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Kapitel I.

Das Gedächtnis ist die Mutter der Musen, der Prototyp des Künstlers. In der Regel trifft es die Auswahl, hebt das Bedeutende unter Vernachlässigung des Zufälligen oder Trivialen hervor. Hie und da begeht es jedoch Fehler wie alle Künstler. Trotzdem nehme ich das Gedächtnis zum Führer.

Ich bin am 14. Februar 1855 geboren und James Thomas nach den beiden Brüdern meines Vaters genannt worden. Mein Vater war in der Marine Kommandierender Leutnant eines Zollkutters oder Kanonenbootes; und wir Kinder sahen ihn nur in langen Zwischenpausen.

In meiner frühesten Erinnerung sehe ich mich auf den Knien meines Onkels James, des Kapitäns eines Ostindienfahrers, reitend, der uns im Süden von Kerry besuchte, als ich ungefähr zwei Jahre alt war. Ich erinnere mich noch genau, daß ich einen Hymnus auswendig aufsagte, während meine Mutter auf der andern Seite des Kamins stand und mir soufflierte. Dann ließ er mich noch weiter tanzen, und das war alles, was ich von ihm wollte. Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter ihm sagte, daß ich lesen könnte, und wie sehr er darüber erstaunt war.

Die nächste Erinnerung muß ungefähr in dieselbe Zeit fallen. Ich saß auf dem Boden und schrie, als mein Vater hereinkam und fragte: »Was ist denn los?«

»Es ist nur der junge Herr,« erwiderte das Kindermädchen verärgert, »er schreit bloß aus schlechter Laune, sehen Sie, gnädiger Herr, er hat nicht eine Träne im Auge.«

Ungefähr ein Jahr später liegt wohl der stolze Augenblick, in dem ich in einem langen Zimmer auf und ab ging, während meine Mutter ihre Hand auf meinen Kopf stützte und mich ihren Spazierstock nannte. Etwas später erinnere ich mich, wie ich einmal nachts in ihr Zimmer kam. Ich flüsterte ihr etwas ins Ohr und küßte sie, aber ihre Wange war kalt; sie gab keine Antwort, und ich weckte das Haus mit meinem Schreien auf: sie war tot. Ich fühlte keinen Schmerz, nur daß etwas Dunkles und Furchtbares in dem plötzlichen Aufhören des normalen Haushaltsbetriebes lag.

Einige Tage später sah ich, wie der Sarg herausgetragen wurde, und als das Kindermädchen mir und meiner Schwester sagte, wir würden unsere Mutter nie wieder sehen, war ich bloß erstaunt und wunderte mich, warum.

Als meine Mutter starb, war ich ungefähr vier Jahre alt, und kurz darauf siedelten wir nach Kingstown in der Nähe von Dublin über. Ich pflegte mit meiner Schwester Annie, die vier Jahre älter war, nachts aufzustehen, um uns Brot, Marmelade oder Zucker zu holen. Eines Morgens um Tagesgrauen stahl ich mich in das Zimmer des Kindermädchens und sah einen Mann neben ihr im Bett liegen, einen Mann mit einem großen, roten Schnurrbart. Ich zog meine Schwester herein, und sie sah ihn auch. Wir schlichen aus dem Zimmer, ohne die beiden aufgeweckt zu haben. Meine einzige Empfindung war Überraschung, aber am nächsten Tage wollte mir das Kindermädchen keinen Zucker aufs Brot geben, worauf ich ihr sagte: »Dann werd' ich's erzählen!« – ich weiß nicht warum, ich hatte damals noch keine Ahnung von modernem Journalismus.

»Was erzählen?« fragte sie.

»Daß ein Mann gestern nacht in deinem Bett war!«

»Scht, scht«, machte sie und gab mir den Zucker.

Ich hatte nun herausgefunden, daß ich nur zu drohen brauchte, »ich werd' es erzählen«, um alles zu bekommen, was ich wollte. Meine Schwester wollte eines Tages wissen, was ich da zu erzählen hatte, aber ich sagte es ihr nicht. Ich erinnere mich genau an mein Gefühl der Überlegenheit ihr gegenüber, weil sie nicht klug genug war, um die Zuckermine auszubeuten.

Als ich vier oder fünf Jahre alt war, wurde ich mit Annie in eine Mädchenschule in der Nähe von Kingstown geschickt, die von einer Frau Frost geleitet wurde. Weil ich sehr gut in Mathematik war, wurde ich mit den älteren Mädchen in eine Klasse gesteckt, und ich tat mein Bestes, um bei ihnen zu bleiben, obwohl ich mir keines Grundes für diese Vorliebe bewußt war. Ich erinnere mich, daß das nächstsitzende Mädchen mich aufhob, um mich auf mein Kinderstühlchen zu setzen, und daß ich mich dann eilig bemühte, mit den Zahlen fertig zu werden, denn sobald ich am Schluß meiner Aufgabe angelangt war, ließ ich meinen Bleistift fallen und kletterte dann aus meinem Stuhl heraus, angeblich, um nach ihm zu suchen, in Wirklichkeit jedoch, um nach den Beinen der Mädchen zu sehen. Warum? Ich hätte es nicht sagen können. Ich saß am Ende des Klassenraumes, und gegen Ende des langen Tisches wurden die Beine immer dicker, und ich zog die dickeren vor.

Sobald das Mädchen neben mir mich auf meinem Platz vermißte, suchte es mich, und ich tat, als ob ich meinen Bleistift eben gefunden hätte, und wurde wieder auf mein Stühlchen gehoben.

Eines Tages bemerkte ich ein Paar wunderschöner Beine am andern Ende des Tisches. Im Rücken des Mädchens muß ein Fenster gewesen sein, denn seine Beine waren bis zu den Knien im vollsten Lichte, und der Eindruck erfüllte mich mit unbeschreiblicher Freude. Es waren nicht die dicksten Beine, worüber ich erstaunt war. Bis zu diesem Augenblicke hatte ich gedacht, daß mir die dicksten am besten gefielen, aber jetzt sah ich, daß andere Mädchen dickere hatten, aber keines mit so dünnen Knöcheln und zarten Linien. Ich zitterte vor Freude und vor Angst.

Ich kroch auf meinen Stuhl herauf mit der einen Idee in meinem kleinen Schädel: ich mußte in die Nähe dieser entzückenden Beine gelangen und sie, wenn es ging, berühren. Es war eine atemlose Erwartung. Ich wußte, daß ich meinen Bleistift bis dahin rollen könnte. Am nächsten Tage tat ich es und schlich mich ganz in die Nähe. Mein Herz schlug in der Kehle, und doch war ein seltsames Glücksgefühl in mir. Ich streckte die Hand aus, um sie zu berühren. Plötzlich kam mir der Gedanke, sie würde aufschreien und ich würde entdeckt werden. Ich hatte Angst.

Ich zog mich auf meinen Stuhl zurück, um nachzudenken, und fand bald die Lösung. Am nächsten Tage kauerte ich vor ihren Beinen, halb erstickt vor Aufregung. Ich hatte meinen Bleistift in die Nähe ihrer Zehen gerollt und streckte nun die Hand aus, um ihn zu erreichen, wobei ich ihre Wade berührte. Sie schrie auf: »Was tust du denn da?«

»Ich suche meinen Bleistift,« sagte ich demütig, »er ist mir weggerollt!«

»Hier ist er«, sie stieß ihn mit dem Fuß.

»Danke«, erwiderte ich überglücklich, denn das Gefühl ihrer weichen Beine lag noch in meiner Handfläche.

»Du bist ein komischer, kleiner Kerl«, meinte sie, aber es machte mir nichts aus. Ich hatte den ersten Geschmack des Paradieses und der verbotenen Frucht bekommen – ein authentischer Himmel.

Ich kann mich an ihr Gesicht nicht mehr erinnern, es schien mir angenehm, das ist alles, was ich heute davon weiß, aber der Schauer von Bewunderung, den mir ihre schönen Beine einjagten, ist mir noch heute im Gedächtnis.

Ich erzähle diesen Vorfall hier so ausführlich, weil er sich aus meinem Gedächtnis heraushebt und beweist, daß das erotische Empfinden sich schon in frühester Kindheit bemerkbar machen kann.

Um das Jahr 1890 herum aßen Meredith, Walter Pater und Oscar Wilde mit mir in Park Lane, und wir sprachen über das Erwachen des sexuellen Empfindens. Sowohl Pater wie Wilde sahen es als ein Zeichen der Pubertät an. Pater meinte, daß es mit dreizehn oder vierzehn Jahren beginne, und Wilde schob es zu meiner Verblüffung bis in das sechzehnte Lebensjahr. Meredith war der einzige, der dazu neigte, es früher anzusetzen.

»Es zeigt sich sporadisch,« meinte er, »und manchmal sogar vor der Pubertät.«

Ich erinnerte sie daran, daß Napoleon erzählt, wie er schon mit fünf Jahren in eine Schulfreundin namens Giacominetta verliebt war, aber selbst Meredith lachte darüber und wollte nicht glauben, daß irgendein erotisches Gefühl sich so früh zeigen könnte. Um es ihm zu beweisen, erzählte ich ihm von meiner hier geschilderten Erfahrung, und Meredith dachte nach. »Sehr interessant,« meinte er, »sehr merkwürdig!« – »In ihren Anormalitäten«, sagt Goethe, »enthüllt die Natur ihre Geheimnisse.« Hier ist eine Anormalität und vielleicht als solche wert, verzeichnet zu werden.

Meine Bemühungen, mich in der Mathematik auszuzeichnen, brachten mich in Schwierigkeiten, denn die Lehrerin Frau Frost wurde sehr wütend über mich, weil sie meinte, ich müßte ebenso korrekt lesen wie rechnen. Wenn sie mit mir unzufrieden war, zog sie mich bei den Ohren und gewöhnte sich, ihren langen Daumennagel in mein Ohr zu bohren, bis es blutete. Ich war darüber nicht sehr unglücklich. Ich freute mich sogar, denn ihre Grausamkeit brachte mir das Mitgefühl der älteren Mädchen ein, die mit ihren Taschentüchern mein Ohr auswischten und die alte Frost eine gemeine Bestie nannten.

Eines Tages schickte mein Vater nach mir, und ich ging mit einem Offizier auf sein Schiff in den Hafen. Aus meinem rechten Ohr waren Blutstropfen auf meinen Kragen gefallen. Sobald mein Vater es bemerkte und die älteren Narben sah, wurde er wütend, brachte mich selbst in die Schule zurück und sagte Frau Frost, was er über sie und ihre Strafen dachte.

Unmittelbar darauf, wie es scheint, wurde ich zu meinem ältesten Bruder Vernon – zwischen uns war ein Altersunterschied von zehn Jahren – gebracht, der bei Freunden in Galway wohnte und auf die Universität ging. Dort verbrachte ich die nächsten fünf Jahre, die keine Spur in meinem Gedächtnis zurückließen. Ich habe in diesen Jahren nichts anderes als Fußball und andere Bewegungsspiele gelernt. Ich war bloß ein gesundes, kräftiges Tierchen ohne Schmerzen und ohne eine Spur von Gedanken.

Dann erinnere ich mich an einen Zeitraum in Belfast, wo ich mit Vernon bei einem alten Methodistenprediger wohnte, der mich zwang, mit ihm in die Kirche zu gehen, und während des Gottesdienstes sich eine kleine, schwarze Kappe aufsetzte, was mich mit Scham und Haß gegen ihn erfüllte. Es gibt eine Zeit im Leben, in der jede besondere Sache Abneigung und Mißfallen hervorruft.

Ich hatte in Belfast nichts weiter als Spielregeln und Gymnastik gelernt. Mein Bruder Vernon übte sich jeden Abend im Boxkampf. Zu meiner Verblüffung gehörte er nicht zu den Besten. Während er boxte, begann ich dies und jenes zu üben, und machte bis zum Kinn Klimmzüge, bis Vernon eines Abends feststellte, daß ich den Klimmzug dreißigmal zu wiederholen vermochte. Sein Lob machte mich sehr stolz.

Um diese Zeit – ich muß damals ungefähr zehn Jahre gewesen sein – wurden wir alle nach Carrickfergus gebracht. Meine Brüder und Schwestern erschienen mir zum ersten Male als lebendige, individuelle Wesen. Willie, sechs Jahre älter als ich, Annie, um vier Jahre älter, und Chrissie, meine um zwei Jahre jüngere Schwester, gingen alle in dieselbe Schule, die Mädchen hatten jedoch Lehrerinnen und ihren besonderen Schuleingang. Willie und ich waren in derselben Klasse. Obwohl er noch höher aufgeschossen war als Vernon, konnte ich ihn fast in allen Fächern schlagen. Eines gab es jedoch, worin er der Beste der ganzen Schule war. Als ich ihn das erstemal die »Schlacht bei Ivry« von Macaulay rezitieren hörte, war ich überwältigt.

An diesem Abend saßen wir zusammen und sprachen von Willies Talent. Meine älteste Schwester war begeistert, was wohl meinen Neid und Ehrgeiz aufstachelte, denn ich stand auf und imitierte ihn. Zur allgemeinen Verwunderung kannte ich das Gedicht auswendig. »Wann hast du es denn gelernt?« wollte Annie wissen, und als sie erfuhr, daß ich es nur einmal von Willie gehört hatte, war sie erstaunt und muß es unserem Lehrer gesagt haben, denn am nächsten Nachmittage ermunterte er mich, Willie nachzueifern, und lobte mich sehr. Seit jener Zeit nahm die Deklamation den Hauptteil meines Unterrichts ein. Beim Examen war ich der erste in der Schule in Mathematik und Deklamation. Selbst Vernon lobte mich, während Willie nach mir schlug und von mir arg gegen die Schienbeine gestoßen wurde. Vernon trennte uns und sagte Willie, er sollte sich schämen, jemanden zu schlagen, der nur halb so groß war. Willie log prompt und sagte, ich hätte angefangen. Ich liebte Willie nicht, ich weiß kaum warum, vielleicht nur, weil er mein Rivale in der Schule war.

Von nun an begann mich Annie ganz anders zu behandeln, und ich sah sie nun, wie sie richtig war, und ihre komische Art fiel mir erst jetzt auf. Sie wollte, daß wir sie Nita nannten, eine Abkürzung von Anita, was, wie sie sagte, der elegante französische Name für Annie war. Sie haßte »Annie« – es war gemein und »vulgär« – ich konnte es damals nicht begreifen, warum.

Eines Abends waren wir zusammen, sie brachte gerade Chrissie zu Bett, als sie plötzlich ihr Kleid öffnete und uns zeigte, wie ihre Brüste gewachsen waren, während Chrissies noch ganz klein blieben; und wirklich waren Nitas Brüste groß, schön und rund. Auf Nitas Wunsch berührten wir sie ganz sanft; sie schien sehr stolz auf sie zu sein. Sie schickte Chrissie zu Bett, während ich im nächsten Zimmer an meinen Aufgaben arbeitete. Als Nita aus dem Zimmer ging, rief mich Chrissie plötzlich, und ich kam verwundert ins Schlafzimmer hinein. Sie wollte wissen, ob auch ihre Brüste wachsen würden und so hübsch werden wie die Nitas. »Glaubst du es nicht?« fragte sie. Und ich sagte »ja«, denn ich mochte sie besser leiden als Nita, die sich aufspielte und affektiert war. Plötzlich rief Nita nach mir, Chrissie küßte mich und flüsterte mir ins Ohr, ich sollte es Nita nicht sagen. Chrissie und Vernon waren meine Lieblingsgeschwister. Chrissie war sehr klug und schön mit dunklem, lockigem Haar und großen, nußbraunen Augen, und Vernon erschien mir beinah wie ein Held, und er war immer gut zu mir.

Der Vorgang hatte auf mich keinen Eindruck gemacht. Ich führe ihn aus einem ganz andern Grunde an. Eines Nachmittags, wohl um 1890, hatten Aubrey Beardsley und seine Schwester Mabel, ein sehr hübsches Mädel, bei mir gefrühstückt. Später gingen wir im Park spazieren. Ich begleitete sie bis zum Hyde-Park-Corner. Das Gespräch drehte sich plötzlich um meine Behauptung, daß Männer von Dreißig und Vierzig gewöhnlich junge Mädchen verderben, während Frauen von Dreißig und Vierzig ihrerseits junge Menschen korrumpierten.

»Ich bin nicht Ihrer Meinung,« sagte Aubrey, »es ist meistens die Schwester, die einem den ersten erotischen Unterricht gibt. Jedenfalls war es Mabel, die es mir beibrachte.«

Ich war verblüfft über seine Offenheit. Mabel war blutübergossen, und ich beeilte mich, hinzuzufügen:

»In den Kinderjahren werden die Mädchen viel eher frühreif. Aber ihre Hinweise kommen zu früh, um irgend etwas zu bedeuten.« Trotz seiner Proteste änderte ich das Thema, wofür mir Mabel sehr dankbar war, wie sie mir einige Zeit später sagte. »Aubrey«, sagte sie, »liebt alles Erotische, und er achtet dann nicht darauf, was er sagt oder tut.«

Es war mir schon vorher aufgefallen, wie hübsch Mabel war. An jenem Tage jedoch, als sie sich über eine Blume beugte, merkte ich erst, wie schlank und schön gebaut sie war. Aubrey fing in diesem Moment meinen Blick auf und bemerkte boshaft:

»Mabel war mein erstes Modell, nicht wahr, Mabel? Ich war verliebt in ihre Gestalt,« fuhr er fort, »ihre Brüste waren so hoch und fest und rund, daß ich sie zu meinem Ideal machte.« Sie lachte, wurde rot und warf zurück: »Aber deine Zeichnungen, Aubrey, sind keineswegs Idealgestalten.«

Diese kleine Diskussion zeigte mir, daß auch andere Schwestern so frühreif waren wie meine ...

Vernon bekam plötzlich eine Anstellung in einer Bank in Armagh, und ich wohnte mit ihm in einer Pension. Ich haßte die Pensionsinhaberin. Sie wollte mich an Stunden und Regeln binden, und ich war so wild wie ein herrenloser Hund. Aber Armagh war für mich eine Wunderstadt. Wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich viele Ursachen, die zusammenkamen, um meine Eitelkeit zu stärken, die bereits übermäßig geworden war und in Zukunft mein Leben und meine ganze Richtung bestimmen sollte. In Armagh schien sich alles zu verschwören, um meiner Hauptsünde Vorschub zu leisten.

Ein Vorfall, der meine Eitelkeit und die Sucht, mich hervorzutun, nährte, öffnete mir auch die Welt der Bücher. Vernon verkehrte oft bei einem Geistlichen, der eine hübsche Tochter hatte, und auch ich wurde zu ihren Abenden eingeladen. Die Tochter fand heraus, daß ich deklamieren konnte, und bald wurde es allgemein Sitte, mich zu bitten, überall vorzutragen, wo wir auch hingingen. Vernon kaufte mir die Gedichte von Macaulay und Walter Scott, die ich bald auswendig lernte und mit großem Vergnügen vortrug. Zuerst imitierte ich Willie. Vernon brachte es mir jedoch bei, natürlicher zu sein, und ich nahm mir seine Lehre zu Herzen. Meine kleine Gestalt erhöhte die Wirkung, und die irische Liebe für Rhetorik besorgte den Rest. Ich wurde überall gelobt, die Erfolge machten mich sehr eitel, aber das Lernen der neuen Gedichte hatte das eine wichtige Ergebnis, daß ich Novellen- und Abenteuerbücher zu lesen begann. Ich war bald in dieser neuen Welt verloren. Obwohl ich in der Schule mit den Knaben spielte, rührte ich am Abend kein einziges Schulbuch an und verzehrte nur Lever, Mayne Reid, Marryat und Fenimore Cooper mit unsagbarem Entzücken.

Ich hatte ein oder zwei Kämpfe in der Schule mit Knaben meines Alters auszutragen. Ich haßte es, aber ich war eingebildet und kampflustig, und so geriet ich einige Male ins Handgemenge. Jedesmal, so oft ein älterer Knabe vorbeikam, sah er sich ein oder zwei Runden an und gab uns den Rat aufzuhören und uns zu versöhnen. Man sagt, daß die Iren den Kampf mehr als Essen und Trinken lieben. Aber aus meinen Schultagen zog ich die Erfahrung, daß sie nicht im entferntesten so kampflustig oder – ich möchte sagen – brutal wie die Engländer sind.

In einem der Kämpfe stellte sich ein Knabe auf meine Seite, und wir freundeten uns an. Er hieß Howard, und wir pflegten lange Spaziergänge zusammen zu machen. Eines Tages wollte ich ihn mit dem Sohne des Vikars zusammenbringen, Howard schüttelte jedoch den Kopf. »Er wird es ablehnen,« sagte er, »denn ich bin römisch-katholisch.« Ich erinnere mich noch an die grauenhafte Empfindung, die sein Geständnis bei mir hervorrief. Römisch-katholisch! Konnte ein so netter Kerl wie Howard römisch-katholisch sein?

Ich war wie vom Donner gerührt, und diese Verblüffung zeigte mir die Kluft der protestantischen Bigotterie. Aber ich wollte nicht mit Howard brechen, der um zwei Jahre älter war als ich und der mir manches beigebracht hatte. Er hatte auch bei mir die Liebe für irische Patrioten erweckt, obwohl ich damals kaum wußte, was das Wort »Fenian« bedeutet. Eines Tages zeigte er mir ein Plakat, das eine Belohnung von fünfhundert Pfund für den aussetzte, der nähere Mitteilung über das Verbleiben von James Stephen, dem Hauptführer der Sinn Fein, geben könnte. »Er reist in ganz Irland herum,« flüsterte Howard, »jeder kennt ihn,« fügte er hinzu, »aber keiner würde den irischen Führer den schmutzigen Engländern ausliefern.« Das Geheimnisvolle und Ritterliche der Geschichte jagte mir Schauer von Entzücken ein.

Mein Vater

Mein Vater wurde erwartet. Ich war krank vor Angst. Er war so streng und strafte so gern. Auf dem Schiffe hat er mich einmal mit einem Tau geschlagen, weil ich nach vorn gegangen war, um den Matrosen zuzuhören, die sich schlüpfrige Geschichten erzählten. Ich hatte Angst vor ihm und haßte ihn, seitdem ich ihn einmal an Bord betrunken sah.

Es war am Abend der Regatta von Kingstown. Er wurde zum Frühstück auf eine der großen Jachten eingeladen. Ich hörte, wie die Offiziere davon sprachen. Sie sagten, er sei eingeladen worden, weil er über die Strömungen an der Küste besser Bescheid wußte als selbst die Fischer. Die Teilnehmer der Regatta wollten von ihm einige Informationen haben. Ein anderer fügte hinzu: »Er kennt auch die Winddrehungen besser als irgendein anderer.« Sie waren sich alle einig, daß er ein erstklassiger Seemann sei, »einer der besten, der beste vielleicht, wenn nicht seine Heftigkeit mit ihm durchging – der kleine Teufel.«

An diesem Nachmittage der Regatta kam er rasch die Stufenleiter herauf und stolperte lachend, als er aufs Deck trat. Ich hatte ihn noch nie so gesehen. Er grinste und ging unsicher. Ich sah ihn verblüfft an. Ein Offizier drehte sich um, als er an uns vorbeikam, und sagte zu einem andern: »Sternhagelvoll!« Ein anderer half meinem Vater in die Kabine und kam fünf Minuten später herauf: »Er schnarcht! Er wird bald auf sein! Es ist der Sekt, den sie ihm gaben, und dieses Schmeicheln und Herumscharwenzeln, um von ihm die Tips zu bekommen.«

»Nein, nein,« rief ein anderer aus, »er betrinkt sich nur, wenn er nicht dafür zu bezahlen braucht.« Und die Umstehenden grinsten. Ich fühlte, daß er recht hatte, und ich verachtete diesen niederträchtigen Geiz. Ich haßte sie, weil sie ihn so gesehen hatten, und haßte ihn – betrunken, aufschneiderisch, herumtorkelnd – ein lächerliches Jammerbild – mein Erzeuger – ich verachtete ihn!

Ich trug ihm noch manches andere nach. Ein Großadmiral war einmal an Bord gekommen. Mein Vater hatte sich in seine beste Uniform geworfen. Ich war sehr jung. Es war gerade, nachdem ich in Carrickfergus meine ersten Schwimmversuche gemacht hatte und mich, ohne je Schwimmen gelernt zu haben, kühn ins Wasser gestürzt hatte. Mein Vater ließ mich jeden Morgen nach der Schule um das Schiff herumschwimmen.

An diesem Morgen kam ich wie gewöhnlich um elf Uhr und sah, wie mein Vater mit einem fremden Herrn sprach. Als ich auftauchte, runzelte mein Vater die Brauen und gab mir ein Zeichen, wieder zu verschwinden, aber der Fremde hatte mich erblickt und winkte mich lachend herbei. Ich kam näher, und der fremde Herr war erstaunt, als er hörte, daß ich schwimmen konnte. »Nun mal los, Jim!« rief mein Vater, »schwimm mal rum!«

Nichts Böses ahnend, rannte ich die Leiter herunter, zog meine Kleider aus und sprang ins Wasser. Der Fremde und mein Vater standen oben im Gespräch vertieft. Mein Vater winkte mit der Hand, und ich schwamm um das Schiff herum. Als ich wieder aus dem Wasser steigen wollte, sagte mein Vater:

»Nein, nein, schwimm noch so lange, bis ich Halt sage!«

Ganz stolz ging ich wieder los, aber als ich zum zweitenmal um das Schiff herum war, wurde ich müde. Ich war noch nie so weit geschwommen, war tief ins Wasser gesunken, Wellenschaum war mir in den Mund geraten, ich war sehr froh, als ich wieder an die Stufen gelangte, aber als ich die Hand ausstreckte, um heraufzusteigen, winkte mein Vater ab.

»Weiter, weiter,« rief er, »bis ich Schluß sage!«

Ich schwamm weiter, aber nun war ich sehr müde und auch erschrocken. Als ich an den Bug gelangte, lehnten sich die Matrosen heraus, und der eine ermutigte mich: »Nur langsam, Jim, du kommst schon rum!« Es war der große Newton, der erste Steuermann, aber gerade sein Mitgefühl ließ in mir noch mehr Haß gegen meinen Vater aufsteigen, weil er mich so müde und ängstlich machte.

Als ich zum drittenmal herumkam, schwamm ich sehr langsam, ließ mich sehr tief sinken, und der Fremde selbst verwandte sich für mich bei meinem Vater, der mich dann heraufkommen ließ.

Ich sprang froh herauf, ein wenig ängstlich, wie mich mein Vater nun empfangen würde, aber der Fremde beugte sich über mich und sagte: »Er ist ganz blau! Das Wasser war sehr kalt, Kapitän, man müßte ihn jetzt tüchtig abreiben.«

Mein Vater sagte nichts weiter als: »Geh und zieh dich an«, und fügte hinzu: »Sieh, daß du warm wirst!«

Die Erinnerung an meine Angst machte es mir klar, daß er viel zu viel von mir verlangte, und ich haßte ihn, weil er sich betrank, mich beschämte, mich mit den Matrosen sich messen ließ, die erwachsen waren und mich leicht schlagen konnten. Ich konnte ihn nicht leiden. Ich war damals zu jung, um zu wissen, daß es wahrscheinlich die Gewohnheit zu kommandieren war, die das Lob nicht über seine Lippen kommen ließ, obwohl ich mir dunkel bewußt war, daß er sehr stolz auf mich sein mußte, weil ich als einziger unter seinen Kindern nie seekrank wurde.

Etwas später kam er in Armagh an, und die darauffolgende Woche war mir gründlichst verdorben. Ich mußte nach der Schule sofort nach Hause kommen, um mit dem Vater einen langen Spaziergang zu machen, und er war keine angenehme Gesellschaft. Ich konnte mich nicht gehen lassen, ich hatte Angst, mir irgendein Wort entschlüpfen zu lassen oder ihm etwas zu erzählen, worüber er Krach schlagen würde. So ging ich schweigend an seiner Seite, nahm mich in allem in acht, was ich sagte, um seine einfachsten Fragen zu beantworten. Es war keine Spur von Kameradschaft vorhanden.

Am Abend schickte er mich früh ins Bett, manchmal sogar vor neun Uhr, während mich Vernon bis elf oder zwölf aufbleiben ließ. Eines Abends ging ich in mein Schlafzimmer, kehrte jedoch sofort zurück, um mir ein Buch zu holen und im Bett zu lesen, was für mich ein seltenes Fest war. Ich hatte Angst, in den Salon zu gehen. Ich schlich mich ins Eßzimmer hinein, wo auch einige Bücher herumlagen. Die Tür zwischen den beiden Zimmern war offen. Plötzlich hörte ich meinen Vater sagen:

»Er ist ja ein Fenier!«

»Ein Fenier?« wiederholte Vernon in tiefstem Staunen. »Ich glaube nicht, daß er selbst die Bedeutung dieses Wortes kennt. Vergiß nicht, Vater, daß er erst elf Jahre alt ist!«

»Ich sage es dir ja,« unterbrach ihn mein Vater, »er sprach heute von James Stephen, dem irischen Führer, mit wildester Begeisterung. Er ist schon ein Ire. Aber wie hat er sich angesteckt?«

»Ich weiß es nicht,« erwiderte Vernon, »er liest viel und ist sehr aufgeweckt. Ich werde es schon herausfinden.«

»Nein, nein,« sagte mein Vater, »man muß ihn schon gründlich heilen. Ich werde ihn auf eine Schule in England schicken, das wird für ihn gut sein.«

Ich wollte nichts mehr hören, nahm mein Buch und schlich die Treppe hinauf. Weil ich nun den irischen Führer liebte, mußte ich ein Fenier sein. »Wie dumm doch Vater ist«, war die Schlußfolgerung, zu der ich kam, aber England lockte mich – England! das Leben öffnete sich mir.

In diesem Sommer begann ich zuerst Wert auf Kleidung zu legen. Ein Knabe namens Milman hatte eine Zuneigung für mich gefaßt, und obwohl er fünf Jahre älter war, ging er oft mit mir und Howard spazieren. Er war sehr pedantisch in bezug auf Kleidung, sagte, daß nur ein »Kaffer« (er war der erste, der mir diesen Ausdruck beibrachte) eine feste Krawatte trüge. Er schenkte mir einen Schlips und zeigte mir, wie man ihn bindet; bei einer andern Gelegenheit sagte er, nur ein »Kaffer« ginge in ausgefransten oder gestopften Hosen herum.

Seit jener Zeit begann ich große Sorgfalt auf mein Äußeres zu legen. Bei den Abendgesellschaften waren die Mädchen und junge Frauen, Vernons Freundinnen, netter zu mir denn je, und ich fragte mich, ob ich wirklich so nett aussähe, wie man mir sagte. Wenn man mich aufforderte, etwas vorzutragen, zierte ich mich, nur um noch eindringlicher gebeten zu werden.

Fast ein halbes Jahr war ich nur von zwei Motiven beherrscht: ich fragte mich, wie ich aussähe, und beobachtete, ob die Menschen mich gern hatten. Ich versuchte, mir den Akzent der »besseren Leute« anzugewöhnen, und ehe ich in ein Zimmer kam, bereitete ich meinen Auftritt sorgfältig vor. Irgend jemand – ich glaube, es war Vernons Flamme Monica – hatte etwas von meinem energischen Profil gesagt, und so gab ich mir immer Mühe, mein Profil zu zeigen. In diesem halben Jahre war ich mehr Mädchen als Knabe mit dem ganzen Selbstgefühl, den vielen Affektiertheiten und Sentimentalitäten eines Mädchens. Ich sann oft darüber nach, daß keiner mich wirklich lieb hatte, und weinte über meine lieblose Vereinsamung.

So oft ich später als Schriftsteller ein junges Mädchen schildern wollte, brauchte ich nur auf diesen Zeitraum in meinem Bewußtsein zurückzugreifen, um mir die Seelenstimmung eines jungen Mädchens zu vergegenwärtigen.


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