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Siebzehntes Kapitel

Bülow sehnte sich schon seit langem, seine Töchter zu sehen, und Cosima hatte erlaubt, daß Daniela ihren Vater besuchte. Beide kamen sie dann nach Weimar. Der Großvater freute sich sehr über die erblühende Enkelin. Die ganze freie Zeit, die ihm seine Schüler noch übrig ließen, widmete er ihr. Er nahm sie mit zur Baronin Meyendorff, er paradierte mit ihr auf der Straße, auch der großherzoglichen Familie stellte er Daniela vor. Und er gab sich Mühe, sich aufrecht zu halten, er bürstete seine Kleider sorgfältig, rasierte sich lange. Er wollte ein stattlicher Großvater sein. Selbst seiner eigenen Enkelin gegenüber war er noch immer ein bißchen eitel.

Da traf ihn auch schon die Strafe für das, womit er sich am meisten gebrüstet hatte: hastig war er die Treppe in der Gärtnerei hinaufgeeilt, sein alter Fuß stolperte. Hilflos griff er mit seinen langen Armen in die Luft, es war aber nichts da, woran er sich hätte festhalten können, und er stürzte. Er stürzte die ganze Treppe hinunter und blieb unten liegen. Er war sogar zu schwach, um zu schreien, er stöhnte nur schmerzerfüllt. Spiridion und Pauline kamen angerannt und versuchten ihn aufzurichten, aber es ging nicht. Er hatte sich tüchtig aufgeschlagen, konnte nicht auf den Beinen stehen, und von seiner Stirne rieselte Blut herab. Mit vieler Mühe und Not schleppten sie ihn in die Wohnung, entkleideten ihn und legten ihn ins Bett. Er hatte sich nichts gebrochen, das konnte er auch selbst feststellen. Deswegen ließ er keinen Arzt kommen. Als Hans und Daniela aus der Stadt zurückkamen, hatte er sich schon wieder beruhigt. Seinen Kopf hatte er mit einem nassen Handtuch eingebunden, desgleichen die beiden stark blutenden Knie. Die Baronin Meyendorff saß entsetzt an seinem Bett.

»Es ist nichts von Bedeutung«, sagte er den sich Sorgenden, »morgen stehe ich wieder auf.«

»Aber Großpapa, wir sollten doch lieber einen Arzt kommen lassen.«

»Nein, nein, das lasse ich nicht zu. Mir fehlt gar nichts. Ich sage ja, daß ich morgen wieder aufstehe.«

Aber am anderen Tage stand er nicht auf. Er fühlte sich nicht wohl. Alles tat ihm weh. Auch am dritten Tage ging es ihm noch schlecht. Er erholte sich nur sehr schwer, und es dauerte eine geraume Zeit, ehe er sich wieder in seinen Lehnstuhl setzen konnte. Hans und Daniela fuhren besorgt ab, ließen ihn aber zuvor noch hoch und heilig versprechen, daß er sich in Halle, wo es die besten Ärzte gab, untersuchen lassen würde. Als es ihm soweit wieder besser ging, daß er reisen konnte, suchte er auch den berühmten Dr. Volkmann auf. Der Arzt untersuchte ihn gründlich.

»Es ist nichts besonderes. In Ihrem Alter muß man aber schon tüchtig aufpassen. Der ganze Organismus ist nicht mehr so erneuerungsfähig wie in der Jugend. Auch in der Lunge höre ich kleine Geräusche. Es wäre angebracht, wenn Sie das Zigarrenrauchen einschränken würden.«

»Gut.«

Es fiel ihm aber nicht im geringsten ein, sich zu mäßigen. Er rauchte eine Virginia nach der anderen. Besser gesagt, er rauchte jede Zigarre nur bis zur Hälfte, die andere Hälfte kaute er. Wann seine Zigarre brannte und wann nicht, wußte er nie. Manchmal zündete er seine brennende Zigarre an, manchmal wiederum paffte er den vermeintlichen Rauch aus der ausgegangenen Zigarre.

Im Augenblick bereitete er sich auf Bayreuth vor, und das regte ihn viel mehr auf als das Zigarrenrauchen. Erst vor kurzem hatte er von Wagner die Klavierpartitur des »Parsifal« erhalten, und dieses neue Werk hatte seinen Geist in eine förmliche Verzückung versetzt. Er konnte es kaum erwarten, die Krone aller Schöpfungen Wagners auf der Bühne zu sehen. Als in Bayreuth die Aufführungen begannen, war er schon mit Olga von Meyendorff dort. Bei der Hauptprobe saß er in der ersten Reihe. Verwundert, voller Hingabe hörte er zu und wiederholte immer wieder für sich, daß dieses Musikdrama das Meisterwerk des Jahrhunderts war.

Plötzlich fühlte er Wagners Hand auf seiner Schulter. Er wandte sich um.

»Jetzt paß auf, Franzi, jetzt kommt etwas von dir.«

Das Orchester spielte das liturgische Motiv Parsifals.

»Ja«, nickte er, »ich habe es schon in dem Klavierauszug gesehen. Die ›Straßburger Glocken‹ fangen so an. Ein schönes Motiv. Ich freue mich, daß es an einen so würdigen Platz gekommen ist.«

Er sagte das nicht aus Ziererei, er meinte es aufrichtig. Für den »Parsifal« hätte er gerne alles hingegeben. Es schmeichelte ihm sogar ein wenig, daß Wagner dieses Motiv, das in der Musik des Parsifal so wichtig war, aus seiner Schatzkammer geholt hatte. Im übrigen war das gar nicht verwunderlich, das Lebenswerk Wagners wies oft seinen befruchtenden Einfluß auf. Und wenn dieses überragende Genie irgend etwas in seine Hand nahm, sei es auch von einem fremden Platz, wurde es sogleich so sehr sein Ureigenes, wie nach einer Bluttransfusion das neue Blut dessen ist, dem das Herz gehört.

Carolyne hatte auch jetzt noch nicht aufgehört, gegen die Bayreuther Reisen ihres Freundes zu kämpfen, obwohl sie wußte, daß das umsonst war. Ohne Siegesaussichten bemühte sie sich aber trotzdem weiter. In Rom hatte sich eine deutsche Musikerin und Schriftstellerin mit Namen Lina Ramann gemeldet, eine pedantische Jungfrau mittleren Alters, die sich vorgenommen hatte, die Biographie Franz Liszts zu schreiben. Sie plante das Werk für zwei Bände und hatte sich schon sehr viele Notizen gemacht, aber das Wesentliche wollte sie von dem Helden ihrer Biographie selbst hören. Viele Stunden verbrachten sie gemeinsam, und den Abbé begannen diese Zusammenkünfte zu langweilen, Carolyne aber langweilten sie um so weniger. Sie belegte Lina Ramann mit Beschlag. Sie beschloß, daß diese Liszt-Biographie nicht wagnerfreundlich sein sollte. Der alte Mann war schon zu müde und dann dachte er sich auch, daß er das endgültige Manuskript sowieso sehen und daraus schon streichen würde, was ihm nicht paßte. Deshalb überließ er es den beiden Frauen; sie sollten es nur machen. Carolyne war mit ihrem großen religionswissenschaftlichen Werk von zweiundzwanzig Bänden fertig, sie hatte es zur Anerkennung beim Heiligen Stuhl eingereicht, dort erwartete es nun sein Schicksal zwischen tausend anderen Werken. Nachdem die Fürstin nun ihre neue Beschäftigung gefunden hatte, stöberte sie von früh bis abends in seinen Briefen, seinen Erinnerungen und in allen möglichen Kleinigkeiten herum, überall einen Anhaltspunkt gegen Wagner suchend, und hielt ihrem Freund jetzt schon Reden wie ein den Bannspruch verkündender Papst. Das Ende ihrer Tiraden war stets, daß Cosima ihrem Manne zuliebe den protestantischen Glauben angenommen habe, deswegen also verdammt sein würde, und daß Wagner vollständig talentlos geworden sei.

Der alte Domherr ließ sich nicht unterkriegen. Als er sich den »Parsifal« angehört hatte, setzte er sich hin, um einen Brief zu schreiben:

»Mein felsenfester Standpunkt ist eine unbedingte, oder wenn es Ihnen so besser gefällt, übertriebene Bewunderung. Parsifal ist mehr als ein Meisterwerk. Es ist eine Offenbarung in Form eines Musikdramas. Mit Recht ist gesagt worden, daß uns Wagner nach ›Tristan‹, dem irdischen Gesang der Liebe, das höchste Lied der Gottesliebe geschenkt hat, so gut ihm das in dem engen Rahmen des Theaters möglich war. Das ist die Wunderschöpfung des Jahrhunderts!«

Fünfmal nacheinander sah er sich den »Parsifal« an. Und hatte noch immer nicht genug davon. Da wollte aber Olga von Meyendorff unter allen Umständen wieder nach Hause fahren. Es kam zu einer scharfen Aussprache zwischen ihnen beiden. Endlich gab der Kanonikus nach. Zum größten Leidwesen Wagners reiste er ab. Aber auf dem ganzen Wege stritt er sich mit der Baronin. In Weimar gingen die Szenen weiter.

»Entweder lieben Sie mich oder Wagner«, verkündete die Baronin. »Ihre einzelnen kleinen Abenteuer schlucke ich noch, das aber nicht. Bitte wählen Sie.«

»Liebe Olga, treiben Sie die Sache nicht auf die Spitze. Ich bin immerhin ein gebrechlicher alter Mann und möchte ruhig leben. Das ist aber wirklich eine Sinnlosigkeit, daß, wenn es nun schon eine Musik gibt, die ich vergöttere, mich dann die eine von Rom, die andere in Weimar quält. Lassen Sie mich in Frieden, sprechen wir von etwas anderem.«

»Wir sprechen von nichts anderem. Bitte wählen Sie. Entweder Bayreuth mit Ihrer hochmütigen und undankbaren Tochter und mit Ihrer erniedrigenden Statistenrolle oder ich, die jeden Ihrer Gedanken errät und schon entsetzt ist, wenn Sie nur husten. Ich bin entschlossen, auch Schluß zu machen.«

»Aber bitte, womit wollen Sie eigentlich ein Ende machen? Ich bin einundsiebzig Jahre alt.«

»Reden Sie nicht. Ich bin über jeden Ihrer Zöglinge genauestens unterrichtet. Auch damit war's genug. Bitte antworten Sie auf meine Frage.«

»Meine Antwort ist, daß ich Sie sehr bitte, mich nicht zu quälen.«

»So? Es ist gut.«

Die Baronin Meyendorff packte ihre Sachen und fuhr nach Rom. Er aber eilte freudestrahlend zurück nach Bayreuth. Die letzte Parsifal-Aufführung konnte er gerade noch erreichen. Dann blieb er noch eine ganze Weile da, und zwar aus Anlaß einer großen Familienfreude. Die zweite Tochter Bülows, die jetzt achtzehn Jahre alt war, hatte ihren Lebensgefährten gefunden, und man hatte soeben ihre Hochzeit mit einem jungen italienischen Aristokraten namens Gravina gefeiert. Die Vermählung hatte stattgefunden, das junge Paar ging auf die Hochzeitsreise, er aber fuhr zurück nach Weimar zu seinen Schülern. Und noch nie hatte er Weimar so genießen können wie jetzt: durch die Abreise der Baronin wurden seine Abende frei, er konnte immer mit der Jugend beisammen sein und endlos Whist spielen. Dieses Spiel war ihm sehr ans Herz gewachsen. Und obwohl es nicht um Geld, sondern lediglich um die Ehre ging, freute ihn der Gewinn über alle Maßen, der Verlust machte ihn hingegen mißmutig. Die Schüler merkten das bald und steckten sich unter dem Tisch die einzelnen Asse zu, nur damit der Meister gewinnen sollte. Wenn er es auch sah, sagte er nichts. Er tat so, als ob er nichts gesehen hätte. Sie mochten sich ruhig ihrer Schläue freuen. Auf diese Weise bemogelten sie sich stundenlang gegenseitig voller Liebe, und ein jeder unterhielt sich köstlich.

Wenn Olga von Meyendorff jetzt in Weimar geblieben wäre, wäre er nach Rom gefahren. Die zornige Freundin aber hielt sich jetzt in Rom auf. Sowohl sie als auch Carolyne gleichzeitig in Rom vorzufinden, das war ihm zuviel. Er beschloß, in diesem Jahr überhaupt nicht mehr nach Rom zu fahren. Statt dessen reiste er zu Cosima nach Venedig.

Wagner blieb im Winter nicht gerne in Bayreuth. Dieses Jahr hatte er sich den Palazzo Vendramin ausgewählt, dessen Hausherr der Sohn der Herzogin Berry, Herzog Della Gracia, war. Dieses Palais hatte er sich gemietet. Achtzehn Zimmer waren hier pompös eingerichtet, die Bedienung brachten sie aus der Villa Wahnfried mit und nahmen auch noch Italiener an: zwei Gondolieri hielten ständig vor dem Palazzo.

Dem Großvater wiesen sie ein Zimmer an der Vorderfront zu, dessen Fenster auf den Canale Grande sahen. Jeden Tag stand er früh auf und besuchte die Messe; kaum hundert Schritt entfernt war die Kirche San Geremia. Nach der Messe ging er wieder heim, frühstückte allein und beschäftigte sich mit Briefschreiben und seinen Noten. Er konnte aber bei diesen Arbeiten die Gedanken nie so recht zusammennehmen, weil er andauernd auf Cosima wartete. Cosima kam nämlich immer um die Mittagszeit zu ihm herein, erkundigte sich, wie es ihm gehe, machte einige flüchtige Bemerkungen, ging dann wieder.

»Du bist ja fortwährend unterwegs, bleib doch ein bißchen hier. Wir wollen ein wenig plaudern. Nicht einmal eine halbe Stunde lang kann ich mit dir sprechen.«

»Ich habe jetzt keine Zeit, Papa, ich muß nach dem Mittagessen sehen, Richard ist im Essen sehr anspruchsvoll. Aber ich schicke Ihnen Daniela, wenn Sie sich langweilen. Wir werden uns schon beim Mittagessen unterhalten können.«

»Ja, aber ich bin zu Mittag nicht zu Hause, ich bin eingeladen.«

»Das tut mir sehr leid. Dann unterhalten wir uns abends.«

»Zufällig bin ich aber auch heute abend eingeladen.«

»Nun, dann sprechen wir morgen miteinander. Auf Wiedersehen.«

Cosima behandelte ihn sonderbar. Wie man es mit lästigen Greisen zu tun pflegt. Wie mit solchen, die die Hausordnung stören: die geduldige Hausfrau schluckt bloß und sagt nichts. Der Großvater fühlte, daß er die Hausordnung nur störte. Wagner war ein häuslicher Mensch und fühlte sich nur im Kreise seiner Familie wohl. Er konnte Gäste nicht ausstehen und wurde zornig, wenn ihn jemand besuchte. Er saß gerne nach dem Abendessen mit den Seinen noch zusammen und liebte es aus einem Buche vorzulesen. Alle mußten ihm zuhören, und dann wurde das Gelesene besprochen. Der Großvater hingegen liebte das Kommen und Gehen, die Gesellschaft, die Bewegung, und wenn er schon abends nicht fortging, dann wollte er unter allen Umständen wenigstens Whist spielen. Wagner mochte das Whistspiel nicht, und er ärgerte sich, wenn die gewohnte Familienvorlesung ausfiel. So hatten sie sich umsonst aufeinander gefreut; seine Anwesenheit wirkte störend. Sechs Wochen lang blieb er, dann rüstete er zur Abreise. Die Absicht seiner Reise erwähnte er zufällig in einem sehr ungünstigen Augenblick. Cosima war gerade sehr ärgerlich und gereizt. Und bei solchen Gelegenheiten liebte sie es, sarkastisch zu sein.

»Warum willst du uns verlassen?« fragte Wagner höflich. »Fühlst du dich nicht wohl?«

»Sicherlich ist die Fürstin wieder böse«, sagte Cosima spitz, »gehen wir jetzt schlafen.«

Er stand noch lange am Fenster und sah auf das Wasser hinaus. Ab und zu glitt eine späte Gondel darüber hinweg und strebte mit Gepäck und Reisenden der Santa Lucia zu.

Dann zuckte er die Achseln und trat zu seinem Schreibtisch. Eine Korrektur fiel ihm ein: in seiner neuesten Komposition verbesserte er einen Akkord. Diese Komposition hieß » La lugubre gondole«, die Trauergondel. Der Gedanke der Vergänglichkeit beschäftigte ihn jetzt ständig. Die unsichtbare Gestalt des Todes fühlte er immer neben sich. Besonders in diesem Hause. Warum? Er wußte es nicht. Die Sonne schien hier ja immer, und das Haus war auch andauernd von fröhlichem Kinderlärm erfüllt. Aber irgendeine düstere Ahnung flocht in seinem Herzen die Stimmung Venedigs und die der Vergänglichkeit ineinander. Aus seiner Tondichtung erklang die Düsterkeit des Todes inmitten der lieblichen Schönheit der Lagunen. Und während er schrieb, überlief seinen alten Körper nicht nur einmal ein Schauer, als ob er friere.

Als er abfuhr, küßte ihm Cosima die Hand, dann hielt sie ihm ihre hohe, weiße Stirn zum väterlichen Kuß hin. Im Vestibül wandte sie sich bereits ab und sah sich nicht mehr um. Wagner aber geleitete ihn über die Treppen des Palazzo Vendramin bis an die Gondel. Da sagte er lachend:

»Wir haben uns diesmal ein wenig inkommodiert.«

Er umarmte und küßte seinen Schwiegervater. Im Tor blieb er nochmals stehen. Dann zögerte er und kam abermals an die Gondel gerannt. Er umarmte ihn noch einmal, viel stärker als vorhin, und küßte ihn ergriffen und innig. Die Gondel war längst unterwegs, er stand noch immer barhäuptig am Eingang und winkte.

Franzi fuhr nach Pest und nahm seine Arbeit in der Musikakademie wieder auf. Diese Arbeit gestaltete sich immer schwieriger, denn seine alte Freundschaft zu Erkel bekam einen kleinen Riß. Aus den offiziellen Kreisen des Kultusministeriums und des Parlamentes kamen ihm Nachrichten über gereizte und ungeduldige Bemerkungen zu Ohren: viele fingen an, den Wagnerkult der ungarischen Musikakademie für übertrieben und das Ungartum der einzelnen Lehrstühle, insbesondere das des Klavierfaches, für unzulänglich zu halten. Man konnte Bemerkungen hören, wie: »Was brauchen wir denn Wagner, wenn wir einen Erkel haben?«. Die bislang versteckten, aber eindringlichen Stimmen gegen Liszt fanden nunmehr in der Person Erkels die lebendige Parole für ihren Kampf. Und Erkel, der seinem Vaterlande nationale Opern und Hymnen geschenkt, seinen Fuß nie aus seinem Vaterlande gesetzt hatte, vom Scheitel bis zur Sohle Ungar war und trotzdem sein ganzes Leben lang hatte fühlen müssen, daß er neben diesem weltberühmten Manne auf dem zweiten Platze stand, vernahm diese Stimmen nicht mit Widerwillen. Die Klugheit und der vornehme Takt Johannes Véghs nahmen dem scharfen Ton zwar stets die Spitze, in der Führung der Akademie fehlte aber jetzt der begeisterte, schwungvolle Gleichklang, der sie bei der Eröffnung beseelt und ihr so eine große Kraft verliehen hatte.

In seinen Schülern und in der Gesellschaft fand er um so mehr Freude. Er war viel im Salon der Geschwister Wohl. Johanna und Stefania Wohl, die beiden weitgereisten Schwestern, verstanden es sehr gut, die Spitzen der vornehmen Gesellschaft mit den Berühmtheiten der Künstlerwelt geschickt zusammenzubringen. Ebenso vornehm, wenn nicht noch vornehmer, war der Salon der schönen Emma Földváry, wo man hauptsächlich dem General Türr und den aus dem Auslande ab und zu heimkehrenden Malern Munkácsy und Hubay begegnete. Oft besuchte der Abbé auch den Abtpfarrer Schwendtner, in dessen Hause hauptsächlich ein sehr schön singender junger Mann namens Sigmund Ráth seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er wollte Opernsänger werden, seine vornehme Familie zwang ihn jedoch in die juristische Laufbahn. Auch in der Familie Juhász verkehrte der Greis weiterhin, traf oft mit Jókai zusammen, der Bildhauer Strobl meißelte seine Büste, Maurus Than malte ihn. Auch ein Mitglied der gräflichen Familie Nemes, die Frau des Grafen Ferdinand Nemes, die am Christophplatz wohnte, porträtierte ihn. Die Gräfin war eine Ausländerin, Tochter des Chefs der Wiener Kabinettskanzlei Baron Ransonnet-Villez; sie war eine begabte Malerin, spielte sehr talentiert Klavier, und in ihrem Atelier in der ersten Etage konnte man auch sonst angenehme Stunden verbringen. Des weiteren hielt er seine Freundschaft mit dem Grafen Apponyi und dem Grafen Gézá Zichy aufrecht, die er in ihrem Schloß in Tet oft besuchte, er war aber auch Gast der gräflichen Familien Zichy, Sztáray und Széchenyi. Manchmal lud ihn auch der Graf Tassilo Festetich ein, ein Grandseigneur europäischen Rufes, der die Herzogin Hamilton, die Frau des Herrschers von Monte Carlo, von ihrem Manne getrennt und dann geheiratet hatte. Graf Festetich war ein großer Musikfreund und nahm auch an der Anteilscheinbewegung für Bayreuth teil. Der greise Kanonikus aß an dem einen Tage in diesem vornehmen Hause hinter dem Nationalmuseum zu Mittag, am anderen Tage ging er zu dem Musikverleger Táborszky ins Degre-Haus in der Kalapstraße und tätschelte dem Sohne die Wangen, wenn er ihn traf. Am nächsten Tage war er wieder in jenem Hause am Oktogon, in dem der Oberstaatsanwalt Alexander Kozma und Graf Leo Festetics nebeneinander wohnten.

Denn mit Leo Festetics war er wieder genau so befreundet wie früher in den alten Zeiten. Er war niemandem mehr böse. Er begegnete auch Joachim in Pest, dem altgewordenen Geigenkünstler, der hier ein Konzert geben wollte. Er begrüßte ihn und reichte ihm die Hand. Die Vorkämpfer der Sache, die Joachim einst verraten hatte, konnten ihm jetzt ja den Verrat verzeihen. Wagners Musik wurde schon in ganz Europa gespielt, und Bayreuth war der musikalische Mittelpunkt der Welt geworden.

Mit seinen Schülern verbrachte er vier Nachmittage in der Woche. Aladar Juhász, den er jetzt bereits als vollendeten Klavierkünstler ansehen konnte, versah an seiner Seite das Amt eines Assistenten; er konnte ihn sogar innerhalb kurzer Zeit zum ordentlichen Professor ernennen lassen. Die jungen Leute entwickelten sich sehr schön, er hatte viel Freude an ihnen. Und unter ihnen tauchte auch ein deutsches Mädchen auf, Lina Schmalhausen, die ihm ebenfalls hierher nachgefahren war.

Eine fröhliche, tapsige, gesegnet gute Seele war diese Lina. Sie begann wie alle anderen damit, daß sie den Meister anschwärmte. Dann machte sie es ebenso wie Olga Janina: auch außerhalb der Stunden besuchte sie ihn dauernd. Und schüchtern begann sie darauf anzuspielen, daß das, was sie dem Meister gegenüber empfände, etwas mehr wäre, als künstlerische Schwärmerei. Als dann die Anspielungen unmißverständliche Liebeserklärungen wurden, streichelte der Greis traurig lächelnd die gesunden runden Schultern des Mädchens.

»Was willst du von mir, mein Kind? Ich bin einundsiebzig Jahre alt.«

Als Antwort schmiegte sich das junge Mädchen an ihn und zog sein greises Haupt zu sich. Stürmisch küßte sie ihn. Er ließ es geschehen, sie schmiegte sich an ihn, streichelte, küßte und liebkoste ihn unermüdlich. Und in dem alten Löwen regte sich das einstige Blut, die alte Kraft. Als er sie an sich drückte, verklärte sich das junge Mädchen sieghaft mit einem glücklichen Seufzer in der späten Liebe des alten Mannes.

Von da an widmete Lina Schmalhausen ihr ganzes Leben dem Greis. Mit mütterlicher Zärtlichkeit umgab sie den wie ein Kind der Pflege bedürftigen Alten. Spiridion war nicht mehr im Hause; durch die Liszt-Locken hatte er sich ein kleines Vermögen verdient und in Weimar einen Zigarrenladen eröffnet. Jetzt diente ein junger Italiener Achille bei ihm. Diesem gab Lina nunmehr die Anleitungen. Lina zählte die Wäsche und gab sie zum Waschen, Lina bestellte das Mittagessen für den anderen Tag, Lina kaufte Kaffee und Zucker ein, Lina wusch jede Woche das noch immer dichte weiße Haar des alten Meisters und saß solange neben ihm, bis die mächtige Mähne trocken geworden war, damit der Alte die Wohnung nicht etwa verließ und Schnupfen bekam. Der schwerfällig sich bewegende Kanonikus jedoch sah mit einer heimlichen aber unbändigen Eitelkeit in die Welt. Er war einundsiebzig Jahre alt und hatte eine Geliebte.

Eines Tages, früh am Morgen, besuchte ihn Johannes Végh auf der Musikakademie. Er mußte ihn in einer Angelegenheit des Professorenkollegiums sprechen, und als die offiziellen Sachen erledigt waren, verabschiedete sich Végh noch nicht.

»Ich möchte Ihnen noch etwas sagen, Meister. Ich hätte noch eine große Bitte: achten Sie besser auf Ihre Gesundheit, die uns allen sehr teuer ist und die der Meister ein wenig verschwendet. Ich mache nicht gerne grobe Andeutungen, heute früh aber sehen Sie ungewöhnlich müde aus.«

Der Greis errötete. Er wußte, warum er gerade heute morgen so müde war. Die Bemerkung hatte ihn ins Herz getroffen. Er erwiderte etwas gereizt:

»Worauf soll ich noch aufpassen? Ich bummle die Nächte nicht durch, ich lebe anständig. Was soll ich noch tun?«

»Erstens einmal rauchen Sie viel zu viel Zigarren. Dann dieser viele Alkohol, der schwere Rotwein mit Kognak gemischt, und dann die Frauen. Das kann man ja nur kopfschüttelnd mit ansehen. Es ist ausgeschlossen, daß alles das Ihr Leben nicht verkürzen sollte. Im Hinblick auf die zwischen uns bestehende innige Freundschaft darf ich Sie vielleicht bitten, etwas mehr auf sich achten zu wollen.«

Der alte Domherr reckte beglückt seinen krummen Rücken. Es schmeichelte ihm, daß man ihn für solch einen Teufelskerl hielt.

»Ich bin ein armer, alter Sünder, mein lieber Freund, was soll ich machen? Einundsiebzig Jahre lang habe ich mit meinem Leben gewüstet, und bis jetzt hat es nichts geschadet. Was noch übrig ist, warte ich nun schon so ab. Sprechen wir von etwas anderem. Die jungen Schüler kommen sehr schön vorwärts. Wissen Sie, es gibt kaum eine größere Freude, als sich an der Jugend zu ergötzen. Wenn ich auf alle die zurückblicke, die ich unterrichtet habe, dann bin ich wirklich stolz.«

»Wen halten Sie für Ihren größten Schüler?«

»Bülow. Er ist vorzeitig zusammengebrochen. Aber nachdem er sich wieder vermählt und die Schauspielerin Marie Schanzer geheiratet hat, wird er sich vielleicht wieder finden. Er ist die größte Klavierbegabung, die ich kenne. Selbstverständlich waren außer ihm auch noch andere sehr begabt. Ein früherer Schüler von mir fällt mir jetzt öfter ein, den ich vor nunmehr fast fünfzig Jahren als Professor an das Genfer Konservatorium gebracht habe, obwohl er damals beinahe noch ein Kind war. Ich mochte ihn sehr gerne, er war ein entzückender Fratz, ich habe ihn nur Putzi genannt … wie war denn nur gleich sein Familienname … es ist wirklich unangenehm, daß mich mein Erinnerungsvermögen seit einiger Zeit so verläßt … na, gleichviel, sein Familienname fällt mir nicht ein, obwohl ich ihn auf der Zunge habe … Mit einem Wort, dieser Junge verfiel in religiösen Wahn, wurde Mönch, gab die Musik auf, und als er im deutsch-französischen Kriege ansteckende Kranke gepflegt hatte, starb er. Ist es denn nicht ärgerlich, daß mir sein Name nicht einfällt …«

Er dachte angestrengt nach, aber der Familienname Putzis wollte ihm nicht einfallen. Sein Gehirn machte nicht mehr mit. Er hatte in letzter Zeit öfters erlebt, daß sein Geist spürbar schwächer wurde. An diesem Morgen war aber sein Kopf ganz besonders dumpf und hohl. Végh hatte sich schon von ihm verabschiedet, er aber grübelte immer noch über diesen Namen. Dann fiel ihm Lina ein. Er zuckte die Achseln. Der Teufel mochte diesen Familiennamen holen. Wer so beschaffen ist, daß er sein ganzes Leben zwischen Frauen verbracht hat, muß das in seinem Alter büßen. Und ein Leben mit Küssen mag lieber kürzer sein als länger und freudenlos.

Er nahm seinen Vormerkkalender vor und sah nach, was vorgemerkt stand. Achtzehnhundertdreiundachtzig, der fünfzehnte Februar: Abendessen beim Grafen Alexander Apponyi. Darauf freute er sich. Graf Alexander war das Enkelkind seines einstigen Gönners, des Botschafters in Paris, und heute schon selbst ein verheirateter Mann. So verging die Zeit.

Da klopfte es, aber die Türe wurde sogleich auch aufgerissen. Mit schreckerfülltem Gesicht trat Cornelius Abrányi ein, weil er so gerannt war, noch immer keuchend.

»Meister, eine fürchterliche Nachricht: Wagner ist gestorben!«

»Aber nein«, erwiderte er, »woher haben Sie diesen Blödsinn?«

»Ich habe es von zehn verschiedenen Leuten gehört, die ganze Stadt spricht darüber.«

»Aber bitte, sowohl von ihm als auch von mir hat man das schon oft verbreitet. Mich hat die Presse in Paris sogar schon totgesagt. Wagner ist in Venedig und fühlt sich ganz prächtig.«

Da klopfte es abermals und Táborszky, der Musikverleger, kam hereingestürzt.

»Meister, Wagner ist gestorben. Hier steht es im Extrablatt.«

»Zeigen Sie her!«

»Einer telegraphischen Nachricht aus Venedig zufolge ist Richard Wagner dort gestern in seinem neunundsechzigsten Lebensjahr gestorben.«

»Das ist unmöglich. Wenn jemand, so mußte ich es doch wirklich wissen. Rufen Sie mal den Achille herein.«

Der Diener kam. Der alte Domherr setzte ein Telegramm in französischer Sprache auf: »Cosima Wagner, Palazzo Vendramin, Venezia. Wie gehts Wagner? Telegraphische Antwort erbittet Liszt.« Der Diener lief mit dem Telegramm zur Post, und er ging in angstvoller Verwunderung mit sich selbst zu Rate. Das war doch unmöglich. Er hatte ja noch nicht einmal davon Nachricht erhalten, daß Wagner krank war. Cosima hätte ihn auf alle Fälle benachrichtigt. Kaum war der Diener fort, kam der Depeschenbote. Er öffnete das Telegramm aufgeregt: der Großherzog von Weimar sprach seine Anteilnahme aus. Nach einer halben Stunde abermals ein Telegramm: die Baronin Meyendorff drückte ihm ihr Beileid aus. Dann kamen auf einmal vier Telegramme, dann zehn. Was war das?

Nachmittags traf die telegraphische Antwort aus Venedig ein: »Mama bittet nicht hierherzukommen, sondern ruhig in Pest zu bleiben. Nehmen Leichnam über München und von dort nach kurzem Aufenthalt nach Bayreuth mit. Daniela.«

Mit diesem Telegramm schloß er sich ein. Er wollte allein sein, um seine Lage zu überdenken. Cosima hatte ihn also ohne Nachricht gelassen. Sie hatte es nicht für erforderlich gehalten, sich mit ihrem Schmerz an ihren Vater zu wenden. Und jetzt wünschte sie auch seine Anwesenheit beim Begräbnis nicht. Beim Begräbnis dieses Mannes, in dessen Dienst er sein ganzes Leben gestellt hatte. Andere würden da sein, Herrscher, das ganze deutsche musikalische Leben, alle. Nur er nicht, Franz Liszt. Also gut. Er schluckte, um das in seiner Kehle aufsteigende Schluchzen zurückzudrängen, und blieb.

Als es Abend wurde, legte er sein festliches Priestergewand an und ließ sich einen Wagen kommen. Dem Kutscher nannte er die Adresse Alexander Apponyis. Erschüttert sah er unterwegs sich selbst in seiner Seele. Jenes Stück fiel ihm ein, das er damals im Palazzo Vendramin komponiert hatte: » La lugubre gondole.« Diese Gondel, die er vorausgeahnt hatte, führte vielleicht gerade jetzt den toten Wagner nach Santa Lucia. Wagner liegt unbeweglich im Sarg, und Cosima sitzt in tiefer Trauer neben ihm. Und ergriffen fühlt er, daß in diesem Gedanken für ihn etwas Erlösendes ist. Entsetzt zwingt er sich, dem Dämon in die Augen zu sehen, der jetzt in seiner Seele sitzt. Was war das? Er war doch nie in seinem Leben ein schlechter Mensch, warum tobte er jetzt nicht vor Schmerz und Trauer? Warum dachte er jetzt an Cosima mit einem fast sündhaften Gefühl der Schadenfreude? Er verstand sich selbst nicht. Aufgewühlt und zerrissen saß er im Fond des Wagens.

Am Hause des Grafen Apponyi wunderte ihn, daß kein äußerliches Zeichen die Einladung verriet. Zu anderen Malen hielten eine ganze Reihe vornehmer Kutschen in der Nähe des Hauses. Er läutete. Er mußte lange warten, bis der Pförtner kam.

»Findet das Abendessen nicht heute statt? Habe ich den Tag verwechselt?«

»Bitte, Hochwürden, der Graf hat wegen des Todesfalles allen abgesagt.«

»Das verstehe ich nicht, mir hat er nicht abgesagt.«

»Nein, bitte, ich habe die Briefe befördert und der Herr Graf hat mir noch gesagt, Eure Hochwürden dürfe man heute nicht stören.«

»So. Also sagen Sie dem Herrn Grafen, daß ich ihn grüßen lasse.«

Er setzte sich zurück in den Wagen und nannte die Adresse von Mihalovics. Dieser fühlte sich nicht wohl und hatte sich schon niedergelegt. Er stand aus dem Bette auf, um ihm die Türe zu öffnen.

»Seien Sie mir nicht böse, daß ich Sie störe. Die Abendgesellschaft Apponyis ist abgesagt worden, und es wäre für mich heute fürchterlich, mit meinen Gedanken allein zu bleiben …«


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