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Kapitel XIII.
Abschiedstage

Es begann für mich eine wunderschöne Zeit. Sommerfeld nahm mir fast die ganze Bureauarbeit ab, ich mußte nur die Plädoyers halten, nachdem er die Fälle bearbeitet hatte. Ich verdiente genug, schlief aber aus Bequemlichkeit noch immer in meinem Bureau. In diesen Tagen kam eine große und neue Sensation in mein Leben. Eines Abends trat ein Mädchen ohne Hut in mein Bureau ein. Ohne anzuklopfen öffnete es die Tür. Sommerfeld war gerade nach Hause gegangen, und ich legte meine Sachen zum Ausgehen zurecht. Die Frau benahm mir den Atem. Sie sah verblüffend gut aus, sehr dunkel mit großen, schwarzen Augen und einer schmalen, mädchenhaften Gestalt. »Ich bin Topsy«, sagte sie und stand lächelnd da, als ob der bloße Name genügte.

»Kommen Sie herein,« erwiderte ich, »und setzen Sie sich, ich habe schon von Ihnen gehört.«

Sie war eine privilegierte Erscheinung in der Stadt. Sie fuhr auf den Straßenbahnen und Eisenbahnen, ohne zu zahlen. Alle, die sie zur Rede stellten, waren für sie bloß »arme, weiße Luder«, und es fand sich immer irgend jemand, der für sie bezahlte. Sie zögerte auch nicht, in solchen Fällen an einen Mann heranzugehen und ihn um einen oder sogar fünf Dollar zu bitten – und sie bekam alles, was sie wollte. Ihre Schönheit hatte etwas ebenso Zwingendes wie ihre höhnische Zurückweisung. Ich hatte oft von ihr als »diesem verdammt hübschen Negermädel« gehört, aber ich konnte keine Spur der Kennzeichen ihrer Rasse an ihr entdecken.

Sie setzte sich hin und fragte mit einem leisen südlichen Akzent, den ich sehr angenehm fand: »Sie heißen Harris?«

»Ja, so heiße ich«, erwiderte ich lächelnd. – »Sie sind hier an Stelle von Barker,« fuhr sie fort – »es geschah ihm ganz recht, daß er am Schlucken starb, das arme weiße Luder.«

»Wie heißen Sie wirklich?« fragte ich sie.

»Man nennt mich Topsy,« erwiderte sie, »mein wirklicher Name ist Sophy Beveridge. Sie waren sehr lieb zu meiner Mutter, die oben wohnt. Ja,« fuhr sie herausfordernd fort, »sie ist nämlich meine Mutter, und eine sehr gute Mutter. Und ich werde es Ihnen nicht vergessen.« Sie schüttelte verächtlich den Kopf über meine Verwunderung.

»Ihr Vater muß weiß gewesen sein«, konnte ich nicht umhin zu bemerken, denn es war mir unmöglich, Topsy mit der alten Mulattin in Verbindung zu bringen. Sie nickte. »Ja, er war schon weiß, wenigstens, was seine Haut betrifft.« Und sie stand auf und wanderte im Bureau herum, als ob es ihr gehörte. »Ich werde Sie Sophy nennen«, sagte ich, denn ich empfand die leidenschaftliche Empörung verletzten Stolzes in ihr. Sie lächelte mir erfreut zu.

Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich durfte mich nicht mit einem farbigen Mädel einlassen, obwohl ich keine Spur von schwarzem Blute in Sophy entdecken konnte. Sie sah verblüffend gut aus, selbst in dem einfachen Mousselinkleid. Wie sie auf und ab ging, fiel mir die pantherartige Grazie ihrer Bewegungen auf, ihre kleinen, festen Brüste spannten den dünnen Baumwollstoff ihres Kleides. Sie drehte sich plötzlich um und lächelte mich an: »Sie ziehen mich aus, und das freut mich, weil meine Mutter Sie gern hat und ich die alte Frau so liebe ... und wie.«

Es lag etwas Kindliches, Unmittelbares, Unschuldiges sogar in ihrer Offenheit, die mich faszinierte, und ihre Schönheit strahlte in dem dunkelnden Zimmer.

»Sie sind so lieb, Sophy,« sagte ich, »aber jeder andere hätte es auch für Ihre Mutter getan. Sie war ja krank.«

»Jawoll,« höhnte sie, »die meisten Weißen hätten sie dort oben verrecken lassen. Ich kenne sie. Sie wären noch auf sie wütend gewesen, daß sie sie im Schlafe stört. Ich hasse sie.« Ihre großen Augen glühten. Sie kam plötzlich auf mich zu: »Wenn Sie Amerikaner wären, wäre ich nie zu Ihnen gekommen, nie! Ich wäre lieber gestorben, hätte gespart oder gestohlen, um es Ihnen zu bezahlen.« – Ihre Stimme war bitter vor Haß. Die Negerfrage hatte offensichtlich eine Seite, von der ich nichts wußte. »Aber Sie sind anders,« fuhr sie fort, »und ich kam eben ...« Sie hielt inne, hob ihre großen Augen mit einer unausgesprochenen Hingabe in dem haftenden Blick zu mir empor.

»Es freut mich«, sagte ich linkisch und kämpfte gegen die Versuchung. »Und ich hoffe, Sie werden bald wiederkommen, und wir werden gute Freunde sein, nicht wahr, Sophy?« Und ich hielt ihr die Hand hin. Aber sie schürzte die Lippen und sah mir vorwurfsvoll enttäuscht in die Augen. Ich konnte nicht widerstehen, ich nahm ihre Hand, zog sie an mich heran und küßte sie auf die Lippen. Meine rechte Hand faßte an ihre Brust. Sie war fest wie Kautschuk. Verlangen kämpfte gegen den Entschluß in mir an, aber ich war gewohnt, meinen Willen siegen zu lassen.

»Du bist das hübscheste Mädchen in Lawrence,« sagte ich, »aber jetzt muß ich wirklich gehen, ich habe eine Verabredung und komme schon so zu spät.«

Sie lächelte rätselhaft, als ich meinen Hut nahm und herausstürzte, ohne die Bureautür hinter mir zuzumachen.

Während ich in den Straßen herumwanderte, wirbelten meine Gedanken und Gefühle chaotisch durcheinander. Begehrte ich sie wirklich? Sollte ich sie haben? Würde sie wiederkommen? Donnerwetter, die Frauen sind der wahre Teufel, und er ist nicht so schwarz, wie man ihn malt! Schwarz?

In dieser Nacht wurde ich durch ein lautes Pochen an meine Bureautür aufgeweckt. Ich sprang auf und öffnete sie gedankenlos, und Sophy kam lachend herein.

»Was ist denn los?« fragte ich noch halb verschlafen.

»Ich bin müd vom Warten geworden,« erwiderte sie trotzig, »und da bin ich eben gekommen.« Ich fing an, ihr Vorwürfe zu machen, aber sie rief mir zu: »Gehen Sie gleich ins Bett!« Sie nahm meinen Kopf zwischen die Hände und küßte mich. Meine Widerstandskraft starb hin. »Komm schnell«, sagte ich und flüchtete ins Bett. Im nächsten Augenblick lag sie nackt in meinen Armen. »Hattest du je einen Liebhaber, Sophy?« flüsterte ich ihr zu.

»Nein, mein Herr,« erwiderte sie, »ich mochte Sie, weil Sie mir nie nachgestiegen sind und immer so gut zu mir waren, und da ich es doch einmal machen muß, ist es schon besser, daß Sie es sind. Ich kann die farbigen Männer nicht ausstehen, und die weißen sehen auf mich herab und verachten mich, und ich – ich liebe Sie ...« flüsterte sie und vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter.

Ich hatte nie einen reizvolleren Frauenkörper gesehen. Ihre Haut war zwar dunkel, aber nicht dunkler als bei einem italienischen oder spanischen Mädchen, ihre Brüste waren klein und fest, ihre Hüften schmal, ihre Beine gerundet ohne eine Spur der Stelzenhaftigkeit der Negerrasse, selbst ihre Füße waren schmal und hoch gewölbt.

»Du bist das hübscheste Mädel, das ich je gesehen habe!« rief ich aus.

»Du bist mein Mann,« sagte sie stolz, »und ich will dir zeigen, daß ich besser lieben kann als irgendein weißes Luder, das so hochmütig tut.«

»Du bist ja weiß,« rief ich aus, »sei nicht dumm.« Sie schüttelte den kleinen Kopf. »Wenn du nur wüßtest,« sagte sie, »als ich ein Mädel war, ein Kind noch, haben alte weiße Männer, die besten in der Stadt, mir schmutzige Worte nachgerufen und mich anzufassen versucht – diese Biester!« Ich war sprachlos, ich hatte keine Ahnung von einer solchen Verachtung und Verfolgung.

Sophy wurde für mich die ideale Geliebte. Keine der Frauen, die ich früher besaß, konnte sich mit ihr vergleichen. Sogar das Gespräch mit ihr faszinierte mich immer mehr, je besser ich sie kennen lernte. Sie hatte das Leben von der Straße her gelernt, von seiner animalischen Seite. Aber es war verblüffend, wie schnell ihr Verständnis wuchs. Die Liebe ist die einzige magische Lehrerin. In vierzehn Tagen sprach sie besser als Lily, in einem Monat ebensogut wie irgendein anderes amerikanisches Mädchen. Ihr Wissensdurst und ihre schwammartige Aufnahmefähigkeit setzten mich immer in Erstaunen. Sie war ein Naturkind, von einer animalischen, unvermittelten Kühnheit und voll von tausend bezaubernden Charakterzügen. Sie beeilte sich, jedem leisesten Wunsche von mir nachzukommen. Sophy war die Perle aller Frauen, die ich in der Frühzeit meiner Entwicklung traf, und ich wünschte, ich könnte dem Leser einen schwachen Begriff von ihrer seltsamen, verführerischen Zärtlichkeit vermitteln. Meine Bewunderung Sophys nahm mir jede mögliche Verachtung für die Neger, und ich bin sehr froh darüber, denn sonst hätte ich mein Herz gegen die Inder verschlossen und auf diese Weise den besten Teil meiner Lebenserfahrungen vermißt.

Es war jedoch geschrieben, daß, sobald ich einen Zustand von Zufriedenheit und Wohlbehagen erreichte, das Schicksal die Karten durcheinanderwarf und mich zu einem neuen Spiel zwang.

Zuerst kam ein Brief von Smith, der mir schrieb, er hätte sich eine schwere Erkältung zugezogen. Der Husten hätte sich wieder eingestellt, er verlöre an Gewicht und Mut. Er kam nun zu der Schlußfolgerung, zu der ich schon lange gekommen war, daß die feuchte Luft in Philadelphia ihm schadete, und die Ärzte schickten ihn nun nach Denver, Kolorado. Die besten Spezialisten seien sich einig, daß Gebirgsluft das einzige für seine Lungenschwäche sei. Wenn ich nicht zu ihm kommen könnte, sollte ich ihm telegraphieren, und er würde sich in Lawrence auf seinem Wege nach dem Westen aufhalten, um mich zu sehen. Er hatte mir viel zu sagen ...

Einige Tage später war er im Eldridge-Haus, und ich ging zu ihm hin. Ich war erschüttert über seinen Anblick. Er war gespensterhaft dünn, und die großen Augen brannten wie Lampen in seinem weißen Gesicht. Ich wußte sofort, wie es um ihn stand, und konnte meine Tränen kaum beherrschen.

Wir blieben den ganzen Tag zusammen, und als er hörte, wie ich meine Zeit zwischen gelegentlichem Lesen, dem Ausüben meiner Praxis und meinen Liebesnächten verbrachte, drang er auf mich ein, die Praxis aufzugeben und nach Europa zu gehen und mich dort auszubilden. Aber ich wollte Sophy und mein angenehmes Leben nicht aufgeben. Ich sagte ihm, er überschätzte mich, ich würde sicher der beste Advokat im Staate werden, eine Menge Geld verdienen und dann zurückgehen, um in Europa zu studieren. Er warnte mich, daß ich zwischen Gott und Mammon zu wählen hätte. Ich erwiderte ihm leichthin, daß Mammon und meine Sinne mir viel gaben, was mir Gott weigerte. »Ich werde beiden dienen.« Aber er schüttelte den Kopf.

»Ich bin fertig, Frank,« erklärte er schließlich, »und ich würde das Leben bedauern, wenn ich nicht wüßte, daß du die Arbeit aufnimmst, die ich einmal zu vollbringen hoffte.«

Ich konnte dem nicht widerstehen. »Gut,« sagte ich und dämmte meine Tränen, »gib mir einige Monate Zeit, und ich werde zuerst eine Reise um die Welt machen und dann nach Deutschland gehen, um zu studieren.« Er zog mich an sich heran und küßte mich auf die Stirn. Ich empfand es wie eine Weihe.

Einen Tag später nahm er den Zug nach Denver, und mir war es, als ob die Sonne aus meinem Leben verschwunden wäre.

Ich hatte damals wenig in Lawrence zu tun, und so verbrachte ich täglich einige Stunden in der Stadtbibliothek. Frau Trask, die Bibliothekarin, war die Witwe eines der ersten Siedler, der während des Quantrell-Überfalls brutal ermordet wurde, als die Missouri-Banditen in ihrem letzten Versuch, Kansas zu einem sklavenbesitzenden Staat zu machen, die kleine Stadt Lawrence umzingelten. Frau Trask war eine hübsche, kleine Frau, der man diesen Posten vertraut hatte, um sie wenigstens für den Verlust ihres Gatten zu entschädigen. Sie kannte die amerikanische Literatur sehr gut, und ich ließ mich oft von ihr beraten. Nachdem Smith nach dem Westen gegangen war, verbrachte ich immer mehr Zeit in der Bibliothek. Eines Tages – es war ungefähr einen Monat später – suchte ich vergeblich in der Bibliothek nach etwas Neuem und Interessantem. Frau Trask kam zufällig vorbei, und ich fragte sie, was ich lesen sollte.

»Haben Sie etwas von diesen Sachen gelesen«, erwiderte sie und zeigte auf eine zweibändige Emerson-Ausgabe. »Es ist gut.«

»Ich sah ihn in Concord, aber er war taub und machte keinen Eindruck auf mich.«

»Er ist der größte amerikanische Denker,« erwiderte sie, »und Sie sollten ihn lesen.«

Automatisch nahm ich den Band in die Hand, und er blätterte sich von selbst bei der letzten Seite der Emersonschen Ratschläge an die Schüler des Dartmouth College auf. Jedes Wort hat sich mir ins Gedächtnis geprägt. Ich glaube heute noch die linke Seite zu sehen und die göttliche Botschaft zu lesen. Ich brauche mich nicht zu entschuldigen, daß ich sie hier fast wörtlich zitiere:

»Meine Herren, ich habe mir erlaubt, Ihnen diese Überlegungen über die Stellung und die Hoffnungen eines Studierenden zu unterbreiten, weil ich dachte, daß es vielen unter Ihnen, die heute auf der Schwelle dieses College stehen, gerüstet und bereit, die Aufgaben öffentlicher und privater Art in ihrem Lande auf sich zu nehmen, nicht leid tun wird, über die primären Pflichten des Intellektes belehrt zu werden, von denen Sie kaum etwas aus dem Munde Ihrer neuen Kameraden vernehmen werden. Ihr werdet jeden Tag mit den Maximen einer kleinlichen Vernunft überschüttet werden. Man wird euch sagen, daß es die erste Pflicht sei, sich Land und Geld, Namen und Stellung zu verschaffen. Was ist denn das für eine Wahrheit, die ihr sucht? Was ist denn die Schönheit? wird man euch höhnisch fragen. Wenn jedoch Gott einen von euch dazu berufen hat, nach Wahrheit und Schönheit zu suchen, bleibt kühn, bleibt fest, bleibt wahrhaftig! Wenn einer von euch sagt: ich werde dasselbe tun, was die andern tun, ich werde, so schwer es mir auch fällt, auf meine jugendlichen Träume verzichten, ich werde mich auf die Güter dieser Erde konzentrieren und das Arbeiten an sich selbst und die romantischen Erwartungen fahren lassen bis auf eine geeignetere Zeit – dann stirbt der Mensch in ihm, dann verwelken noch einmal die Knospen der Kunst, der Poesie und der Wissenschaft, wie sie bereits in Tausenden und aber Tausenden Menschen erstorben sind. Die Stunde dieser Wahl ist der Wendepunkt eurer Geschichte, und seht zu, daß ihr am Intellekt festhaltet. Es ist diese beherrschende Kraft unserer sinnlichen Welt, die die äußerste Notwendigkeit für die Priester des Wissens schafft ... Begnügt euch mit einem kleinen Lichtchen, wenn es nur euer eigenes ist, forscht und sucht unermüdlich. Laßt euch weder durch Verachtung noch durch Schmeichelei aus eurer Einstellung ewigen Suchens abdrängen. Laßt euch nicht durch Dogmen verleiten! Warum sollt ihr auf euer Recht, die bestirnten Wüsten der Wahrheit zu durchmessen, um der verfrühten Bequemlichkeit eines Ackers, eines Hauses und einer Scheune willen verzichten? Auch die Wahrheit hat ihr Dach, ihr Bett und ihren Tisch. Macht euch unentbehrlich für die Welt, und die Menschheit wird euch Brot geben, wenn nicht in Überfülle, so doch so viel, daß euer Anteil an den Gefühlen der Menschen, an der Kunst, an der Natur und an der Hoffnung nicht geschmälert wird.«

Die Wahrheit dieser Worte sprang mir entgegen. »Dann verwelken die Knospen der Kunst, der Poesie und der Wissenschaft, wie sie bereits in Tausenden und aber Tausenden von Menschen erstorben sind.« Daraus erklärt sich, warum es keinen Shakespeare, keinen Bacon, keinen Swinburne in Amerika gibt, wo sie doch, an der Bevölkerung und dem nationalen Wohlstand gemessen, in Dutzenden hätten vorkommen sollen.

Ich begriff plötzlich, daß gerade, weil es so leicht war, hier zu Geld zu kommen, es eine unvergleichliche Anziehungskraft ausübt, und bei der Jagd nach dem Gelde sterben Tausende und aber Tausende begabter Geister, die die Menschheit zu neuen und edleren Zielen gelenkt hätten.

Die Frage stellte sich mir von selbst: Sollte auch ich in das behäbige Dasein versinken, in Sinnlichkeit waten, mich um eines Nervenkitzels willen degradieren? Nein, rief ich mir selbst zu, zehntausendmal nein, nein! Ich werde weggehen und die »bestirnten Wüsten der Wahrheit« suchen oder auf dem Wege sterben. Ich schloß das Buch, nahm noch den zweiten Band in die Hand und ging zu Frau Trask.

»Ich möchte dieses Buch kaufen,« sagte ich, »es brachte mir eine Botschaft, die ich nie vergessen darf.«

»Es freut mich«, sagte die kleine Frau lächelnd. »Was ist es denn?«

Ich las ihr eine Stelle vor. »Ich verstehe,« rief sie aus, »aber warum wollen Sie denn diese Bücher haben?«

»Ich muß sie mitnehmen«, erwiderte ich. »Ich will Lawrence sofort verlassen und nach Deutschland gehen, um zu studieren.«

»Du lieber Herrgott,« rief sie aus, »wie können Sie? Sie sind doch Sommerfelds Sozius. Sie können doch nicht sofort wegfahren?«

»Ich muß. Der Boden brennt mir unter den Füßen. Wenn ich jetzt nicht gehe, werde ich es nie tun. Ich muß morgen aus Lawrence fort sein.«

Frau Trask warf die Arme empor und fing an, mir Vernunft zu predigen. Solche schnellen Entschlüsse seien immer gefährlich. Es läge kein Grund vor, mich so zu beeilen.

Ich wiederholte immer wieder: »Wenn ich jetzt nicht wegfahre, reiße ich mich nie los. Die erbärmlichen Freuden werden mir immer süßer erscheinen, und ich werde allmählich in dem Honigschlamm des Lebens versinken und ertrinken.«

Als sie jedoch sah, wie unerschütterlich ich blieb und wie tief der Entschluß in mir festgewurzelt war, verkaufte sie mir die Bücher mit einem gewissen Unwillen und fügte hinzu: »Ich wollte, ich hätte Ihnen den Emerson nicht empfohlen«, und sie blickte ganz verzweifelt drein, während Tränen in ihre Augen stiegen.

»Sie dürfen es nie bedauern. Ich werde Sie dadurch, solange ich lebe, nie vergessen und werde Ihnen ewig dankbar sein. Professor Smith sagte mir schon, ich sollte von hier weggehen, aber es brauchte der Worte von Emerson, um mir den letzten Anstoß zu geben. Die ›Knospen der Poesie und Wissenschaft und der Kunst‹ werden in mir nicht ersterben, wie sie bereits in Tausenden und aber Tausenden erstorben sind. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen«, schloß ich mit überfließender Wärme. »Sie brachten mir die Botschaft einer hohen Bestimmung.«

Ich erfaßte ihre Hände, hätte sie beinah umarmt, aber ich fürchtete, sie zu erschrecken, und so begnügte ich mich mit einem Kuß auf ihre Hand und ging gleich weg, um Sommerfeld aufzusuchen.

Er war im Bureau, und ich erzählte ihm sofort die ganze Geschichte, wie Smith versucht hatte, mich zu überzeugen, wie ich mich gewehrt hatte, bis ich den Emerson in die Hände bekam, der mich schließlich überzeugte. »Es tut mir leid, Sie im Stich zu lassen, aber ich muß weg, und zwar sofort.«

Er sagte mir, es sei ein Wahnsinn, ich könnte Deutsch auch in Lawrence lernen, er wollte mir dabei gern behilflich sein. »Sie können doch nicht um eines Wortes willen Ihre ganze Existenz wegwerfen. Es ist ein Wahnsinn! Ein verrückterer Entschluß ist mir noch nie vorgekommen.«

Wir stritten uns stundenlang herum. Ich vermochte ihn ebensowenig zu überzeugen, wie es ihm mich zu überreden gelang. Er gab sich alle Mühe, mich dazu zu bringen, noch wenigstens zwei Jahre dazubleiben und dann mit vollen Taschen wegzugehen. »Sie können noch gut zwei Jahre opfern«, meinte er. – »Nicht einmal zwei Tage«, erwiderte ich. »Ich habe Angst vor mir selbst.«

Als er hörte, daß ich Geld haben wollte, um zuerst eine Weltreise zu machen, sah er eine Aufschubmöglichkeit und sagte, ich müßte ihm etwas Zeit lassen, festzustellen, was auf meinen Anteil käme. Ich erwiderte ihm, ich hätte vollstes Vertrauen zu ihm, was auch wirklich der Fall war, ich könnte ihm jedoch nur zwei Tage geben, den Sonnabend und Sonntag, denn spätestens am Montag wollte ich wegfahren. Er gab schließlich nach und war sehr gütig gegen mich.

Ich kaufte ein Kleid und einen Hut für Lily, mit der ich noch einen schweren Kampf durchmachen sollte. Sie war allen Vernunftgründen unzugänglich. »Es hat ja keinen Sinn«, schrie sie immer wieder und brach dann in einem Strom von Tränen zusammen. »Was soll denn aus mir werden? Ich hoffte immer, du würdest mich heiraten,« gestand sie schließlich, »und jetzt gehst du fort auf lauter Luftschlösser hin –, um zu studieren«, fügte sie mit unendlicher Verachtung hinzu, »als ob du hier nicht studieren könntest ...«

»Ich bin zu jung, um zu heiraten, Lily, und ...«

»Du warst nicht zu jung, um mich zu deiner Geliebten zu machen,« unterbrach sie mich, »und was soll ich nun tun? Sogar Mama sagt, wir sollten uns verloben, und ich brauche dich so.« Und wieder brachen die Tränen aus ihren Augen.

Ich wußte mir nicht anders zu helfen und sagte, ich würde es mir noch einmal überlegen und ihr meinen Entschluß mitteilen, und ging traurig weg, während Lilys anklagende Stimme mir noch in den Ohren tönte.

Den Sonntagmorgen ließ ich für Sommerfeld und meinen Freund Will Thompson, und den Rest des Tages bestimmte ich für Sophy.

Sommerfeld kam vor neun Uhr ins Bureau und sagte mir, die Firma schuldete mir dreitausend Dollar. Ich wollte sie zuerst nicht nehmen, konnte nicht glauben, daß er mit mir zur Hälfte teilen wollte, aber er bestand darauf und zahlte sie mir aus.

»Ich bin keineswegs mit Ihrem plötzlichen Entschluß einverstanden,« meinte er, »vielleicht weil er zu plötzlich war. Aber ich zweifle nicht daran, daß Sie alles gut machen werden, was Sie in die Hand nehmen. Lassen Sie mal was von sich hören, und wenn Sie je einen Freund brauchen, dann wissen Sie, wo Sie mich finden können.«

Als ich ihm die Hand gab, wurde es mir klar, daß die Trennung so schmerzlich sein konnte wie ein Riß durchs lebendige Fleisch.

Will Thompson übernahm gern meine Plakatzäune und meine Stellung in der Liberty Hall, er hatte gleich seinen Vater mitgebracht, und nach vielem Hinundherhandeln überließ ich ihm alles für dreitausendfünfhundert Dollar, und nun besaß ich nach vierjähriger Arbeit genau so viel Geld, wie ich vor vier Jahren in Chicago hatte.

Ich aß im Eldridge-Haus und ging zurück in mein Bureau, um Sophy zu treffen, die mich noch mehr ins Erstaunen setzen sollte. »Ich gehe mit dir,« sagte sie kühl, »wenn du dich nicht schämst, mich bei dir zu haben, wenigstens bis nach Frisko«, fügte sie flehend hinzu, als sie mein unwilliges Erstaunen merkte.

»Selbstverständlich wird es mir eine große Freude sein, aber ...« Ich konnte es ihr unmöglich verweigern. Sie brach in ein gurgelndes Freudenlachen aus und nahm ihre Börse heraus. »Hier, ich habe vierhundert Dollar,« sagte sie stolz, »und das reicht schon für das Kind eine ganze Weile.«

Ich ließ sie das Geld wegstecken und versprechen, keinen Cent auszugeben, solange wir zusammenwaren. Ich erzählte ihr, wie ich sie einkleiden möchte, sobald wir nach Denver kamen, denn ich wollte mich dort einige Tage aufhalten, um Smith zu sehen, der mir hocherfreut über meinen Entschluß schrieb und mir auch mitteilte, daß es ihm besser ginge.

Am Montagmorgen ging die Reise los. Sophy hatte den Takt, zuerst auf die Station zu gehen, so daß niemand in Lawrence unsere Namen in Verbindung brachte. Sommerfeld und der Richter Bassett begleiteten mich auf die Station und wünschten mir Glück auf meinen Lebensweg. So endete das zweite Stadium meines Lebens.

Sophy war ein reizender, süßer Kamerad. Nachdem wir über Topeka hinauswaren, kam sie einfach in mein Abteil und verließ mich nicht mehr. Dabei muß ich gestehen, daß es mir lieber gewesen wäre, wenn sie in Lawrence geblieben wäre. Es verlangte mich nach dem Abenteuer des Alleinseins, und außerdem war ein Mädchen im Zuge, dessen lange Augen sich in die meinen versenkten, sooft ich an ihrem Platz vorbeikam, und ich kam oft vorbei. Ich hätte sie angesprochen, wenn Sophy nicht mit mir gewesen wäre. Als wir nach Denver kamen, suchte ich Smith auf und ließ Sophy im Hotel zurück. Ich fand ihn wohler, ahnte jedoch, daß die verfluchte Krankheit nur sozusagen Atem schöpfte vor dem letzten Angriff. Er brachte mich ins Hotel, aber sobald er Sophy sah, erklärte er, ich müßte mit ihm zurückkommen, er hätte mir etwas zu geben vergessen. Ich lächelte Sophy zu, die Smith sehr höflich und entgegenkommend begrüßt hatte. Sobald wir jedoch auf der Straße standen, begann Smith entsetzt:

»Frank, sie ist doch eine Farbige. Du mußt sie sofort verlassen, sonst bereitest du dir ungeheure Schwierigkeiten!«

»Woran hast du gemerkt, daß sie farbig ist?« fragte ich.

»Sieh dir doch ihre Nägel und ihre Augen an! Ein Südamerikaner kann nicht einen Augenblick im Zweifel sein. Du mußt sie sofort verlassen, ich bitte dich.« – »Wir werden uns in Frisko trennen«, erwiderte ich, und als er auf mich eindrang, sie sofort zurückzuschicken, weigerte ich mich. Ich konnte ihr diese Schmach nicht antun. Und heute noch bin ich sicher, daß mein Entschluß richtig war.

Smith war darüber betrübt, blieb aber unverändert liebenswürdig gegen mich, und so trennten wir uns für immer. Er hatte für mich mehr getan als irgendein anderer Mensch, und jetzt nach fünfzig Jahren kann ich nur von meiner unaustilgbaren Schuld ihm gegenüber sprechen, während die heißen Tränen sich mir in die Augen drängen wie in dem Augenblick, als unsere Hände sich zum letzten Male fanden. Er war der gütigste, vornehmste Mensch, den ich auf dieser Erdenwanderung getroffen habe. Ave atque vale!

Als die Zeit meiner Abreise näher kam, wurde Sophy immer versonnener. Ich hatte ihr ein hübsches, kornfarbenes Kleid gekauft, das ihre Schönheit, wie der goldene Sonnenschein eine Waldlandschaft, hervorhob, und sie fiel mir dankbar gerührt um den Hals. Als ich sie jedoch an mich heranziehen wollte, wehrte sie sich: »Laß mich!«

»Warum?« fragte ich und suchte ihren Blick.

»Es ist so warm, ich habe Angst vor dem Negergeruch«, brach es leidenschaftlich aus ihr heraus.

»Welch ein Unsinn!«

»Ist keiner,« widersprach sie mir gereizt, »meine Mutter nahm mich einmal in die Negerkirche mit, und ich bin fast erstickt. Ich bin nie wieder hingegangen. Ich konnte nicht. Wenn es warm wird, stinken sie – pfui!«, und sie schüttelte den Kopf und zog ein Gesicht voll Ekel und Verachtung. »Deshalb wirst du mich auch verlassen«, fügte sie nach einer langen Pause hinzu, mit Tränen in der Stimme. »Wenn es nicht das verdammte Negerblut in mir wäre, würde ich dich nie allein lassen. Ich würde mit dir als dein Dienstmädchen gehen oder irgend so etwas. Ach Gott, wie ich dich liebe – und wie einsam wird die arme Topsy sein!« Und die Tränen rannen an ihrem zuckenden Gesicht herunter. »Wenn ich nur ganz weiß oder ganz schwarz wäre,« schluchzte sie, »ich bin so unglücklich.« Mein Herz blutete.

Wenn ich mir nicht Smiths verächtliche Worte vergegenwärtigt hätte, wäre ich weich geworden und hätte sie mitgenommen. So konnte ich nur mein Bestes tun, um sie zu beruhigen. »In einigen Jahren komme ich zurück. Sie gehen schnell vorbei, Sophy. Ich werde dir oft schreiben, mein Liebes.«

Aber Sophy wußte es besser. »Ich will nicht, daß du den weißen Mädeln auf diesen Inseln nachläufst, bevor du nach China kommst, und dort wirst du dich mit diesen gelben, schlitzäugigen Weibern nicht einlassen – darum liebe ich dich eben, weil du dich für die aufsparst, die du gern hast –, aber es ist so schlimm, daß du so viele gern hast – mein Mann!« Und sie küßte mich leidenschaftlich.

Wir trennten uns im Hotel, und ich ging allein an Bord des Dampfers. Meine Augen ruhten auf dem Goldenen Tor in dem Stillen Ozean und den Hoffnungen und Zufällen meines neuen Lebens. Endlich sollte ich die Welt sehen. Was stand mir da bevor?

Ich hatte damals keine Ahnung, daß ich in demselben Verhältnis zu dem, was ich mitbrachte, genau so viel oder genau so wenig finden sollte. Und es ist der traurigste Teil meiner Lebensbeichte, daß ich auf dieser ersten Reise um die Welt so gefühl- und gedankenlos war, daß ich fast gar nichts von meiner langen Fahrt heimbrachte.

Wie Odysseus sah ich vieles an mir vorbeiziehen, aber die Szenerie bereichert selten den Geist. Ein oder zwei Orte jedoch machten auf mich, so jung und unempfindlich ich damals war, einen großen Eindruck, Sidney Bay und Hongkong, aber in erster Linie das alte chinesische Tor, das so nahe an dem europäischen Viertel in die chinesische Stadt Shanghai führt und eine verblüffend verschiedene Welt öffnet. Auch Kioto prägte sich mir ein, und die japanischen Männer und Frauen, die nachts aus ihrem heißen Bade herausliefen, um zu sehen, ob ich auch wirklich am ganzen Körper weiß war.

Aber ich lernte nichts Wesentliches zu, bis ich zur Tafelbucht kam und die lange Linie des Tafelberges viertausend Fuß über mir sah, einen Felsgipfel, der mit einem unvergleichlichen Effekt von Würde und Größe in den Himmel hineinschneidet. Ich verbrachte ungefähr einen Monat in Kapstadt, und durch einen glücklichen Zufall lernte ich Jan Hofmeyr kennen, der mir einen Begriff von der Anständigkeit der Buren vermittelte und mir erzählte, wie sie den englischen Premierminister Gladstone schätzten, als er ihnen nach Majuba ihre Freiheit gab. »Wir sehen in ihm mit Ehrfurcht das verkörperte Gewissen Englands.« Aber leider konnte England Majuba nicht verdauen und mußte später Blut und Geld verschwenden, um der Welt die Mannhaftigkeit der Buren zu beweisen. Aber dann hat England, Gott sei Dank, Südafrika Freiheit und Selbstverwaltungsrecht wiedergegeben und so für seine schändlichen Konzentrationslager gesühnt. Dank Jan Hofmeyr habe ich den südafrikanischen Buren schon nach dieser ersten kurzen Begegnung kennen und schätzen gelernt.

Als ich zwanzig Jahre später zum zweitenmal eine Weltreise machte, versuchte ich die Hofmeyrs jedes Landes zu finden, und auf diese Weise lernte ich vieles Wertvolle und Seltsame, wovon ich noch zu erzählen hoffe. Denn die einzige Einbruchsteile in das Wissen und die Erkenntnis ist in dem Zusammensein mit weisen und begabten Menschen gegeben.


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