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Zweites Kapitel

Der schöne Plan ließ sich aber nur sehr schwer durchführen. Im Labyrinth des Vatikans fanden sich selbst die nur mit Mühe zurecht, die sozusagen darin aufgewachsen waren. Wieviel weniger sie beide, Franzi und die Fürstin, die Neulinge waren. Es war ihnen unmöglich, den Wirkungskreis des Einzelnen festzustellen. Keiner faßte einen Entschluß in seinem Ressort, denn die Stellungen in dem nun schon lange Jahre währenden höfischen Zweikampf zwischen dem Kardinal Merode und dem Staatssekretär-Kardinal Antonelli änderten sich jede Woche auf dem Schachbrett, die Mitkämpfer der beiden Parteien wechselten immer wieder von dem einen zum anderen hinüber. Was der eine in zeitraubender und mühseliger Arbeit aufgebaut hatte, das konnte in einem einzigen Tage wieder zusammenfallen, weil sich irgendein Kämmerer der Partei des anderen Kardinals angeschlossen hatte. Und dann konnte man alles wieder von vorne anfangen.

Franzi merkte mit einem Male, daß er in das Netz der höfischen Intrigen geraten war. Das einmal Begonnene mußte weitergeführt werden. Damit waren Besuche verbunden. Er mußte seine Beziehungen pflegen. Und wenn er nur zögernd vorging, denn er wollte die im Kloster Rosario gefundene mildernde Ruhe nicht wieder aufgeben, so verhielt Carolyne sich anders. Mit einer leidenschaftlichen Zähigkeit blieb sie auf der Spur, bei jeder Gelegenheit lud sie neue und immer wieder neue Würdenträger des Vatikans ein. Wenn sie Franzi erwartete, so spähte sie täglich nach den vertraulichen Nachrichten aus dem päpstlichen Hofe und notierte die kleinste Änderung in der Umgebung des Papstes. Dieses Treiben, dieses Haschen nach Verbindungen und Nachrichten, all die tausendfachen, den Kirchenfürsten bezeugten kleinen Aufmerksamkeiten führten zu nichts. Monate vergingen, aber Franzis Ernennung zum Leiter der gesamten Kirchenmusik ließ immer noch auf sich warten. Dadurch ging begreiflicherweise auch die Komposition des Christus-Werkes langsamer vonstatten, und auch von der vollkommenen klösterlichen Abgeschiedenheit, die ihn monatelang so beglückt hatte, war keine Rede mehr.

Das bedeutete ihm aber eine wichtige Offenbarung: den seelischen Frieden findet man tatsächlich nur in einer Mönchszelle. Die Mauern dieser Zelle müssen sich aber in der eigenen Seele erheben. Die Wände der Seele müssen jeden Drang nach Vorwärtskommen, jeden Plan und jedes Ziel außer dem einen: Gott nahezukommen, ausschließen. Der ist ein wahrer Mönch, der – in jedem weltlichen Beruf – mit jeder Äußerlichkeit abgerechnet hat und nur Gott und nichts anderes sucht. Wie mancher aber wohnt ganz umsonst im Kloster, peinigt sich umsonst mit Stachelgürtel und Bußübungen tagelang: wenn er noch etwas von der Welt will, so ist es mit der vollkommenen Ruhe seiner Seele vorbei.

Auch mit seiner Ruhe war es vorbei. Und wenn er sie auch einem sehr schönen Plan opferte, so mußte er befürchten, daß er es umsonst tat. Er besuchte wieder Gesellschaften, er ging wieder täglich in die Stadt, in seinem Kalender häuften sich wieder die vorgemerkten Einladungen.

Im Hause eines Diplomaten geschah es, daß eine der eingeladenen Damen sich ans Klavier setzte. Er befand sich in einem Nebensaale, als aber die regelmäßigen gedrängten Töne an sein Ohr drangen, erhob er sich sofort und kam herüber. Er mußte wissen, wer da spielte. Am Klavier sah er eine katzenartig biegsame Fran sitzen. Sie war von bestechendem Wuchs, ihre Haut war schneeweiß und ihr Haar kohlrabenschwarz. Schon während des Abendessens hatte er sie gesehen, sie aber noch nicht gesprochen. Er erkundigte sich, wer die Dame am Klavier sei. Man teilte ihm mit, es sei die Frau eines Attachés bei der russischen Gesandtschaft in Rom, eine Baronin Meyendorff, die Tochter jenes Fürsten Gortschakow, der sich im Krimkrieg so tapfer geschlagen habe. Ihr Mann sei der engbrüstige elegante Herr, der dort in der Ecke zusammen mit der Hausfrau und dem Baron Bach säße.

Als die Dame ihr Klavierspiel beendet hatte, trat Franzi zu ihr hin:

»Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Spiel, Baronin. Ich habe selten ein so ausgeglichenes Spiel von nichtberufsmäßigen Klavierspielern gehört.«

»Ich danke, mir ist selten eine so wertvolle Anerkennung von einem berufsmäßigen Klavierspieler zuteil geworden.«

»Ich bin kein Klavierspieler mehr. Ich war es, einst zu Zeiten Ihres Onkels in Paris.«

»Onkel? Welcher Onkel?«

»Ich meine jenen Baron Meyendorff, der vor dreißig Jahren in Paris wohnte und mit dem ich im Salon der Gräfin D'Agoult oft zusammengekommen bin.«

»Was Sie sagen! Das ist aber eine interessante Begegnung. Felix, komm' mal her.«

Der junge Mann erhob sich. Alsbald waren sie in ein Gespräch über Familie und Verwandtschaft vertieft. Sie fanden noch eine ganze Reihe gemeinsamer Bekannter, und Franzi frischte nacheinander seine höfischen Erinnerungen auf. Als sie sich verabschiedeten, mußte Franzi versprechen, die Baronin zu besuchen, um sich mit ihr am Klavier über Musik zu unterhalten.

Er machte ihr auch seine Aufwartung. Er fand sie allein. Der Baron war durch die Geschäfte der Gesandtschaft abgehalten. Und schon bei der ersten Zusammenkunft waren sie bei dem früher oder später doch fälligen Gesprächsthema, bei der Liebe, angelangt. Die schwarze Frau betonte, ostentativ, wie es jene verheirateten Frauen zu tun pflegen, die die große Leidenschaft suchen, wie sehr sie an ihrem Manne hinge.

»Wissen Sie, Felix ist gar nicht mein Mann, sondern ich könnte eher sagen, mein Kind. Er will gepflegt und verwöhnt werden. Seine Lunge ist nicht ganz in Ordnung. Nach einem Aufenthalt in Stuttgart haben wir, bevor wir hierher gekommen sind, ein Jahr lang in Ägypten wohnen müssen. Ich liebe ihn auch mit jener mütterlichen Wärme, mit der man seine Kinder zu lieben pflegt. Ich habe eigentlich zwei Söhne, einen achtjährigen und einen erwachsenen.«

»Einen Mann haben Sie also demnach nicht?« fragte Franzi und griff nach ihrer Hand.

»Sie fragen zu viel«, entgegnete Olga von Meyendorff und entzog ihm ihre Hand.

Diese Geste war aber von einem Blick begleitet, der die Zukunft ihrer Beziehungen zweifelsfrei voraussagte. Franzi zog seinen kleinen Rasierspiegel hervor, als er ins Kloster zurückgekehrt war, – denn ein anderer Spiegel war in seiner Zelle nicht vorhanden, – und unterzog sein, von markanten, harten Zügen gezeichnetes, starknasiges, warziges Gesicht einer scharfen Kritik. »Kann ich noch gefallen?« fragte er den Spiegel. Und aus dem Spiegel antwortete ihm der hochmütige Blick eines Augenpaares, in dem das starke Selbstbewußtsein des Weltberühmten leuchtete. Nichts vermag eine Frau so anzuziehen wie der Ruhm. Sie sehnt sich danach, daß ein Lichtstrahl von ihm auch auf sie falle und sie hell erstrahlen lasse. Sie schmiegt sich dort an, wo ihr dieser Glanz zuteil wird. Und glückselig belohnt sie den Spender dieser Freuden, wenn sie sich nur in seinem Glanz sonnen darf.

Nach einigen Wochen hatten sie zueinander gefunden. Olga von Meyendorff stürzte sich mit der ganzen Leidenschaft suchender Liebe, wie sie nur den russischen Frauen eigen ist, in dieses Verhältnis, zugleich aber auch mit jener Eitelkeit, die das Benehmen der zu berühmten Männern gehörenden Frauen so verdächtig macht. Sie begnügte sich nicht mit den verborgenen Freuden geheimer Zusammenkünfte, sie bestand darauf, daß man sie mit dem berühmten Manne immer öfter zusammen sehe. Bei anderen derartigen Abenteuern ist es meistens die Frau, die sich zu verraten fürchtet, hier mußte Franzi fortwährend darauf achten, daß sie nicht auffielen. Er wollte dem liebenswürdigen, gutmütigen Ehemanne keine Schmerzen zufügen, und auch Carolyne wollte er nicht beunruhigen. Er konnte sich den Versuchen der temperamentvollen Olga, sich dauernd gemeinsam mit ihm zu zeigen, nicht oft genug widersetzen.

Ihretwillen trat er sogar öffentlich auf, nach so langen Jahren das erstemal.

»Ich will Sie sehen«, bat Olga, »wenn man Sie feiert. Ich will dabeisitzen und stolz auf Sie sein.«

Er sträubte sich noch. Aber schon nicht mehr aus voller Überzeugung. Auch in ihm gärte wieder die Sehnsucht, auf dem Podium zu stehen und diese Frau mit seiner Titanengröße zu blenden. Und das Sonderbarste war, daß das entscheidende Wort hierzu Carolyne aussprach. Vorsichtig schnitt sie den Gedanken an, daß der Heilige Stuhl pekuniär sehr schlecht stünde und daß jede Hilfe augenblicklich sehr hoch anerkannt würde … Vielleicht könne man ein Konzert veranstalten, dessen Programm Franzi zusammenstellen, und zu dem er auch die Mitwirkenden auffordern würde … Das Richtige wäre es ja erst, wenn – sie getraue es sich kaum zu sagen – wenn Franzi ein einziges Mal dem Papst zuliebe auf seinen alten Standpunkt verzichten und einmal öffentlich Klavier spielen würde … Als sie es ausgesprochen hatte, sah sie ihren Freund feige an. Und sie war höchst erstaunt, als Franzi zustimmend nickte:

»Sie haben recht, ich werde Klavier spielen.«

Alles andere ging dann von selbst. Der Kardinal Antonelli stellte jede Mithilfe des päpstlichen Hofes dem Konzert gerne zur Verfügung. Es wurde im großen Saale der neuen Kaserne veranstaltet, und zwar ausschließlich zugunsten des Peterpfennigs. Im Programm waren noch der päpstliche Chor und das Orchester verzeichnet, desgleichen vier Kardinäle, die längere oder kürzere Vorträge hielten. Die Eintrittspreise waren sehr hoch bemessen, der Saal war aber trotzdem bis auf den letzten Platz ausverkauft. Und das erlauchte Publikum, die Elite Roms, empfing den bisher größten Pianisten der Welt mit stürmischem Applaus.

Er stand im Frack auf dem Podium, an Hals und Brust seine sämtlichen Orden. Er wußte, daß seine Figur heute noch einwandfrei war. Er warf seinen Kopf in den Nacken, hob seine Brust, seine Schlankheit hatte sich seit zwanzig Jahren nicht geändert. Dann setzte er sich ans Klavier. Er neigte den Kopf nach rückwärts und schüttelte die dichte weiße Mähne. Und er griff noch immer nicht in die Tasten, schwelgerisch zögerte er diesen Augenblick hinaus, genoß die gespannte Stille, diese für die anderen so erregenden, für ihn so erhebenden wenigen Minuten. Dann schlug er an. Nach den ersten Takten meinte er ein leises Aufzischen zu hören, als ob die Masse von einem wollüstigen Entsetzen erschüttert worden wäre. Er hielt den Kopf hoch, er stierte auf eine hochgelegene Stelle der Seitenwand, mit unbeirrbarem Gefühl glitt seine Hand die Tasten entlang.

Er spielte nur kirchliche Musik. Er hatte aber damit einen tobenden weltlichen Erfolg. Als er abermals vor dem Publikum stand und, seine Hand gegen die Brust gedrückt, sich verbeugte wie der geschmeidigste Höfling vor seiner Dame, bedauerte er, daß er schweigen mußte. Am liebsten hätte er diesem bis zum Brechen vollen Saal zugeschrien: seht Ihr, das habe ich unterlassen, um etwas noch viel Größeres vollbringen zu können, denn glaubt mir, Komponieren ist viel, viel mehr als Klavierspielen. Sein Blick blitzte auch dorthin, wo Olga saß. Die schöne Frau spendete ihm mit gestreckten Händen Beifall. Und er nickte ganz unmerklich mit dem Kopfe wie ein den Tribut entgegennehmender König.

Das Konzert brachte zwanzigtausend Franken für den Peterspfennig. Die Kardinäle kamen nacheinander zu ihm gelaufen, um ihm die Hand zu drücken. Es kamen aber auch andere, eine dichte Menschenmasse umlagerte ihn, bewundernde und entzückte Rufe schwirrten um ihn herum, und mit einem Male schlug über ihm der aus der Vergangenheit aufsteigende schwere Duft des Rausches seiner Virtuosenjahre zusammen. Damit kehrte er heim auf den Monte Mario in seine Klosterzelle. Und als er sich dort befrackt und müde auf einen schlichten Stuhl sinken ließ, sann er über seine sonderbare Lage nach. Er bemühte sich, den Mann vor sich, der hier in den einsamen Mauern der Zelle saß, wie einen Fremden zu betrachten. Auf dem Klavier das dicke Notenbündel der Christus-Symphonie, an der Wand das Weihwasserbecken, über dem Bett das Kruzifix, auf dem Nachttischchen die Bibel und der Rosenkranz … Was suchte dieser befrackte, ordengeschmückte Mann hier, der aus dem Dröhnen des Beifalls kam und die frische, heiße Erinnerung an die Umarmung Olga Meyendorffs mitbrachte? Eine ernste Trauer übermannte ihn. Diese vergangenen Monate, wo es auf der Welt für ihn nichts anderes gegeben hatte als Gott und die Musik, waren so schön gewesen. Wie schade, daß das ein Ende genommen hatte. Und ob man einst diesen glückseligen, durchgeistigten inneren Frieden nochmals zurückerlangen würde?

Einige Tage später, als er nach einem mit der Baronin verbrachten verschwiegenen und stürmischen Stelldichein zur Fürstin ging, erwartete ihn dort eine überraschende Nachricht.

»Mein Mann ist gestorben«, sagte Carolyne ohne jede Einleitung.

Fürst Nikolaus Sayn-Wittgenstein war in Rußland gestorben, er war ein noch junger Mann gewesen, aber sein ausschweifender Lebenswandel, der die Kerze auf beiden Seiten zugleich brennen ließ, brachte ihn früh zur Strecke. Seine Frau wurde nunmehr auch nach den Gesetzen der Kirche frei. Sie konnte heiraten, sie war Witwe.

»Wann lassen wir uns trauen?« fragte Franzi ruhig.

»Wir lassen uns nicht trauen. Ich habe mir das schon überlegt. Gott will es nicht.«

Franzi schob seinen Sessel neben Carolyne und legte seinen Arm um ihre Schultern.

»Hören Sie mal zu, Carolyne. Wenn mich jemand auf dieser Welt kennt, so sind Sie es. Sie wissen, was für mich Pflicht und Verantwortung bedeuten. Sie haben meinetwegen alles verloren: Ihre Jugend, Ihr Vermögen, Ihr Vaterland, Ihre gesellschaftliche Stellung, und vielleicht bin ich auch daran schuld, daß Sie mit Ihrer Tochter nicht mehr zusammenkommen. Das alles bin ich Ihnen, der Allerbesten, Allerliebsten und für mich Teuersten, schuldig. Ich bitte Sie herzlichst, erlauben Sie mir, diese Schuld zu sühnen. Wenn ich dem nicht entsprechen kann, dann wissen Sie am besten, welch fürchterliche Last für mein Verantwortungsbewußtsein das bedeutet.«

Carolyne wiegte langsam ihren Kopf hin und her. Dann blickte sie auf:

»Kannst du mir schwören, daß du mich noch immer liebst? Schwöre mir jetzt gleich bei den sieben Wunden Christi.«

Franzi schwieg erschrocken. Die Fürstin fuhr fort:

»Siehst du, du willst das Sakrament der Ehe aus Pflicht und Verantwortung auf dich nehmen. Das lasse ich nicht zu. Aus Pflicht sollst du mich nicht heiraten.«

»Aber Carolyne, glauben Sie mir, die ganze Wärme meines Herzens …«

Die Fürstin hob ihre Hand:

»Jetzt ist es schon zu spät, Franzi. Jetzt ist es auch schon zum Schwören zu spät. Ich kann so nicht Ihre Frau werden. Was mich betrifft, ich könnte es. Ich bin heute ebenso verliebt in Sie wie zu Anfang der Altenburger Zeiten. Mich hat der liebe Gott so geschaffen, daß ich in meinem Leben nur einen Mann lieben sollte. Diesem bin ich spät begegnet. Warum das so richtig war, weiß ich nicht, das weiß nur die Vorsehung. Ich neige mein Haupt vor der Vorsehung. Wir werden uns beide nebeneinander schön vertragen, ich habe mein Ziel ebenso gefunden wie Sie. Verstehen wir uns richtig: das eine meiner Ziele. Denn das andere bleiben Sie für mich bis zu meinem Tode. Ich werde neben Ihnen bleiben, ich werde Sie auch weiterhin quälen, wenn Sie viel trinken, ich werde Sie auch weiterhin zur Arbeit antreiben und ununterbrochen auf Ihr Seelenheil bedacht sein. Sagen Sie jetzt kein einziges Wort, geben Sie mir einen Kuß und gehen Sie nach Hause.«

Zutiefst in seiner Seele gerührt, gehorchte Franzi. Er küßte sie wie das Kind seine Mutter, zart wie ein Hauch. Dann ging er. An der Piazza di Spagua nahm er sich einen Mietwagen. Und während der Wagen mit ihm zur Stadt hinaustrottelte, dachte er über die Fürstin nach. Er kannte ihren lächerlichen Aberglauben, ihre altjüngferlichen Mucken, ihre ungerechte Ungeduld einzelnen Menschen gegenüber und ihre unzähligen anderen Fehler. Mit einem Male schwang sich diese Frau aber mit allen ihren Fehlern zu einer Höhe menschlicher Güte und Treue empor, die ihn mit größter Achtung erfüllte. Und er war sich darüber im klaren: was auch mit seinem Leben geschehen, was ihm das Schicksal noch auferlegen mochte – mit dieser Frau würde ihn eine tiefe innige Zuneigung bis zu seinem Tode verbinden.

Sein Leben lief weiter in aufgescheuchter Unruhe. In seine Arbeit konnte er sich nicht mehr so vertiefen wie einst. Wenn er arbeitete, rief ihn die äußere Welt, Einladungen fielen ihm ein, die Umarmungen Olga Meyendorffs lockten. Und wenn er an von Kerzenglanz schimmernden Soiréen teilnahm oder in seiner Wohnung in einer versteckten Seitenstraße Olga in seine Arme nahm, verspürte er eine müde Sehnsucht nach der Stille und dem Frieden seiner weißgetünchten Zelle. Was zwischen ihm und Carolyne geschehen war, das hatte außer dem päpstlichen Oberkämmerer Gustav Hohenlohe niemand erfahren. Franzi begegnete ihm oft, Carolyne nie, und der aristokratische Kirchenfürst, dessen Bruder Carolynes Tochter geheiratet hatte, konnte seine verräterische Freude nicht verheimlichen, als Franzi ihm erzählte, daß sie auf eine Ehe nunmehr endgültig verzichtet hätten. Aus der Freude dieses vornehmen Geistlichen leuchteten die verborgenen Gedanken nur zu offensichtlich hervor: er war der Diener Gottes, ja, in seinem Blut aber doch der Fürst, der vornehme und hochmütige. Namen und Rang seiner Familie hielt er mit einem ihm angeborenen Stolz hoch, die Zurückhaltung seiner Kaste ließ ihn qualvoll vor dem Gedanken zurückschrecken, daß sich im Gothaer Almanach zu den Namen der Hohenlohe-Schillingsfürst und Sayn-Wittgenstein noch ein dritter, bürgerlicher, gesellen sollte, wenn der auch weltberühmt war … Franzi durchschaute sehr wohl die Liebenswürdigkeit, die fast freundschaftlich warme Anteilnahme, mit der der Bischof Hohenlohe ihrer beider Standpunkt kräftig beipflichtete. Über diese Einstellung einer aristokratischen Familie gegen eine Eheschließung mit ihm war sein Blut früher einmal in Wallung geraten. Heute war er darüber schon hinaus, sein Name wurde seit dreißig Jahren nur in Verbindung mit den Namen aristokratischer Damen genannt, die Eitelkeit seiner Jugend war schon seit langem gesättigt.

Es gab aber jemanden, dem er seine Seele offenbaren konnte: Haynald war unerwartet in Rom aufgetaucht.

Das Haus Habsburg hatte sich in diesem gelehrten Kirchenfürsten sehr getäuscht. Im Jahre 1849 hatte der revolutionäre Kultusminister Michael Horváth ihn aus der Graner Diözese entfernt, weil er nicht geneigt war, die Absetzung der Habsburger von der Kanzel zu verkünden. Während der Herrschaft Bachs hatten die dankbaren Habsburger ihn deshalb flugs zum Bischof von Siebenbürgen ernennen lassen. Und in Wien betrachtete man den jungen Bischof von Siebenbürgen als willfähriges Werkzeug der politischen Einigungsbestrebungen. Dann aber kamen die Überraschungen. Haynald weigerte sich nacheinander, die aus Wien kommenden Verordnungen auszuführen. Wie er seinerzeit die Absetzung als gesetzwidrig bezeichnet hatte, bezeichnete er jetzt die Wiener Verfügungen als gesetzwidrig. Sein Verhältnis zum Hof verschlechterte sich endlich dermaßen, daß man ihn aufforderte: entweder keine Schwierigkeiten mehr zu machen oder vom Bischofsstuhl zurückzutreten. Er wählte das letztere und kam als freiwillig Verbannter in das mächtige Asyl aller im Dienst der Kirche Stehenden – nach Rom. Der Papst ließ ihn auch nicht untergehen. Er ernannte ihn unverzüglich zum Bischof von Karthago und sicherte ihm durch einen starken diplomatischen Druck sogar noch eine Jahresrente vom Wiener Hofe.

Jetzt trafen sie sich also in Rom und begrüßten sich im Gedanken an die Graner Messe als alte Freunde. Auch zu Carolyne nahm Franzi den neugebackenen Bischof von Karthago mit, und dieser wurde ein ziemlich häufiger Gast in der Via del Babuino. Ein noch viel häufigerer Gast wurde er aber in dem kleinen Dominikanerkloster, in der bescheidenen Zelle des weltberühmten Künstlers. Hier erzählten sie einander stundenlang aus ihrem Leben. Und als sie bei Franzis unruhigen Seelenqualen angelangt waren, meinte Haynald nachdenklich:

»Es ist mir als Seelsorger oft vorgekommen, daß ein junger Mann mich fragte, ob er eine bestimmte Dame heiraten solle oder nicht. Da pflegte ich immer zu antworten: ›Heiraten Sie sie nur dann, wenn Sie müssen, wenn Sie fühlen, daß Ihr Leben anderswie zwecklos ist.‹ Ich sage dir jetzt, daß es für deine innere Unruhe nur eine wirksame Arznei gibt: in die Kirche einzutreten. Woran du in deinem ganzen Leben, wie du mir erzählt hast, so oft gedacht hast. Aber auch hier sage ich: nur der soll ein Priester werden, der es werden muß. Der fühlt, daß sein Leben anders unmöglich ist. Bist du da angelangt?«

»Noch nicht. Wenn ich aufrichtig sein will, noch nicht.«

»Dann trage deine Unruhe weiter in dir und warte. Wenn du dann glaubst, daß das dein einziger Weg ist, dann werde Geistlicher, vorher aber nicht.«

Franzi fühlte, daß dieser weise Mann recht hatte. Er trug also seine Unruhe weiter. Er kam und ging und führte sein Doppelleben. Rom bot ihm sehr viel. Es verging keine Woche ohne ein großes Ereignis. Jetzt zum Beispiel erregte es Aufsehen, daß der jüngere Bruder Kaiser Franz Josefs, der Erzherzog Max, den die Mexikaner zum Kaiser erwählt hatten, mit seiner Frau, der belgischen Prinzessin Charlotte, die ewige Stadt besuchte, weil er den Segen des Papstes erbitten wollte, bevor er nach Amerika fuhr, um seinen Thron zu besteigen. Franzi bekam sie zu Gesicht: der junge blonde Kaiser von Mexiko wäre ein schöner Mann gewesen, wenn er mehr Haar auf dem Kopfe und weniger schlechte Zähne gehabt hätte. Seine Gattin war sehr schön und hatte einen kühnen Blick. Sie blieben nur zwei Tage in Rom, dann reisten sie schnell wieder ab.

Ein anderes Ereignis war die Gründonnerstag-Prozession, die er jetzt zum ersten Male sah. Er stand am Petersplatz, den man mit großen Kosten für diese Gelegenheit überdacht hatte; auf blumengeschmückten Säulen waren Baldachine über den ganzen Platz hinweggezogen. Eine dichte Menschenmenge drängte und stieß sich herum, zwischen den dunklen, eingeborenen römischen Gesichtern sehr viel blonde, englische und amerikanische Köpfe. Der für die Prozession freigehaltene Weg war mit gelbem Sand bestreut und mit grünen Zweigen belegt. Die Prozession setzte sich in Bewegung, über die vieltausendköpfige Menge lief eine Welle aufgeregter Neugierde. An der Spitze schritt päpstliches Militär, eine Kompanie Liniensoldaten. Dann folgten Knaben des Waisenhauses in weißen Kleidern, paarweise, in jeder Hand eine brennende Kerze. Nach ihnen kamen sämtliche Orden Roms. Bärtige Kapuziner in Sandalen und braunen Kutten, um die Hüften einen weißen Strick. Zisterzienser in schwarzweißen Priestergewändern. Schneeweiß gekleidete Dominikaner. Karmeliter. Minoriten. Düstere, schwarze Jesuiten. Benediktiner. Und die Insassen von noch anderen unzähligen Klöstern. Jedem Orden wurde ein Kruzifix vorangetragen, jeder Mönch hielt eine brennende Kerze in der Hand, die Mitglieder eines Ordens beteten laut, andere sangen. Anschließend an den Zug der Orden trug man die Glocken der beiden größten Kirchen von Rom, richtiger verkleinerte Modelle der Originalglocken. Diese Glocken erklangen dauernd während der Prozession. Es folgte ein turmartiges Zelt mit gelben und roten Streifen, dessen Zweck niemandem mehr bekannt war, eine alte Überlieferung, deren Sinn man längst vergessen hatte. Danach kamen die Domherren der verschiedenen Kapitel, alle mit kleinen runden Kragen aus grauem Pelz. Nach ihnen die Korporationen der Ordenspriore und siebzehn Bischöfe, unter ihnen Gustav Hohenlohe und Haynald. Auch die anderen, alles Bekannte. Hinter den Bischöfen trugen acht Männer in Galauniform acht verschiedene Tiaren, päpstliche Kronen, auf roten Samtkissen; die Tiaren glitzerten von unzähligen Edelsteinen. Endlich folgte der päpstliche Hof. Zuerst der Chor, dann eine große Gruppe Hoflakaien in rotem Gewande, nach ihnen die Schweizer Garde in ihren prächtigen Uniformen mit glänzenden silbernen Brustpanzern, die Kammerherren in schwarzen, spanischen Kostümen mit Barett und Degen, die höfischen Notabilitäten in Prunkgewändern und die Kardinäle in roten Strümpfen, die unter ihrem Priestergewand hervorleuchteten, auf dem Kopf den Kardinalshut, – alles auf der ganzen Welt bekannte Namen: Merode, der päpstliche Kriegsminister, Antonelli, der Staatssekretär, Alfieri, Guidi, Clarelli, Peptini, Andrea und alle die anderen, die greisen Stützen der geistlichen Weltmacht. Und hinter ihnen der bewegliche Thron, auf zwei Seiten riesengroße Fächer aus Pfauenfedern, und unter dem Baldachin Pio Nono, kniend, seine beiden Hände zum Gebet gefaltet.

Alles sank in die Knie, viele berührten mit der Stirn den Boden. Und der Thron schwamm weiter über die Masse, in seiner Mitte der betende Greis im weißen Gewande, der Carolyne nicht erlaubt hatte zu heiraten und zögerte, Franzi die kirchliche Musik anzuvertrauen. Auch Franzi kniete nieder und neben ihm Schlözer, der junge Sekretär der preußischen Botschaft.

»Wer kommt denn noch?« fragte der kniende Franzi, als er sah, daß die Prozession noch nicht zu Ende war.

»Das französische Militär«, entgegnete der Diplomat, »der da vorne reitet, ist der General Graf Montebello.«

Beide erhoben sich wieder. Und Franzi faßte den jungen Mann am Arm.

»Erklären Sie mir bitte, was das französische Militär hier soll, damit ich es endlich begreife.«

»Gerne. Die italienische Bevölkerung, die Sie jetzt hier auf die Knie fallen sahen, ist von dem Gedanken der nationalen Freiheit ganz erfüllt. Die Aktivisten, die Partei der Italianissimi, untergraben die weltliche Macht des Papstes, und das Papsttum besitzt keine ausreichende Waffenmacht mehr, um ihnen widerstehen zu können. Der Papst hat also von Frankreich Unterstützung erbeten, wie seinerzeit Franz Josef den Zaren um Unterstützung gegen die Ungarn gebeten hat. Und Napoleon III. spielt sehr geschickt Schach. Er stützt Viktor Emanuel bis zu einem gewissen Grade, aber er geht nicht über bestimmte Grenzen hinaus. Er unterhält hier ständig Militär, und in diesem Augenblick stützt Napoleon III. den Greis, den wir hier vorbeiziehen sahen. Solange er sich es nicht anders überlegt hat.«

»Wieso?« Franzi blickte überrascht auf. »Ist es denn möglich, daß er sich zu etwas anderem entschließt?«

»Selbstverständlich. Die Außenpolitik ist wie ein Kaleidoskop. Sie wechselt in jeder Sekunde. Morgen kann es passieren, daß der Kaiser diese Truppen zurückbeordert, dann ist die Bahn frei.«

»Wieso frei? Was kann dann geschehen?«

»Wer könnte sagen, was in einem Krieg alles geschehen kann? Solange der Papst zugleich eine weltliche Macht bedeutet, kann man sein Land genau so erobern wie Schleswig-Holstein.«

»Ja, ja. Aber was geschieht dann mit dem Katholizismus?«

Der Sekretär der preußischen Botschaft zuckte die Achseln und gab keine Antwort. Dafür hatte er auch keine Erklärung. Franzi verabschiedete sich dann von ihm. Er war mit Reményi, dem ungarischen Geiger, verabredet, der auf seiner Weltreise jetzt auch Rom besuchte.

Diese Unterredung hinterließ aber einen tiefen Eindruck bei ihm. Von da ab lenkte er das Gespräch öfters auf die außenpolitische Lage des Papsttums, wenn er mit Menschen sprach, die davon etwas verstanden. Das Bild, das ihm Schlözer gab, weitete sich jedoch nur vor ihm, es änderte sich aber nicht. Das achtzehnhundertjährige Gebäude des Papsttums war tatsächlich durch drohende Minen gefährdet. Er glaubte sich als Mensch und Katholik eine Meinung dazu bilden zu müssen. Anfangs sprach er stundenlang mit Carolyne darüber. Das gab er aber bald wieder auf. Carolyne vertrug keinen Streit. Wer gegen den Papst nur einen einzigen Gedanken äußerte, den hielt sie für den fürchterlichsten Verbrecher der Welt. Franzi sprach mit Haynald. Der ungarische Geistliche glaubte zuversichtlich, daß der innige Glaube der katholischen Welt stark genug sei und die religiöse Meinung der Welt es nicht zulassen werde, daß dem Papsttum irgendein Leid zugefügt werde. Franzi sprach mit dem Baron Bach. Der Baron zuckte mit den Achseln, viele der außenpolitischen Schritte des Heiligen Stuhles fand er nicht richtig und war der Meinung, daß der Heilige Stuhl gezwungen werden könnte, einige Zeit nach Frankreich überzusiedeln, wie er schon einmal in Avignon residiert hatte; der geistigen Macht des Katholizismus würde das aber wohl weniger schaden. Von der Geliebten Garibaldis, von Elpis Melaena, dagegen erhielt Franzi einen Brief, der ganz anders lautete. Sie wohnte jetzt auf Kreta, schilderte mit glühenden Worten seitenlang die verständlichen Wünsche der großen italienischen Nation, die leben wollte und mußte, mochten ihre Wünsche auch noch soviel schmerzliche Opfer von jedem verlangen, der Italiener und Katholik zugleich sein wollte. Endlich sprach Franzi auch mit Meyendorff, dem Gatten seiner Geliebten. Der behauptete streng, daß es mit dem westlichen Katholizismus vorbei wäre, die Macht würde die allein seligmachende orthodoxe Kirche übernehmen, denn seinerzeit habe auch schon Byzanz recht gehabt.

Und zuletzt fragte Franzi den Bischof Hohenlohe, der seit dem Verzicht auf die Hochzeit außerordentlich liebenswürdig und gütig zu ihm war und ihn jetzt in die Villa d'Este eingeladen hatte. Diese Villa in Tivoli gehörte zum Vermögen des Hauses Este, man überließ sie jedoch dem Bischof unter der Bedingung, daß er sie in Ordnung brächte und instand hielte. Aus Rom konnte man nur in einer mehrstündigen Wagenfahrt über die unvorstellbar schlechten Straßen der Campagna nach Tivoli gelangen. Wenn der Wagen den steilen Weg durch die Ölbaumwälder emporgekraxelt war und linker Hand Frascati verließ, tauchte in Tivoli ganz zuerst dieses feenhafte Schloß auf. Die Vorderfront sah sehr anspruchslos aus, in den Sälen blieben dem Gast aber Mund und Augen offen vor Staunen über die unermeßlichen Kunstschätze, und der mächtige Pomp des sich an der Hügelwand entlang ziehenden Gartens mit den Springbrunnen raubte dem Besucher förmlich den Atem. Franzi bekam ein Appartement im zweiten Stock zugewiesen, auf der der Campagna zugewandten Seite, deren unerhörte Aussicht sogar noch die des Klosters Rosario übertraf. In dem schillernden Dunst des heißen italienischen Sommers konnte man bis in die Heilige Stadt sehen, zu beiden Seiten aber lag unten die einzigartige Ebene der Campagna.

An einem der taghellen Abende, als der Bischof und sein Gast bei schwarzem Kaffee und Kognak auf der nach dem Park zu gelegenen Terrasse saßen, und die Springbrunnen mit einschläfernder Musik in der lauen sommerlichen Stille plätscherten, brachte Franzi das Gespräch auf die Lage des Papsttums. Der Oberkämmerer des Papstes und Bischof von Odessa kreuzte seine schmalfesseligen Füße, blies den Rauch einer von weither gebrachten Zigarre durch die Nase und sagte:

»Ein Bruder von mir, Fürst Chlodwig, gehört zu den führenden bayrischen Politikern. Von ihm weiß ich, daß die deutschen Staaten, deren einheitlicher Zusammenschluß unbedingt erfolgen wird, keine allzu großen Freunde der weltlichen Macht des Papsttums sind; sie sind ja zum größten Teil protestantisch, und der bayrischen und sächsischen Politik wird die deutsche Einigkeit wichtiger sein als der Katholizismus. Mein anderer Bruder, Fürst Konstantin, ist Adjutant Seiner Majestät des Kaisers Franz Josef, und von ihm weiß ich, daß das Konkordat Österreichs mit dem Vatikan in Wien sehr viele Gegner hat, denn sie halten den Einfluß des Papstes auf die österreichische Innenpolitik für zu weitgehend. Was nun mich angeht, so bin ich auf den Papst böse, weil er gesagt hat, ich tauge nicht zum Erzbischof. Ich wäre jetzt Erzbischof von Köln geworden, wenn er nicht so hartnäckig wäre.«

»Aber Durchlaucht, die Zukunft des Papsttums hängt doch nicht vom Erzbistum Köln ab?«

Der Bischof Hohenlohe schenkte sich neuen schwarzen Kaffee ein und erwiderte dann:

»Das kann man nie wissen.«

Franzi blickte lange in das kluge, schmale Gesicht und auf die gepflegten Hände dieses aristokratischen Bischofs und beobachtete die gezüchtete Vornehmheit seiner gemessenen Bewegungen. Und mit einem Male hatte er verstanden, daß sie beide noch aus dem feudalen Mittelalter stammten: das Papsttum, – wenn seine weltliche Macht auch noch so sehr zusammengeschrumpft war, – und dieser hochmütige, feine Kirchenfürst, hinter dessen kirchlicher Laufbahn eine der mächtigsten Familien Europas stand. Und er begriff, daß wer eine weltliche Macht aufrechthalten will, mit der Macht der weltlichen Gedanken rechnen mußte. In den folgenden Tagen seines Aufenthaltes in der Villa d'Este fragte er den Bischof nicht mehr nach den Dingen, die ihn um diese Zeit so erregten.

Nach der Einladung Hohenlohes erhielt er eine noch viel vornehmere: der Papst selbst lud ihn in seine Sommerresidenz nach Castelgandolfo ein, in jenes kleine Dorf bei Rom am Ufer des Albaner Sees, wo schon seit zweihundert Jahren die Päpste den Sommer zu verbringen pflegten. Er war oft schon der Gast von Herrschern gewesen, diese Einladung aber ließ sein Herz erbeben. Der Herrscher seines Glaubens lud ihn ein, der mächtigste Seelenhirt der Welt, der irdische Statthalter Christi selbst.

Im schönen Bernini-Schloß hielt sich der gesamte prächtige Hofstaat auf. Der Herrscher über alle irdischen Seelen forderte gleich am ersten Tage den Sohn des Raidinger Rentmeisters auf, ihm Klavier vorzuspielen. Vor allen Dingen jene liebenswürdige, zwitschernde Komposition von der Predigt des Heiligen Franz von Assisi. Franzi setzte sich im Musiksaal ans Klavier, der Papst nahm Platz, und die Musik begann. Zuerst das Stück mit den Vögeln, dann alle anderen.

»Der Papst«, sagte plötzlich Pio Nono, »möchte ein weltliches Stück hören.«

Schlagfertig erwiderte Franzi:

»Der Papst ist auch eine weltliche Macht, es steht also bei ihm, auch über Weltliches zu verfügen.«

Die wasserblauen Augen des alten Mannes blickten zur Decke hinauf und verloren sich ins Ungewisse.

»Aber wie lange?« murmelte er leise, eher für sich.

»Mein Heiliger Vater«, erwiderte Franzi tapfer und in eifriger Angst, »was wird mit der Kirche geschehen?«

»Die Kirche ist Christus«, entgegnete der Papst, »die Kirche ist unsterblich. Sie sollen nur beten, mein lieber Sohn, alles andere überlassen Sie dem irdischen Statthalter Christi. Nun, was spielen Sie dem Papst?«

Franzi begann dem Papst folgsam den ersten Satz seiner Dante-Symphonie »Die Hölle« zu erklären.


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