberall die gleichen Gestalten in der gleichen Gewandung, alles so unheimlich gespenstisch.

Als sie aber am dritten Tage nach ihrer Ausfahrt wieder in ihrem prunkvollen Heim landeten, überkam sie zum erstenmal während ihres Hierseins das Gefühl angenehmer Behaglichkeit. Als Archimedes und Plato sie verlassen hatten, befahl der Professor, daß Lorenz noch ein halbes Stündchen bei ihm bleibe.

»Na, wie gefällt's dir da?« fragte plötzlich der Professor.

Lorenz sah erstaunt auf. Das freundschaftliche »Du« hatte der Professor im Lande der Homunkuliden fast niemals noch gebraucht. Es war, als ob in die Brust des gelehrten Herrn auch schon die Eiseskälte dieser Homunkuliden eingezogen wäre.

»Dahier selbst... in dem Hause hier«, fing Lorenz zögernd an, »wär's nicht so übel. Mein Herr ist da... und das ist die Hauptsache... und wenn wir so allein sind wie jetzt, kann ich mir denken, es wäre alles noch so wie Anno dazumal vor zweitausend Jahren, da es noch Menschen auf der Welt gegeben hat und nicht lauter Maschinen!«

Der Professor nickte schweigend. Ermutigt fuhr Lorenz fort:

»Wenn ich aber unter den Automaten bin, wird's mir immer unheimlich. Mir kommt's vor, als wenn sie alle zum Reden erst aufgezogen werden müßten. Ich hab' auch noch keinen lachen sehen. Der Plato, der lächelt manchmal, das muß aber ein Konstruktionsfehler sein!«

»Ich hab' aber auch noch keinen weinen gesehen«, warf der Professor ein.

»Das ist wahr, Herr Professor, aber ich hätt' wirklich einmal meine Freude dran, wenn ich einen weinen sehen könnt', denn dann könnt' ich mir einbilden, es wär' ein Mensch...«

»Sie haben nicht unrecht!«

»Denn – ich hab's einsehen gelernt, es ist vielleicht eine Dummheit, die ich da sagen will...«

Er stockte.

»Nur heraus!« munterte der Professor auf. »Es liegt wirklich ein ganzer Haufen in dem, was Sie sagen.«

»Sehr verbunden, Herr Professor!« Lorenz verneigte sich sehr geschmeichelt. »Ich mein' halt, zwischen Lachen und Weinen liegt das, was wir Leben heißen. Ich mag keinen, der nicht lachen kann. Und die da können's nicht.«

Am Morgen nach dieser Unterredung fragte Herr Plato an, ob der Professor geneigt wäre, einem großen Fest, dem größten Fest der Homunkuliden, beizuwohnen. Herr Plato ward von Lorenz mit gebührendem Respekt in das Arbeitszimmer seines Herrn geleitet.

Der Professor empfing Herrn Plato mit geziemender Freude und erkundigte sich angelegentlich, um was für ein Fest es sich eigentlich handle.

»Es ist ein Fest, wie Sie es nie gefeiert haben«, sagte Plato, »wir begehen feierlich den Todestag der letzten Frau. Siebenhundertunddreiundreißig Jahre werden es morgen, daß das letzte Weib seine Augen zudrückte, nachdem fünfzehn Jahre vorher der letzte weibgeborene Mann gestorben war. Mit diesem Fest feiern wir den Beginn der großen Epoche, die durch die Herrschaft und durch das unumschränkte Auftreten der Homunkuliden gekennzeichnet ist.«

»Also diese Erinnerung wird so feierlich begangen? Es ist eine Trauerkundgebung?« fragte der Professor.

»Nein, Herr Professor, das Fest ist keine Trauerkundgebung, es ist ein Fest stolzer Freude für uns Homunkuliden. Jener Tag, an dem die letzte Frau starb, brachte uns die stolze Gewähr, daß wir frei von den drückendsten Ketten, in die die Natur alle Lebewesen geschlagen hat, unsere Lebensziele verfolgen können.«

Der Professor sah sinnend vor sich nieder.

»Und worin besteht dieses Fest?« fragte er. »Bei dem nüchternen Sinn der Homunkuliden, die, so viel ich bis jetzt kennenlernte, weder Freude noch Trauer empfinden, scheint mir so etwas wie ein Fest ein Ding der Unmöglichkeit. Die Homunkuliden können sich doch nicht freuen, Sie haben dazu ja gar nicht das Zeug in sich!«

»Unsere Freude ist anderer Art, Herr Professor, sie besteht in dem Bewußtsein, über das Tier, das man einst Mensch nannte, zu rein geistiger Höhe emporgekommen zu sein. Sie haben recht, Herr Professor, wir fühlen nicht mehr so energisch wie Ihre Zeitgenossen, aber unsere Erkenntnis ist um so größer geworden. Das Gefühl war nur zu oft die Schranke, die Sie vor der Erkenntnis trennte, es war die Ursache, daß Sie schaudernd Ihr Antlitz verhüllten, wenn eine Wahrheit leuchtend vor Sie trat, für uns hat die Wahrheit all ihre Schrecknisse verloren!«

»Ja., aber worin besteht Ihr Fest, was geht vor?« fragte verwundert der Professor.

»In jedem großen Versammlungshaus der Stadt hält einer unserer Redner einen Vortrag, in dem er den Teilnehmern die unerhörte Bedeutung jenes Tages darlegt.«

»Einer Ihrer Redner?« fragte verwundert der Professor.

»Jawohl, einer unserer Redner. Gerade für dieses Fest werden in unseren Fabriken ganz hervorragende Exemplare erzeugt, deren einzige Lebensbestimmung ist, Reden zu halten.«

»Wegen dieses einen Tages werden in Ihren Fabriken so viele Redner erzeugt? Das halte ich für einen ungeheuren lächerlichen Aufwand!«

»Pardon, Herr Professor, unendliche Summen hat der Staat seinerzeit unnötig für Redner geopfert – denken Sie doch an Ihre Parlamente!«

Der Professor wußte darauf nichts Rechtes zu antworten. Lorenz trat in diesem Augenblick ein.

Plato verneigte sich.

»Lorenz, Sie können sich freuen«, sagte der Professor, »wir werden heute einem großen Feste beiwohnen. Sie werden sich amüsieren!«

»Das wär' nicht übel!« sagte er beifällig nickend. »Ein Fest – hoffentlich mit Musik?«

»Mit Musik?« fragte verwundert Plato.

»Ich kann mir ein Fest ohne Musik gar nicht vorstellen, Sie werden doch verschiedene Musikkapellen haben, die bei dem Fest aufspielen – Walzer – Märsche?«

»Nein, Musik – Musik – die ist beinahe ganz abgekommen bei uns«, sagte Plato.

»Und getanzt wird auch nicht?« fragte Lorenz höchst indigniert.

»Tanzen?« Plato schüttelte in maßloser Verwunderung den Kopf. »Tanzen? Wer sollte tanzen?«

»Aber Theater wird gespielt?« Lorenz ward wütend.

»Nein, auch das nicht«, sagte Plato.

»Sehr hübsch«, sagte Lorenz; »das kann ein nettes Fest werden! Da bin ich gut 'neingetreten!«

Er drehte sich ganz respektwidrig um, trat zum Fenster, und sah mit finsterer Miene in den blühenden Garten hinaus. Nach einer Weile tiefen Schweigens fing der Professor an, seiner Erregung Ausdruck zu geben.

»Herr Plato, ich glaube, dieses seltsame, freudlose Volk zu verstehen!«

»Freudlos?« sagte kopfschüttelnd Plato. »Nein, Herr Professor, sagen Sie lieber: dieses sorgen-, kummer- und schmerzlose Geschlecht.«

»Und dessen Herz unempfänglich ist für irgendeine Freude, dieses Volk, das nur Kopf und Verstand ist, aber sonst nichts!« fuhr der Professor auf.

»Ich glaub', daß das das Richtige ist«, meinte Lorenz und trat zu den beiden Herren.

»Aber die Hauptursache ist die, daß Sie keine Weiber haben. Wenn Sie Weiber hätten, so würden Sie schon zum Singen anfangen. Einmal aus Freude und öfter auch aus Ärger. Und tanzen täten Sie auch, weil das ein sehr angenehmes Vergnügen ist, wenn man so ein liebes, weiches Ding im Arm hat, und Theaterspielen täten Sie auch, solche Theater, wo sie sich entweder kriegen oder auseinandergehen, was immer eine sehr große Freude ist!«

Plato sah kopfschüttelnd auf den feurigen Redner.

»Wenn die Herren dem Feste nicht beiwohnen wollen...«, sagte er zögernd.

»Nein, nein, Freund Plato«, fuhr der Professor auf. »So ist das durchaus nicht gemeint!«

»Dann, meine Herren, bitte ich, mir zu folgen. Der Wagen ist bereit.«

Vor dem Portal der Villa stand bereits das Automobil. Archimedes und Lessing harrten bereits des Professors. Auf der linken Brustseite der beiden Herren sowie auch des Chauffeurs prangte eine große goldene Denkmünze, die der Professor niemals früher an einem Homunkuliden bemerkt hatte.

»Dürften wir die beiden Herren ersuchen, auch eine solche Medaille auf Ihrer Brust zu befestigen?« fragte Plato. »Es geschieht, um den Tag zu feiern!«

Der Professor nahm die Medaille entgegen. Sie war von reinstem Golde und zeigte in großartiger Prägung das Bild der Sonne. Eine Gruppe von Menschen hob sehnsüchtig die Arme zur Sonne empor.

»Die Medaille soll anzeigen, daß wir seit jenem Tage, den wir heute feiern, freie Sonnenkinder geworden sind«, sagte Plato.

Er heftete die Medaille an des Professors Brust. Der gleiche Liebesdienst ward Lorenz von Archimedes erwiesen.

»Schade, daß ich das Stück um zweitausend Jahre zu spät krieg'!« meinte Lorenz. »Aber es ist sehr hübsch, und meine Mutter und mein Vater, die sehr arme und geplagte Leute gewesen sind, die haben sich wohl nie gedacht, daß ihr Sohn einmal ein Sonnenkind wird!«

Die Straßen der Stadt boten den gewöhnlichen Anblick, nichts deutete darauf hin, daß die Homunkuliden heute einen Festtag feierten.

»Nicht einmal Fahnen haben Sie ausgesteckt«, sagte Lorenz, »keine Reisiggirlanden an den Häusern, gar nichts!«

Als sie in der Riesenhalle ankamen, geleitete sie ein Herr zur ersten Reihe des Parketts und wies ihnen in der Mitte der Fauteuilreihe Sitze an. Lorenz ward ganz betäubt, als er auf die ungeheure Versammlung sah. Die Homunkuliden saßen stumm und unbeweglich auf ihren Sitzen, kein Laut war hörbar, das eigenartige Summen, das sonst in jeder größeren Versammlung hörbar ist, fehlte hier gänzlich. Es waren weit mehr als zweitausend Homunkuliden anwesend, alle zeigten das gleiche starre, bartlose Gesicht. Im Zusammenhang mit der unheimlichen Stille, die über der Versammlung lagerte, bot der Saal ein ganz eigenartiges gespensterhaftes Bild.

»Für eine Festversammlung sieht die Geschichte traurig genug aus«, bemerkte Lorenz, »das richtige Panoptikum! Ich glaube, diese Wachsfiguren können gar nicht reden!«

»Sind Sie doch ruhig!« befahl der Professor. »Ich glaube, man hört Sie bis in die letzten Fauteuilreihen!«

»Lassen Sie Herrn Lorenz«, bat Plato, »wenn es ihm ein Bedürfnis ist zu reden! Es versteht ihn niemand, und wenn ihn auch jemand verstände, so würde das auch nichts schaden, denn wir Homunkuliden können uns auch nicht ärgern.«

Plato sah etwas finster darein. Dieser Automat schien an einem Konstruktionsfehler zu leiden, der zur Folge hatte, daß er sich doch hin und wieder ein klein wenig ärgerte. Es war übrigens ein Glück für Lorenz, daß in diesem Moment eben ein Herr auf den Professor zutrat und ihm einige schön gedruckte Blätter überreichte.

Der Professor, Lorenz, Plato, Archimedes und Lessing erhielten jeder ein Exemplar der Broschüre. »Die Festrede«, flüsterte Plato dem Professor zu. »Wir haben die Rede aus der Homunkulidensprache ins Deutsche übersetzen lassen, damit die Herren dem Gedankengang folgen können.«

Inzwischen betrat ein Homunkulide die Rednertribüne.

»Jetzt geht's an«, sagte Lorenz.

Alle Homunkuliden waren aufgestanden. Der Herr auf der Rednertribüne machte eine tiefe Verbeugung vor dem Auditorium, die von diesem mit ernsthaftem, würdigem Kopfnicken erwidert wurde. Dann setzte sich das Publikum.

»Also das ist der Redner – und nicht einmal geklatscht wird, wenn so ein Herr kommt?« meinte Lorenz und schüttelte den Kopf. »Ich war in einer Versammlung einmal...«

»Lorenz, ich nehme Sie nie mehr mit«, meinte erzürnt der Professor.

»Entschuldigen, Herr Professor, ich muß reden, sonst friere ich hier ein in dieser Versammlung von Totenköpfen!«

Der Redner begann. Was er sagte, klang für den Professor und Lorenz gleich unverständlich. Er redete ja in der Homunkulidensprache.

»Sehr hübsch«, sagte Lorenz flüsternd, »wenn sie wenigstens während der Rede eine Militärkapelle spielen ließen!«

»Lesen Sie doch mit, Herr Lorenz«, sagte begütigend Plato zu dem Aufgeregten. »Sie haben den ganzen Text in Händen!«

Wenn das Blatt wirklich die wortgetreue Übersetzung der Rede enthielt, dann war die Rede alles mögliche eher als ein Lob auf die Frauen.

Der Text der Rede besagte ungefähr folgendes:

»Das Verhältnis des Mannes zur Frau war ein steter Hemmschuh des Fortschritts. Die Gier des Mannes nach einem Weibe, die in den tatkräftigen Lebensjahren des Mannes am heftigsten hervortrat, hat oft die Besten verhindert, ihre ganze große, reiche Kraft dem Fortschritt, der ganzen Menschheit zu widmen. Eine ewige Unruhe erfüllte die weibgeborenen Männer oft bis in das späte Alter. Und welche Fülle von Schmerz, Trauer, herzverzehrendem Leide brachte dieses Verhältnis mit sich! Wir, deren Kopf und Herz frei geworden sind von jenen zerstörenden Gedanken, können heute ruhig sagen, daß mindestens neunzig Prozent alles Leides, aller Sorgen und jedes Kummers, der vor uns die Welt erfüllte, auf Rechnung dieses unseligen Verhältnisses zu setzen ist. Betrachten wir uns einmal den Lebenslauf des Mannes zur Zeit, bevor das glückliche Geschlecht der Homunkuliden existierte!

Schon den Jüngling erfaßt die ›Liebe‹, wie es damals geheißen hat. ›Aus seinen Augen brechen Tränen‹, schreibt ein Schriftsteller jener Tage. Aus diesem Zitat geht klar hervor, wie schmerzvoll sich die ersten Regungen dieses Triebes bemerkbar gemacht haben müssen. Dann endlich kommt er so weit, seine Sehnsucht zu stillen, er heiratet, was damals der gesetzlich vorgeschriebene Weg war, der aber sehr oft nicht eingehalten wurde.

Ob nun einer jener Unglücklichen, die damals lebten, diesen durch das Gesetz genau vorgeschriebenen Weg zur Stillung dieses verzehrenden Triebes einhielt oder nicht, immer war die Erfüllung dieses Naturgebotes, wie jene rückständigen Leute es nannten, für den Betreffenden mit ungeheuren Kosten und den größten Unannehmlichkeiten verbunden. Sie müssen bedenken, daß damals nicht der Staat für den einzelnen sorgte, sondern jeder einzelne für sich selbst sorgen mußte und nicht nur für sich selbst allein, sondern auch für jene Individuen, die er infolge der Befriedigung dieses rein tierischen Triebes um sich scharte, für seine Frau, für seine Kinder, oft für die Mutter der Frau, die damals Schwiegermutter genannt wurde und die zufolge jener alten Schriften als die unumschränkte Beherrscherin des Mannes auftrat. Durch diese Verhältnisse verlor das Individuum den Blick für die Gesamtheit, für den Staat, es ward zum rücksichtslosen Egoisten, es lebte nur für diesen Kreis, den man Familie nannte. Sein ganzes Wirken und Denken ward eingeschränkt durch die Rücksicht auf die Familie; der Staat, die große Gemeinschaft aller Menschen, war ihm nichts, er war ein Einsiedler mitten unter den Millionen, unter denen er lebte. Und wenn einer den regulären Weg verschmähte, durch Gründung einer Familie jene sogenannten natürlichen Triebe zu befriedigen, begab er sich in die größten Gefahren, Gefahren, die ihn an Leib und Seele schädigten.«

Lorenz hatte eifrig mitgelesen und auch eifrig den Kopf dazu geschüttelt, aber so oft er reden wollte, winkte der Professor entschieden ab.

»Für uns unfaßbar sind all die unzähligen Leiden, die dieses abscheuliche Verhältnis unter den Menschen jener Zeit zur Folge hatte. Die Schriften der sogenannten Dichter erzählen uns davon. Um ein weibliches Wesen bewarben sich oft drei bis vier Personen, was dann zu Mord und Totschlag führte; manchmal kaprizierte sich eine Mannsperson gerade auf eine bestimmte Weibsperson oder umgekehrt. Die Verschmähten brachten sich gewöhnlich um und töteten meist vorher jene, von denen sie verschmäht wurden, ein Verfahren, durch das die Bande der Familie oft furchtbar litten, denn es kam oft vor, daß einer verheirateten Frau ein anderer als der Angetraute lieber war oder daß der verheiratete Mann infolge seines unsteten Charakters sich zu einer anderen hinneigte, was dem Betroffenen unendliche Schmerzen, Kränkungen und Gerichtskosten verursachte.

Dieser Trieb war so allmächtig, daß er mit Gewalt alle Menschen beherrschte, alle zu tierischen Sklaven erniedrigte. Wieder geben uns die Schriften der Dichter jener Zeit Kunde davon. Die hervorragendsten Schriftsteller schrieben damals über nichts anderes, als in wie verschiedener Form verschiedene Menschen die Erfüllung dieses Triebes suchten. Und je klarer und unumwundener solch ein Dichter die Sache beschrieb, desto gefeierter war er in jener Zeit, desto mehr wurden seine Bücher gekauft.

Es gab damals Vereinigungen, die staatsrechtlichen Charakter hatten. Einer der vornehmsten trug den Titel: Katholische Kirche. Die Statuten dieser Vereinigung hatten damals dieselbe allgemeine Geltung wie staatlich anerkannte Gesetze. In diesem Statut war enthalten, daß ein Mann und eine Frau, die einander geheiratet hatten, nie voneinandergehen dürften, auch wenn sie absolut nicht zusammenpaßten. Jenes Statut aber verbot dem Manne und dem Weibe, solche Individuen aufzusuchen, die besser passen würden, und sie mußten beieinander bleiben. Verehrte Versammlung! Kein Kerker früherer Zeit mit all seinen grausamen Einrichtungen war peinigender als eine solche ›Ehe‹, wie man es nannte. Uns Homunkuliden ist es unmöglich, all das Grauenhafte, das ganze Leben mit quälender Unruhe Durchsetzende dieses Verhältnisses zu erfassen. Ungezählte Tausende der Besten und Größten jenes Geschlechtes verdarb der unselige Trieb. Rettungslos schien die Menschheit in diesem tierischen Leben unterzugehen, obwohl schon damals erlauchte edle Geister auftraten, diesen Dämon ›sexueller Leidenschaften‹ zu beschwören. Die sozialen Verhältnisse brachten es mit sich, daß jeder die Vermehrung der sogenannten Familie durch Kinder als eine schwere Last empfand. Auch der einfache Handwerksmann, der Arbeiter, jeder strebte danach, so wenig Kinder als möglich zu erhalten. Indessen war die Wissenschaft so weit vorgeschritten, diesem Verlangen zu entsprechen. Dadurch aber ward die Zunahme der Bevölkerung immer geringer. Die Sache drohte katastrophal zu werden. Die Welt begann sich zu entvölkern, da gelang es im Jahre dreitausendeinhundertsechsundfünfzig dem Professor Y-so-ley, den ersten, vollkommenen Homunkuliden herzustellen!«

Lorenz hatte weiter mitgelesen. Er hielt eben bei diesem Satz, als allgemeines Klatschen der Homunkuliden verkündigte, daß sie mit den Ausführungen des Redners sehr zufrieden seien.

»Dieser epochalen Erfindung ist der rapide Fortschritt zu danken«, fuhr der Vortragende fort. »Das neue sorglose Geschlecht, das nun entstand, konnte all sein Denken seiner großen und einzigen Lebensaufgabe widmen, frei von allen hemmenden Trieben und Begierden, dem Staat, der großen Allgemeinheit, zu dienen. Die Menschen, die aus unseren Fabriken hervorgehen, wissen nichts von all den Leiden und Schmerzen, von all der furchtbaren Not, dem Elend und Jammer, das aus diesem Verhältnis entstammte. Gleich der Ameise, gleich der Biene leben sie in einer großen Gemeinschaft, die ihre Arbeit, ihre Mühen und Sorgen in reichstem Maße vergilt, indem sie dem Staatsbürger ein ruhig gleitendes, sorgloses Leben gewährt, ein Leben so leid- und kummerlos, wie es nicht möglich war, so lange noch ein Weib auf dieser Erde wandelte.

Daher ist dieser Tag für uns Homunkuliden von größter Bedeutung. Mit dem Tode des letzten Weibes wurden alle Fesseln gesprengt, die den menschlichen Geist in Banden hielten; aus dem Grab des letzten Weibes blühten das Glück und die Ruhe kommender Geschlechter hervor!«

Der Redner hatte geschlossen. Alle Homunkuliden waren aufgestanden, verneigten sich und klatschten leicht in die Hände.

»Sehr hübsch«, sagte Lorenz, »glauben Herr Professor, daß man mir jetzt das Wort erlauben würde?

»Was würde Ihnen das nützen?« fragte der Professor. »Die Homunkuliden würden sie ja nicht verstehen. Sie kennen ihre Sprache nicht – und die Homunkuliden verstehen das Deutsche nicht!«

»Das ist mir leid«, sagte Lorenz, »denn ich hätte so gern, auf den Unsinn, der da gedruckt steht, mit ihnen deutsch geredet! Die Automaten reden wie der Blinde von der Farbe, es fehlt ihnen alles, daß sie die Liebe empfinden könnten, die ein sehr angenehmes Gefühl war!«

»Also, das war alles?« fragte indigniert Lorenz, als die Homunkuliden begannen, den Saal zu verlassen. »Da danke ich schön, das Vergnügen war mäßig! Hoffentlich gehen sie jetzt auf einen guten Trunk, durch das Anhören der Rede hätten sie sich's verdient!«

Plato hatte diese Worte gehört.

»Nein, die Homunkuliden gehen jetzt wieder an ihre Geschäfte«, sagte er.

»Sagen Sie mir, Herr Plato, sind die Kerle alle böse aufeinander? Keiner redet mit dem anderen – eine spaßige Gesellschaft ist das!«

»Was sollten sie denn miteinander reden?« fragte verwundert Plato. »Das, was der Redner sagte, erscheint ihnen selbstverständlich...«

»Es werden doch einige darunter sein, die gute Freunde zueinander sind, und da hat man doch immer etwas zu reden. Ich habe vor zweitausend Jahren auch einige gute Freunde gehabt. Was haben wir uns immer erzählt, wie haben wir oft gelacht miteinander und auch oft geschimpft! Und wenn einer von uns eine Reise gemacht hat, so hat er den anderen immer Ansichtskarten geschickt, um ihnen zu beweisen, daß er auch an anderen Orten an sie denkt!«

»Freunde?« sagte der Homunkulide. »Das ist etwas, was ich wirklich nicht kenne. Wozu sollen den Homunkuliden die Freunde denn dienen?«

»Na, wenn einer einmal in Not gerät«, sagte eifrig Lorenz, »dann wird ihm der Freund helfen.«

»Ein Homunkulide kann nicht in Not geraten!«

»Aber sie können sich doch über manches freuen mitsammen!«

»Worüber sollte sich ein Homunkulide freuen?« fragte Plato.

»Ah, so ist's«, sagte verwirrt Lorenz. »So, so! Recht hübsch! Sagen Sie mir nur, müssen die Homunkuliden alle Tage aufgezogen werden?«

»Wie meinen Sie das?« fragte Plato.

Der Professor hatte stumm zugehört, die letzte impertinente Frage Lorenz' bewog ihn endlich, in die Debatte einzugreifen.

»Lorenz«, sagte er mit sonderbar mildem Ton, »mäßigen Sie sich, wenn wir einige Zeit hier gewesen sind, werden Sie sich an das meiste gewöhnt haben!«

»Niemals!« sagte entrüstet Lorenz. »In diesen Narrenturm gewöhne ich mich mein Lebtag nicht!« Diesmal war er ganz böse. Ja, eigentlich mehr als böse. So recht tief ergriffen. »Die Leute haben keine Seelen«, sagte er, »es sind nur Automaten, du lieber Gott, wie schön haben wir es gehabt, bevor wir eingeschlafen sind!«

Plötzlich zog er sein Sacktuch aus der Tasche heraus, lehnte sich an eine Säule und fing heftig zu schluchzen an.

»Lorenz, Lorenz, beruhigen Sie sich doch!« rief erschrocken der Professor.

»Ist Herrn Lorenz übel geworden? Ist er unwohl – es ist sofort jemand zur Stelle«, meinte Plato.

»Nein, nein«, sagte der Professor, »es wird gleich vorüber sein! Lorenz gewöhnt sich so schwer an die neuen Verhältnisse.«

Er nahm ihn unter den Arm.

»Es ist schon vorbei, bemühen sich Herr Professor nicht«, sagte Lorenz und wollte die Hilfe ablehnen.

»Nein, nein, Lorenz! Schließlich bin ich doch an allem schuld!«

Lorenz protestierte heftig, mußte es sich aber gefallen lassen, von seinem Herrn zum Wagen geführt zu werden.

»Er ist sehr nervös«, erklärte der Professor, »er vermißt hier so vieles. Einst hatte er einen großen Kreis von Freunden – die fehlen ihm. Er hat mit ihnen über alles mögliche geplaudert, gelacht, er hat mit ihnen Karten gespielt!«

»Pardon, ich glaube, heute noch wird Herr Lorenz in der Lage sein, dieses Vergnügen genießen zu können. Der Staat hat bereits zwei Herren bestellt, die mit Herrn Lorenz spielen werden. Zwei hervorragende Mathematiker wurden bestimmt, hin und wieder mit Herrn Lorenz zu tarockieren. Sie haben das Spiel studiert und dürften sich aller Voraussicht nach heute noch einfinden!«

»Hören Sie, Lorenz, heute noch werden Sie tarockieren«, redete ihm der Professor liebreich zu.

Lorenz sah mit tränenfeuchten Augen auf seinen gütigen Herrn und schwor im geheimen, die Homunkuliden greulich abzusieden.

Das Mittagmahl nahm der Professor mit seinen drei Begleitern ein. Als er sich eben die Zigarre anzündete, meldete ein Homunkulide den Besuch von zwei Herren.

»Das dürften Ihre Spielgenossen sein«, meinte Plato.

Lorenz war entzückt. Er hatte einige Schlucke des braunen Zaubertrankes zu sich genommen, wodurch seine leidvolle Stimmung eine erhebliche Besserung erfahren hatte. Die Ankündigung der beiden Tarockierer versetzte ihn in die rosigste Laune.

Die beiden Herren wurden hereingeführt, ihr Anblick aber dämpfte die glückliche Stimmung Lorenz' nicht wenig. Es waren zwei Herren mit ungeheuer dicken Köpfen, einem kurzen Leib und dünnen, etwas »O«-förmig gekrümmten Beinen. Der Professor lud sie ein, Platz zu nehmen. Sie setzten sich gehorsam nieder, nahmen jeder ein Gläschen des bei Lorenz so beliebten braunen Trankes zu sich und blieben dann stumm, ohne sich an der weiteren Unterhaltung zu beteiligen, sitzen.

Man sprach über die vernommene Festrede.

»Nur eines ist mir unfaßbar«, meinte der Professor, »daß unter solchen Verhältnissen irgendein Kunstleben bei Ihnen zustande kommt!«

»Da kann am besten Lessing Auskunft geben!« sagte Plato.

»Sie sind wohl selbst ein Künstler?« fragte der Professor Lessing.

Dieser verneinte bescheiden. »Das nicht«, sagte er, »wirkliche, schaffende Künstler, Dichter, Maler, Bildhauer, Schauspieler, wie zu Ihrer Zeit, haben wir nicht!«

»Aber in Ihren Fabriken werden doch Menschen aller Art erzeugt; gelingt es nicht auch, Künstler zu erzeugen?«

»Wir haben es oft versucht, es geht aber nicht«, warf Plato ein, »die dargestellten Exemplare erhoben sich niemals über die Nachahmung des längst Dagewesenen, es gelang ihnen kein neues Bild, kein wirklich neues Drama, keine originelle Statue, sie blieben in der Nachahmung stecken!«

»Und was mag der Grund dieser eigentümlichen Erscheinung sein?«

Lorenz stand fast schon auf Nadeln, es brannte ihn nach der Tarockpartie.

»Die Herren warten vielleicht schon auf ihre Partie?« fragte er. »Wenn es dem Herrn Professor nicht unangenehm ist... so...«

»Nein, nein, Lorenz, Sie können sich mit Ihren Gästen schon zum Spieltisch setzen, die Herren scheinen ohnehin keinen besonderen Gefallen an unserem Gespräch zu finden!«

Lorenz führte die Herren in sein Zimmer hinüber und setzte sich mit Wonnegefühlen zum Tarocktisch.

Als er sich entfernt hatte, wurde das Kunstgespräch fortgesetzt.

»Also, worin mag der Grund liegen, daß es unter Ihnen keine Künstler gibt?« fragte der Professor nochmals den Homunkuliden.

»Man hat dafür schon die verschiedensten Gründe angegeben«, erklärte Lessing. »Unser Leben ist in so vieler Beziehung anders geartet als das Ihrer Zeit. Viele sagten, daß unsere Art der Lebensführung, ihre Regelmäßigkeit, der Mangel an Aufregungen, die Hauptursache sei. Die Homunkuliden sind in ihren Anschauungen zu nüchtern. Sie haben einen richtigen praktischen Sinn, der sie das Nützliche, Notwendige erkennen läßt.«

Der Professor unterbrach ihn.

»Ich glaube, die richtige Ursache gefunden zu haben«, sagte er lebhaft. »Ihnen fehlen die Weiber!«

Die Homunkuliden sahen ihn vollständig fassungslos an.

»Ich habe die Rede ja aufmerksam mitgelesen, es ist vieles Wahre daran. Sie spüren von dem Kummer und den Aufregungen, von all den Schmerzen nichts, die das Verhältnis zum Weibe mit sich bringt. Sie fühlen aber auch das unsägliche Glück nicht, das daraus entsprang und die Menschen einst zu den höchsten Leistungen der Kunst führte. Dieses Verhältnis nötigte den Mann zu einem ewigen Kampfe und brachte ihm doch das schönste Glück. In den Dichtungen aller Zeiten und Völker, in Gemälden und Bildwerken ist der Kult des Weibes dargestellt. Ich glaube, Ihr Verhältnis zur Kunst richtig erfaßt zu haben. Sie sind leidlose, aber auch glücklose Leute. Was einst unsere Seele bewegte, die Liebe zu einer Frau, zur Familie, zur Heimat, zum Vaterlande, all das bewegt Ihr Herz nicht, tausend und tausend Stimmen, die einst in unserer Brust lebten, sind verstummt, seit ein kaltes, ruhevolles Geschlecht diese Erde bewohnt und beherrscht!«

Der Herr Professor war vor Aufregung ganz rot geworden, er war aufgestanden und ging mit starken Schritten im Zimmer auf und ab.

»Fast jedes Gefühl, das den Menschen einst froh und glücklich machte, fehlt Ihnen«, sagte er, und es lag eine unsägliche Bitterkeit in seinen Worten.

»Es fehlen uns aber auch jene Gefühle, die uns arm und elend machen könnten«, sagte Plato.

Die Aufregung des Professors hatte keinen besonderen Eindruck auf ihn gemacht.

,.Wir beschäftigen uns doch mit der Kunst«, sagte Lessing. »Ihre großen Werke sind uns zum Teil erhalten geblieben. In unseren Museen hängen Bilder aller Meister, aller Zeiten und Völker. Unsere Kunstgelehrten schreiben jahraus, jahrein die besten und schönsten Werke darüber. Statuen und andere Werke der bildenden Kunst aus alter Zeit besitzen wir zu Tausenden und über jedes Werk ist eine große Geschichte geschrieben und in unserer Enzyklopädie der bildenden Kunst, einem Werk, das zweitausend Bände umfaßt, finden Sie die geistvollsten Abhandlungen darüber. Auch Ihre Dichter sind nicht für uns verloren, über jeden Dichter sind Biographien, Erläuterungen und sonstige gelehrte Abhandlungen erschienen und die Männer, die diese Schriften verfassen, genießen bei uns die größte Hochachtung, sie werden entschieden heute mehr geachtet und es ergeht ihnen weitaus besser als jenen, die die Werke einst dichteten.«

»Aber selbst malen oder dichten oder irgendein Bildwerk machen, das können Sie nicht?« fragte der Professor.

Lessing zuckte die Achseln. »Wir begnügen uns, die Schönheiten, den geistigen Inhalt dieser Werke, klarzulegen.«

»Und sind die Homunkuliden verpflichtet, nämlich gesetzlich verpflichtet, sich den Anschauungen der Kunsthistoriker anzuschließen?« fragte ironisch der Professor.

»Das natürlich nicht«, antwortete, unbekümmert um die Ironie, Lessing. »Wie Sie ja wissen, gibt es bei uns keinerlei Verpflichtungen. Da aber der Lebenszweck unserer Kunstschriftsteller der ist, den anderen Homunkuliden zu helfen, sich eine Kunstmeinung zu bilden, so nehmen die Homunkuliden an, daß das Urteil der Kunsthistoriker zuverlässig sei, und bemühen sich, das alles schön, großartig und so weiter zu finden, was diese Herren in ihren Werken eben als schön, großartig und so weiter ausgeben!«

»Das ist sehr bequem!« sagte sarkastisch der Professor. »Auf diese Art wird das Kunsturteil vom Staat diktiert? Nicht übel!«

»Von wem wurde es denn zu Ihrer Zeit diktiert?« fragte begierig Lessing.

Der Professor wollte erzürnt antworten; aber er besann sich noch. Im Moment war ihm eingefallen, was für Leute oft zu seiner Zeit die Kritik besorgten. Er hatte da die verschiedensten Exemplare kennengelernt. Leute, die absolut kein Gehör hatten und ein Fagott von einer Drehorgel nicht unterscheiden konnten, kritisierten in spaltenlangen Artikeln Musikaufführungen, Opern und Konzerte. Der Professor hatte einmal Gelegenheit gehabt, einen farbenblinden Patienten zu behandeln; zu seinem größten Erstaunen erfuhr er, daß der Patient einer der größten und gefürchtetsten Kunstkritiker sei und daß die bedeutendsten Maler um seine Gunst bettelten..

Dann erinnerte er sich an einen sonderbaren Unfall. Er war eines Abends in der Redaktion der »Freisinnigen Zeitung« gewesen. Während seines Gespräches mit dem Chefredakteur kam der Redakteur des Feuilletons herein und meldete, daß einer der Kritiker wegen Krankheit nicht imstande sei, die heutige Premiere im Goethe-Theater zu besuchen. Nach vielem Herumfragen, weder der Gerichtssaalreporter noch der Lokalreporter noch der Parlamentsberichterstatter hatten Zeit, die Premiere zu besuchen und darüber kritisch zu berichten, blieb nicht anderes übrig, als in die Administration zu schicken und einen Herrn, der dort die Aufgabe hatte, dem Publikum bei der Abfassung von Inseraten an die Hand zu gehen, mit dem künstlerischen Richteramt zu betrauen!

Diese und ähnliche Erwägungen schwirrten ihm durch den Kopf, und er schämte sich fast, die so unbequeme Frage des Kunstrichters der Homunkuliden zu beantworten.

»Jede Zeitung hatte ihre bestellten Kunstrichter«, sagte er ausweichend.

»Und das waren sicher recht tüchtige, gut geschulte Leute!« meinte Lessing.

»So ziemlich«, sagte der Professor. »Leider waren sie oft sehr beeinflußt.«

»Beeinflußt? Doch nicht vom Staate, von Behörden oder von den Personen, denen die Zeitungen gehörten?«

»Von vielem, nein, sogar von sehr vielem. Auch die Politik spielte da hinein. Wenn der Künstler sich zu einer bestimmten politischen Partei erklärt hatte, so konnte er sicher sein, daß ihn die Blätter seiner Partei in den Himmel erhoben und die Blätter der Gegenpartei herunterrissen...!«

»Auch wenn das Werk gut war?« fragte erstaunt Lessing.

»Die Güte des Werkes spielte dabei keine besondere Rolle. Auch persönliche. Feindschaften kamen in den Kritiken zum Ausdruck!«

»Das müssen ja schreckliche Verhältnisse gewesen sein«, sprach Lessing. »Und sind solche Kritiken geglaubt worden?«

Der Professor zuckte die Achseln: »In den meisten Fällen... trotzdem unzählige Fälle gewaltiger kritischer Irrtümer vorliegen. Große Meister sind bei ihrem ersten Auftreten von der Kritik oft gänzlich mißverstanden worden, und statt solchen Leuten den Weg zur Anerkennung und zum Ruhme zu ebnen, hat man ihnen die größten Hindernisse bereitet!«

»Das ist sehr böse«, sagte nachdenklich Plato.

»Jeder Richter soll gerecht sein, auch der Kunstrichter«, ergänzte Lessing.

Die gelehrte Unterhaltung fand ein unerwartetes Ende. Lorenz war mit seinen Partnern drüben in Streit geraten, denn die Dickköpfe hatten ihn fürchterlich abgesotten. Lorenz schimpfte wie ein Rohrspatz und der Professor hatte Mühe genug, den Rabiaten zu beruhigen.

Als sich die Homunkuliden entfernt hatten, hielt der Professor Lorenz eine gewaltige Strafpredigt, an deren Ende er den treuen Diener für vierzehn Tage aus seiner Nähe verbannte.

»Während dieser vierzehn Tage dürfen Sie sich nicht bei mir blicken lassen.«

Lorenz wollte noch etwas reden, aber der Professor wies schweigend auf die Tür.

Trotzig entfernte sich der Diener.


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