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Wenn ich mir alle Mühe gäbe, brauchte ich ein Jahr, um das Leben in diesem englischen Gymnasium in R... zu beschreiben. In jeder irischen Schule – und hauptsächlich in der Schule von Armagh – war ich vollkommen glücklich gewesen. Ich will hier so kurz wie möglich einen Unterschied anführen: Wenn ich in einem Klassenzimmer in Irland flüsterte, runzelte der Lehrer die Stirn und schüttelte den Kopf. Zehn Minuten später sprach ich wieder, und er hob verweisend den Finger, beim dritten Male sagte er wahrscheinlich: »Hör' auf, dich zu unterhalten, Harris, siehst du nicht, daß du deinen Nachbar störst?« Eine halbe Stunde später schrie er in Verzweiflung: »Wenn du noch weiter sprichst, werde ich dich bestrafen müssen!« Zehn Minuten später: »Du bist unverbesserlich, Harris, komm her!« und ich mußte aufstehen und den Rest des Vormittags an seinem Pult stehen, und selbst diese leichte Strafe kam nicht öfter als zweimal in der Woche vor und wurde immer seltener, als ich an die Spitze meiner Klasse gelangte.
In England war die Prozedur ganz anders. »Der neue Junge hier spricht. Er muß dreihundert Zeilen abschreiben.«
»Aber ich bitte, Herr Lehrer«, wagte ich aufzupiepsen.
»Schreibe fünfhundert Zeilen ab und sei still!«
»Aber Herr Lehrer«, widersprach ich.
»Schreib tausend Zeilen, und wenn du noch einmal antwortest, werde ich dich zum Doktor schicken«, – was bedeutete, daß ich eine Tracht Prügel bekommen sollte und eine lange Predigt obendrein.
Die englischen Lehrer kannten nichts weiter als Strafen. Infolgedessen saß ich immer auf meinem Zimmer und schrieb endlose Zeilen ab, und jeder meiner Feiertage ging darauf, bis mein Vater, von Vernon aufgestachelt, sich beim Doktor beklagte, daß das Abschreiben meine Handschrift ruiniere.
Nachher wurde ich damit bestraft, daß ich soundso viele Zeilen auswendig lernen mußte. Die Zeilen wuchsen sich schnell zu Seiten aus, und vor dem Ende des ersten halben Jahres hatte ich durch diese Strafen das ganze Schulbuch der englischen Geschichte auswendig gelernt. Mein Vater verwandte sich wieder für mich, und man gab mir Vergil zu lernen. Das schien nun – Gott sei Dank! – wert, gelernt zu werden, und die Geschichte von Ulysses und Dido wurde für mich eine Reihe lebendiger Bilder, die sich, solange ich leben werde, ungetrübt in meinem Gedächtnis erhalten wird.
Diese englische Schule war für mich anderthalb Jahre lang ein brutales Gefängnis mit dummen, täglichen Strafen. Am Ende dieser Zeit bekam ich dank dem Mathematiklehrer einen besonderen Platz angewiesen, aber das ist eine andere Geschichte.
Die zwei oder drei besten Schüler in meinem Alter waren mir bei weitem in Latein überlegen und hatten sich bereits durch die Hälfte der griechischen Grammatik durchgearbeitet, die ich noch nicht angefangen hatte. Aber ich war der Beste in Mathematik bis auf Untertertia. Weil ich jedoch in den Sprachen nicht das englische Niveau erreichte, hielt mich der Klassenlehrer für dumm und warf mir immer meine »Dummheit« vor mit dem Ergebnis, daß ich in den zweieinhalb Jahren auf dem Gymnasium nie eine griechische oder lateinische Lektion gelernt habe. Trotzdem – dank den Strafen, die mich zwangen, Vergil und Livius auswendig zu lernen – wurde ich auch der Beste in Latein unter meinen Altersgenossen, bevor das zweite Jahr um war.
Ich hatte ein außergewöhnliches Wortgedächtnis. Ich erinnere mich, daß der Doktor einmal einige Zeilen des »Verlorenen Paradieses« höchst affektiert rezitierte und in seiner pompösen Weise hinzufügte, Lord Macaulay hätte das »Verlorene Paradies« von Anfang bis zu Ende auswendig gekonnt. »Ist das so schwer?« fragte ich. – »Wenn du die Hälfte davon gelernt hast, wirst du verstehen, wie schwer es ist. Lord Macaulay war ein Genie«, und er strich wieder den Lord heraus.
Eine Woche später, als der Doktor wieder Literaturunterricht gab, sagte ich, als die Stunde zu Ende war: »Bitte, Herr Doktor, ich kenne das ›Verlorene Paradies‹ auswendig.« Er prüfte mich und sah mich dann von Kopf bis Fuß an, als ob er sich fragte, wo das ganze Wissen hingeraten sein mag. Diese ›Frechheit‹, wie die älteren Knaben es nannten, brachte mir manchen Knuff und Puff der oberen Klasse ein und machte viel böses Blut. Der auffallendste Grundzug des englischen Schullebens war das Verhältnis der jüngeren Knaben zu den älteren, wie es in deutschen studentischen Verbindungen zwischen Bursch und Fuchs besteht. In England wurden die Regeln mit drakonischer Strenge eingehalten. Die Namen der diensthabenden »Füchse« wurden an ein schwarzes Brett geschrieben, und wenn man nicht auf die Minute pünktlich war und höchst servil noch obendrein, bekam man ein Dutzend Schläge auf den Hintern, und zwar nicht nachlässig und mit Unwillen gegeben, wie der Doktor es tat, sondern mit Herzenslust, so daß man Narben bekam und tagelang sich nicht setzen konnte, ohne vor Schmerz aufzuschreien.
Die »Füchse«, die jung und schwach waren, wurden sehr oft bloß aus Spaß brutalisiert. So zum Beispiel konnten wir am Sonntagmorgen im Sommer eine Stunde länger im Bett bleiben. Ich schlief mit fünf anderen jüngeren Knaben in dem großen Schlafzimmer. Zwei ältere Jungen schliefen an jedem Saalende, wahrscheinlich um Ordnung zu halten, in Wirklichkeit jedoch, um uns die wüstesten Dinge beizubringen und ihre jüngeren Lieblinge zu korrumpieren. Wenn die englischen Mütter wüßten, was in den Schlafsälen dieser Internate in ganz England vorgeht, würden alle von Eton bis Harrow an einem Tage geschlossen werden. Wenn die englischen Väter klug genug wären, um zu verstehen, daß die erotischen Flammen im Knabenalter nicht geschürt zu werden brauchen, würden sie auch ihre Söhne vor dem gemeinen Mißbrauch schützen. Aber ich werde noch darauf zurückkommen. Jetzt möchte ich von der Grausamkeit sprechen.
Die Grausamkeit in jeder Form tobte sich an den schwächeren, jüngeren, nervöseren Knaben aus. Ich erinnere mich an einen Sonntagmorgen, als einige der älteren Knaben ein Bett an die Wand stellten, die sieben jüngeren Buben unter das Bett kommandierten und mit Stöcken auf jede Hand und jeden Fuß einschlugen, der sich zeigte. Ein kleiner Bub schrie, er könne nicht mehr atmen, worauf die Quäler alle Öffnungen zu verstopfen begannen, mit der Drohung, ein »Burgverlies« zu machen. Wir schrien und stießen unter dem Bett, und einer der jüngsten begann so zu kreischen, daß die Quäler das Gefängnis im Stich ließen und aus Angst vor dem Lehrer wegrannten.
An einem feuchten Sonntagnachmittag im Winter wurde ein kleines, nervöses Muttersöhnchen aus Westindien, das immer fror und sich immer um das Feuer in dem großen Schulzimmer herumdrückte, von zwei größeren Jungen gepackt und dicht an die Flammen herangehalten. Zwei andere Bestien zogen ihm die Höschen stramm, und je mehr er schrie und flehte, desto fester packten sie ihn und hielten ihn umso näher an die Flammen, bis plötzlich die angebrannten Höschen auseinanderplatzten, der kleine Bub in die Flammen fiel und die Quäler merkten, daß sie zu weit gegangen waren. Der kleine »Neger«, wie er genannt wurde, verriet nicht, wie er zu seinen Brandwunden kam, und war glücklich über die zwei Wochen Krankenstube.
Wir lasen von einem »Füchslein« in Shrewsbury, das in ein Bad mit kochendem Wasser von älteren Knaben hineingeworfen wurde, weil es gewohnt war, sehr warm zu baden. Aber das Experiment nahm ein trauriges Ende, denn der Kleine starb daran, und die Angelegenheit konnte nicht vertuscht werden, obwohl man sie schließlich als einen bedauerlichen Unfall aus der Welt schaffte.
Die Engländer sind so stolz auf die Tatsache, daß sie einen großen Teil der Schuldisziplin in die Hände der älteren Knaben legen. Sie schreiben diese Neuerung Arnold von Rugby zu, und es ist selbstverständlich möglich, daß, wenn die Oberleitung in den Händen eines Genies liegt, sie gute Ergebnisse zeitigen mag. Aber gewöhnlich macht sie eine Schule zu einem Zwangshause der Grausamkeit und Unzucht. Die älteren Knaben setzen die Legende in die Welt, daß nur die Petzer dem Lehrer etwas verraten, und lassen daher alle Zügel den gemeinsten Instinkten schießen.
Die beiden Klassenältesten in unserem Schlafsaal zu meiner Zeit waren ein stämmiger Kerl, namens Dick F., der die Nächte bei den kleinen Knaben im Bett verbrachte, bis sie erschöpft waren, und Jones, ein siebzehnjähriger Junge aus Liverpool, sehr zurückgeblieben in der Schule, aber sehr stark, der Stolz unseres Internats bei den Kämpfen. Er verbrachte die Nächte bei einem kleinen Buben, den er in mancher Weise begünstigte. Henry H. entging durch diese Freundschaft allen Fuchs-Diensten und verriet mit keinem Worte, wozu ihn Jones in der Nacht benutzte, bis er sich mit einem anderen kleinen Buben befreundete und so die ganze Geschichte herauskam.
In meinem eigenen Fall wirkten zwei Hemmungen, über die ich ausführlicher als einen Hinweis für Eltern schreiben möchte. Ich war sehr eifrig bei den Körperübungen. An Hand eines Buches mit Abbildungen über Gymnastik, das ich bei Vernon fand, lernte ich Springen und Laufen. Um hoch zu springen, mußte man von der Seite einen kurzen Anlauf nehmen und sich horizontal ausstrecken, um über die Reckstange zu kommen. Durch dauernde Übung konnte ich mit dreizehn Jahren unter der Reckstange stehen und sie dann im Sprung nehmen. Ich merkte jedoch, daß, sobald ich erregt war, ich nicht mehr imstande war, so gut zu springen, und infolgedessen hielt ich mich in strenger Zucht. Ich war mehr als dreizehn Jahre alt, als ein zweiter und stärker hemmender Einfluß in mein Leben kam, ein Einfluß, der seltsamerweise durch mein Verlangen nach Frauen und meine erotische Neugier wuchs.
Ein Vorfall bildet eine Epoche in meinem Leben. Wir hatten Gesangsstunden in der Schule, und als es sich herausstellte, daß ich eine gute Altstimme und ein sehr gutes Gehör besaß, wurde ich ausgesucht, um Soli zu singen, sowohl in der Schule wie im Kirchenchor. Vor jedem Kirchenfest wurde viel mit dem Organisten geübt, und Mädchen aus benachbarten Häusern nahmen daran teil. Ein Mädchen sang ebenfalls ein Altsolo, und so wurden wir beide von den anderen Knaben und Mädchen getrennt. Das Klavier stand in der Ecke des Zimmers, und wir beide saßen oder standen dahinter, beinah unsichtbar für die anderen, da auch der Organist vor dem Klavier saß. Die kleine E., die mit mir die Altstimme sang, war ungefähr in meinem eigenen Alter. Sie war sehr hübsch oder schien mir so, hatte goldenes Haar und blaue Augen, und ich versuchte, auf meine ungelenke Knabenart mich an sie heranzumachen. Eines Tages, als der Organist etwas erklärte, kletterte E. auf einen Stuhl, um besser zu hören. Ich saß in einem Sessel hinter ihr und erblickte ihre Beine, denn ihr Röckchen wippte, als sie sich nach vorn beugte. Der Atem stockte in meiner Kehle. Sie hatte entzückende Beine, und ich konnte dem Versuch nicht widerstehen, sie anzufassen. Es sah uns ja kein Mensch.
Ich sprang sofort auf und stellte mich neben den Stuhl, auf dem sie stand. Ich ließ wie zufällig meine Hand auf ihr linkes Bein fallen. Sie zog weder den Fuß zurück, noch schien sie den Druck meiner Hand zu bemerken, und so faßte ich sie kühner an. Sie rührte sich nicht, obwohl ich nun wußte, daß sie meine Hand fühlte. Ich glitt mit der Hand an ihrem Bein entlang, über das Knie hinweg, bis meine Finger das warme Fleisch berührten ... Diese Empfindung war so stark, daß es mich in der Kehle zu würgen begann. Mein Herz hämmerte. Es fehlen mir Worte, um die Intensität meines Gefühls zu beschreiben.
Plötzlich nahm das Wunder ein Ende. Der verdammte Organist hatte seine Erklärung beendet, und als er die ersten Noten auf dem Klavier anschlug, sprang E. vom Stuhl herunter. »Du, mein Lieb«, flüsterte ich, aber sie runzelte die Stirn, während ein Lächeln aus ihren Augenwinkeln zu mir hinüberschoß, um mir zu zeigen, daß sie mir nicht böse war.
Sie schien mir die Liebe und Verführung selbst, tausendmal lieblicher und anziehender als vorher. Als wir wieder aufstanden, um zu singen, flüsterte ich ihr zu. »Ich liebe dich, ich liebe dich.« Ich kann kaum die leidenschaftliche Dankbarkeit beschreiben, die ich für sie empfand, die Dankbarkeit für ihre Güte, daß sie die Berührung meiner Hände duldete. Ich wußte nun, es gab etwas Höheres auf der Welt. Ein Kuß, eine Berührung schien mir das größte Glück. Meine Gedanken hoben sich auf ein höheres Niveau. Ich beschloß, mich für diese größeren Freuden zu bewahren.
Unsere geistigen Führer und Meister haben uns nicht gesagt, daß das Küssen und Streicheln eines Mädchens eine solche Zurückhaltung einem Knaben beizubringen vermag, und doch ist es wahr. Eine andere ähnliche Erfahrung kam mir zu jener Zeit, um mich in demselben Gedanken zu bestärken. Ich hatte den ganzen Scott gelesen und seine Heldin Di Vernon machte großen Eindruck auf mich. Ich beschloß, meine ganze Leidenschaft für irgendeine Di Vernon der Zukunft zu sparen. Auf diese Weise lehrten mich die erste leidenschaftliche Erfahrung und die Lektüre einer Liebesgeschichte die Tugend der Zurückhaltung.
Nach diesem ersten göttlichen Erlebnis spähte ich eifrig wie ein Jagdfalke nach einer nächsten Gelegenheit aus. Ich konnte E. nicht vor der nächsten Musikstunde sehen und hatte eine Woche zu warten. Aber selbst eine solche Woche geht einmal zu Ende. Und nun standen wir wieder zusammen in unserer Einsamkeit hinter dem Klavier eingekerkert. Aber obwohl ich alle liebevollen bittenden Worte flüsterte, die ich nur ausdenken konnte, bekam ich nichts weiter als ein Stirnrunzeln und Kopfschütteln zur Antwort. In diesem Augenblick stürzte mein ganzer Glaube an Frauen zusammen. Ihr Verhalten war mir unverständlich. Ich zermarterte mein Hirn nach einer vernünftigen Erklärung und fand keine. Es war ein Teil dieser verdammten Undurchsichtigkeit der Frauen, aber im Augenblick erfüllte es mich mit wütendem Zorn. Ich wurde ganz wild vor Enttäuschung.
»Du bist gemein«, flüsterte ich ihr schließlich zu. Und ich hätte noch mehr gesagt, wenn mich nicht der Organist zu einem Solo gerufen hätte, das ich sehr schlecht sang, so schlecht in der Tat, daß er mich nach vorn rief und auf diese Weise jede Möglichkeit der Annäherung und der Einsamkeit hinter dem Klavier vernichtete. Immer wieder fluchte ich dem Organisten und dem Mädel, suchte jedoch eifrig nach einer ähnlichen Erfahrung, denn, wie die Hundezüchter von den Jagdhunden sagen: ich hatte Blut geleckt und konnte den Geruch nie mehr vergessen.
Ungefähr fünfundzwanzig Jahre später aß ich eines Abends bei Friedrich Chapman, dem Herausgeber der Fortnightly Review, die ich damals redigierte. Er fragte mich einige Wochen später, ob ich eine Dame bemerkt hätte, deren Kleid er mir beschrieb, und fügte hinzu: »Sie fragte mich sehr neugierig nach Ihnen aus. Sobald Sie ins Zimmer hineinkamen, erkannte sie Sie und bat mich, Sie zu fragen, ob Sie sich ihrer auch erinnern?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin so kurzsichtig, wie Sie wissen,« sagte ich, »und muß daher um Verzeihung bitten. Aber woher kennt sie mich denn?«
Er erwiderte mir: »Noch aus Ihrer Schulzeit. Sie sagte mir, Sie würden sich ihrer erinnern, wenn ich Ihnen ihren Vornamen nenne. E. heißt sie!«
»Selbstverständlich erinnere ich mich«, rief ich aus. »Sagen Sie mir, bitte, ihren Namen und ihre Adresse. Ich möchte sie besuchen. Ich möchte ...« (eine Überlegung schien mir Vorsicht zu gebieten) »sie einiges fragen«, fügte ich etwas lahm hinzu.
»Ich kann Ihnen weder ihren Namen noch ihre Adresse mitteilen,« erwiderte er, »ich versprach, es nicht zu tun. Aber ich sollte Ihnen sagen, daß sie schon seit langem glücklich verheiratet ist.«
Ich bestürmte ihn, aber er ließ sich nicht erweichen. Und ich sah auch bald ein, daß ich kein Recht hatte, mich einer verheirateten Frau aufzudrängen, die keine Fortsetzung unserer Bekanntschaft wünschte. Aber ich sehnte mich so danach, aus ihrem eigenen Munde die Erklärung der mir damals so unverständlichen, grausamen Veränderung zu hören.
Heute als Mann weiß ich, daß sie einen guten Grund gehabt haben mag. Und ihr Name ist noch immer von einem Glanz umkleidet, hat eine unvergeßlich faszinierende Kraft.
Mein Vater versuchte immer meine Selbständigkeit zu stärken. Er ließ mich wie ein Mann handeln, während ich noch ein bloßes Kind war. Die Weihnachtsferien dauerten nur vier Wochen. Es war für mich daher billiger, in einer benachbarten Stadt zu bleiben, als nach Irland zurückzukehren. Und so bekam der Schuldirektor den Auftrag von meinem Vater, mir sieben Pfund für meinen Lebensunterhalt zu geben, die er mir auch nebst manchem guten Rat aushändigte.
Die ersten Ferien verbrachte ich in einem Kurort Rhyl im nördlichen Wales, weil ein Kollege Evan Morgan dort wohnte und mir versprochen hatte, mir die Feiertage angenehm zu gestalten. Und er gab sich in Wahrheit alle Mühe. Er stellte mir drei oder vier Mädchen vor, von denen mir hauptsächlich die eine, Gertrude Hanniford, gefiel. Gertie war über fünfzehn Jahre alt, groß und sehr schön mit langen Zöpfen kastanienbrauner Haare. Sie war der beste Kamerad. Sie ließ sich willig genug küssen, aber vor jeder intimeren Berührung schrak sie zurück, runzelte das kleine Näschen und sagte: »Laß das sein, benimm dich!«
Eines Abends saßen wir zusammen auf einem Hügel hinter der Stadt, als plötzlich ein gewaltiger Feuerschein gegen den Himmel schlug und nach zwei oder drei Minuten verblaßte. Im nächsten Augenblick erzitterte der Boden unter uns wie nach einem Erdbeben, und in der Ferne hörten wir einen dumpfen Krach.
»Eine Explosion auf der Eisenbahn,« rief ich aus, »laß uns hinrennen.« Und wir sausten los. Eine Weile rannte Gertie ebenso schnell wie ich, aber nach der ersten Viertelmeile mußte ich den Laufschritt hemmen, um sie nicht zu weit zurückzulassen. Und doch war sie für ein Mädel kräftig und schnell genug. Wir schlugen einen Fußpfad bei den Gleisen ein, denn wir fanden es zu gefährlich, über die Schwellen zu springen. Wir hatten mehr als eine Meile zurückgelegt, als wir die Feuersbrunst vor uns sahen und eine Anzahl von Gestalten gegen den Hintergrund von Glut.
In einigen Minuten standen wir vor drei oder vier brennenden Eisenbahnwagen und dem Trümmerhaufen einer Lokomotive.
»Wie schrecklich!« rief Gertie aus. – »Laß uns über die Hecke springen, um es uns in der Nähe anzusehen«, schlug ich vor. Im nächsten Augenblick kletterte ich am Zaunpfahl hoch. Aber Gerties Röcke hinderten sie daran, mir nachzukommen. Als sie verzweifelt dastand, kam mir ein großartiger Gedanke. »Klettere auf den ersten Querbalken und dann auf den zweiten,« rief ich ihr zu, »und ich heb' dich schon herüber, schnell.«
Sie schwang sich sofort auf den Balken, und während sie zögernd mit dem einen Fuß auf dem ersten und mit dem zweiten auf dem oberen Balken stand und die Hand auf meinen Kopf stützte, packte ich sie und hob sie herüber. Meine Hände griffen unter ihr Kleid und preßten sich in ihren Körper.
»Laß das«, rief sie zornig aus. Ich gehorchte langsam und zögernd. Sie ließ sich jedoch nicht besänftigen. Ich nahm sie an der Hand, rief ihr zu: »Komm schnell!« und zog sie mit zu dem flammenden Trümmerhaufen.
In Kürze hörten wir, was geschehen war. Ein Güterzug, mit Ölfässern beladen, stand auf der Weiche. Er begann durch seine eigene Schwere hinabzugleiten und rannte in den Expreßzug aus Irland auf der Strecke London-Holyhead hinein. Als die beiden zusammenstießen, purzelten die Ölfässer über die Lokomotive des Expreßzuges, fingen dabei Feuer und gossen die Flammen über die ersten drei Wagen hinab. In kürzester Zeit waren Wagen und Insassen zu Asche verbrannt. In dem vierten und fünften Wagen wurden nur wenige Menschen verbrannt und angesengt. Mit aufgerissenen Augen sahen wir, wie die Scharen der Arbeiter die Leichen wie verbrannte Klötze herausholten und sie ehrfürchtig am Wegrande aufbahrten. Ungefähr vierzig Leichen wurden, wenn ich mich nicht irre, aus diesem Brandopfer herausgeholt.
Plötzlich besann sich Gertie darauf, wie spät es war, und Hand in Hand schlugen wir den Heimweg ein. »Sie werden mit mir schimpfen, daß es so spät ist,« sagte Gertie, »es ist ja schon nach Mitternacht.« – »Wenn du ihnen erzählst, was du gesehen hast,« erwiderte ich, »werden sie sich nicht wundern, daß wir gewartet haben.« Als wir uns trennten, sagte ich: »Liebe Gertie, ich möchte dir so danken –«. – »Wofür denn?« fragte sie kurz. – »Du weißt ja, du warst so lieb zu mir –« Sie schnitt mir ein Gesicht und hüpfte die Treppen hinauf.
Langsam kehrte ich nach Hause zurück und wurde zum Helden des Tages, als ich am nächsten Morgen die Geschichte des Brandes erzählte.
Die gemeinsame Erfahrung bestärkte meine Freundschaft mit Gertie. Sie ließ sich von mir küssen und sagte mir, daß ich »süß« sei, und einmal ließ sie mich sogar ihre Brüste sehen, als ich ihr sagte, daß ein anderes Mädchen (ich sagte ihr nicht, wer es war) es auch getan habe. Ihre Brüste waren fast ebenso groß wie die meiner Schwester und rund und fest. Ich hatte langsame, aber sichere Fortschritte zu buchen, denn die Beharrlichkeit bringt einen immer ans Ziel, aber die Weihnachtsferien gingen leider zu Ende, und obwohl ich Ostern nach Rhyl zurückkehrte, habe ich Gertie nie wieder gesehen.
Als ich gerade dreizehn Jahre geworden war, versuchte ich, hauptsächlich aus Mitleid, eine Revolte der »Füchse« zu veranstalten, und hatte zuerst auch einen Erfolg erzielt, bis einige der kleinen Buben ausplauderten und ich als der Rädelsführer tüchtig verprügelt wurde. Die Klassenführer warfen mich mit dem Gesicht auf ein langes Pult, ein Knabe setzte sich auf meinen Kopf und der andere auf meine Füße, und Jones hieb mit der Gerte auf mich los. Ich ertrug es ohne einen Klagelaut, aber ich kann kaum den Sturm von Wut und Haß beschreiben, der in mir kochte. Glauben englische Väter wirklich, daß so etwas zur Erziehung gehört? Ich hatte Mordgedanken. Als sie mich losließen, sah ich Jones an, und wenn Blicke töten könnten, hätte er nicht mehr lange zu leben gehabt. Er schlug noch auf mich ein, ich wich dem Stoß aus und ging, um Rachepläne zu schmieden.
Jones war der Führer der ersten Elf des Krickets, und ich war der einzige aus den Unterklassen, der zu den Elf zugelassen war. Kurz darauf kam eine Mannschaft aus einer andern Schule, um mit uns zu spielen. Die Führer begrüßten sich vor dem Zelt, und da der ältere Knabe aus irgendeinem Grunde nicht fertig war, sollte ich den neuen Ball geben. Einige Lehrer standen in der Nähe. Jones verneigte sich vor seinem Gegner und sagte sehr höflich: »Wenn Sie damit einverstanden sind, können wir jetzt beginnen.« Der andere verneigte sich lächelnd. Meine Gelegenheit war gekommen:
»Mit dir spiele ich nicht, du Biest!« rief ich aus und warf den Ball Jones ins Gesicht.
Er wich geschickt aus, warf den Kopf beiseite und entging so der vollen Wucht des Schlages. Trotzdem ritzte ihm der Saum des neuen Balles die Haut an der Backe auf. Alle waren starr vor Staunen. Nur wer die Stärke der englischen Konvention kennt, kann sich die Sensation vorstellen. Jones selbst wußte nicht, was er tun sollte. Er nahm sein Taschentuch heraus und wischte sich das Blut ab. Ich ging langsam weg. Ich hatte das oberste Gesetz der Schuljungenehre gebrochen, nie Streitigkeiten einem Lehrer, geschweige denn den Jungen und Lehrern einer anderen Schule zu verraten. Ich hatte auch in breitester Öffentlichkeit gesündigt. Ich hatte nichts weiter als strengste Mißbilligung zu erwarten.
Es war bei mir eine Verzweiflungstat. Seit dem Zusammenbruch der »Fuchsenrevolte« war ich furchtbar unglücklich, denn die jüngern Knaben hatten sich von mir zurückgezogen, und die älteren vermieden es, mit mir zu sprechen, und wenn sie mich anreden mußten, nannten sie mich mit dem irischen Spottnamen »Pat«.
Ich fühlte mich geächtet und war so grenzenlos einsam und elend, wie nur die Verstoßenen und Geächteten sein können. Ich war auch sicher, daß man mich ausweisen würde, und war auf die schärfste Mißbilligung meines Vaters gefaßt. Er stellte sich immer auf die Seite der Autoritäten und Lehrer. Die Zukunft sollte jedoch nicht so düster werden, wie meine Einbildung sie mir malte.
Der Mathematiklehrer war ein junger Cambridge-Student von vielleicht sechsundzwanzig Jahren namens Stackpole. Ich hatte ihn eines Tages um Erklärung eines Algebraproblems gebeten, und er war sehr nett zu mir gewesen. Als ich an jenem fatalen Nachmittage gegen sechs Uhr in die Schule zurückkehrte, traf ich ihn zufällig am Saum des Spielplatzes, und mit einem bißchen Mitgefühl zog er aus mir meine ganze Geschichte heraus.
»Ich will ausgewiesen werden, ich hasse diese teuflische Schule«, schrie ich. Der ganze Zauber der irischen Schule gärte in mir. Ich vermißte das freundschaftliche Verhältnis der Jungen untereinander und der Lehrer und in erster Linie die phantastischen Märchen von Feen und Elfen, die uns von unseren Ammen beigebracht und nur halb geglaubt wurden und doch das Leben bereicherten und durchglühten – all dies war für mich verloren. Mein Kopf war von Geschichten von Gespenstern, Feenköniginnen und Helden erfüllt, halb der Erinnerung, halb der Phantasie entsprungen, die mich bei den irischen Knaben zu einem so viel begehrten Erzähler machten und mir bei den englischen nur Spott einbrachten.
»Wie schade, wenn ich es gewußt hätte, daß du auf der Liste der ›Füchse‹ stehst,« sagte Stackpole, als ich ihm alles erzählt hatte, »hätte ich dem schon früher abhelfen können.« Und er ging mit mir in den Schulraum, strich mich aus der Liste der »Füchse« und schrieb meinen Namen in die erste mathematische Abteilung ein.
»Nun,« sagte er lächelnd, »jetzt bist du in der Oberschule, in die du gehörst. Ich werde jetzt wohl besser zum Doktor gehen und ihm erzählen, was ich getan habe. Sei nicht so niedergeschlagen, Harris,« fügte er hinzu, »es wird sich schon alles einrenken.«
Am nächsten Tage geschah nichts weiter, als daß mein Name auf der Liste der ersten Elf gestrichen wurde. Es wurde mir gesagt, daß Jones mich tüchtig verprügeln wolle, ich verblüffte jedoch den Überbringer dieser Nachricht mit den Worten:
»Wenn er mich anrührt, steche ich ihm ein Messer in die Rippen, du kannst's ihm ausrichten!« In der Tat jedoch wurde ich boykottiert; und es tat mir am meisten weh, daß es die Schüler der Unterklassen waren, die sich als die kältesten erwiesen, gerade die Jungen, für die ich gekämpft hatte. Das gab mir einen bitteren Vorgeschmack dessen, was mir immer und immer wieder mein ganzes Leben hindurch begegnen sollte.
Ich habe hier manches harte Wort über das englische Schulleben gesagt. Es hatte jedoch für mich zwei große, versöhnende Züge. Der eine war die Bibliothek, die jedem Knaben offen stand, und der andere das physische Training auf den Spielplätzen, die verschiedenen athletischen Übungen und die Gymnastik. Die Bibliothek bedeutete für mich monatelang Walter Scott. Wie recht George Eliot hatte, als sie von ihm sagt, daß »er die Freude in so viele junge Leben bringe!« Dickens jedoch konnte ich nicht vertragen, weder als Knabe noch in meinem späteren Leben. Seine »Tale of Two Cities« und »Nicholas Nickleby« hielt ich damals für sein Bestes und hatte nie den Wunsch, mein Urteil zu revidieren, nachdem ich in meinen Studententagen »David Copperfield« gelesen hatte und fand, daß dort die Männer durch einen Namen, eine Geste oder eine Phrase gemalt wurden und Frauen durch ihre Bescheidenheit. – »Das Talent eines bloßen Karikaturenzeichners!« sagte ich mir. »Auf seiner Höhe ein zweiter Hogarth!«
Natürlich verschlang ich die Romane und Abenteuergeschichten, aber nur einige machten auf mich einen tiefen Eindruck. »Die Schimmeljagd« von Mayne Reid lebt noch in mir in den Liebesszenen mit der spanischen Heldin, und Marryats »Peter Simple«, den ich hundertmal verschlungen hatte und immer wieder lesen könnte. Denn die Charakterzeichnung von Chucks, dem Bootsmann, ist meiner unmaßgeblichen Meinung nach besser als alles, was Dickens je schrieb. Ich erinnere mich, wie verblüfft ich zehn Jahre später war, als Carlyle mit Verachtung von Marryat sprach. Ich wußte, daß er im Unrecht war, wie ich jetzt vielleicht Dickens Unrecht tue. Denn schließlich überlebt einer nicht drei Generationen ohne wirkliches Verdienst.
In meinen beiden Schuljahren hatte ich jedes Buch in der Bibliothek gelesen, und einige davon liebe ich bis zum heutigen Tage. Ich profitierte auch durch die Spiele und Körperübungen. Ich war nicht sehr gut beim Kricketspiel, da ich zu kurzsichtig war und mir manchen Puff durch einen unvermuteten Astigmatismus zuzog. Aber ich war sehr gut im Ballwerfen. Ich hatte auch große Vorliebe für Fußball und zeichnete mich darin aus. Jede Körperübung machte mir große Freude. Ich konnte besser springen und rennen als irgendein Knabe in meinem Alter und war im Ringkampf und später im Boxen einer der Besten in der Schule. In allen Spielen haben die Engländer ein hohes Ideal von Anstand und Höflichkeit. Nie sicherte sich einer einen ungerechten Vorteil, und Höflichkeit war oberstes Gesetz. Wenn eine andere Schule uns eine Mannschaft schickte, um mit uns Kricket oder Fußball zu spielen, wurden nach Schluß des Spieles die Sieger von den Besiegten bejubelt, und unser Führer pflegte in der Regel dem Führer der anderen für seinen liebenswürdigen Besuch zu danken. Diese Höflichkeiten hatte ich in den irischen Volksschulen nicht gesehen. Es war auf Jahre hinaus das einzige, worin ich die Überlegenheit des John Bull zugeben mußte.
Das Ideal eines Gentleman ist kein sehr hohes. Emerson sagt irgendwo, daß die Entwicklung des Gentleman das hauptsächliche geistige Produkt der letzten zwei oder drei Jahrhunderte bildet. Aber die Konzeption selbst scheint mir das Ideal zu verkümmern. Ein Gentleman ist für mich etwas Bruchstückartiges und umfaßt nicht das Ganze. Man sollte ein Gentleman sein und außerdem etwas mehr: ein Denker, ein Führer oder ein Künstler.
Die englischen Spielregeln lehrten mich den Wert und die Notwendigkeit der Höflichkeit. Und die gymnastischen Übungen stählten und stärkten meine Disziplin der körperlichen Bedürfnisse, sie gaben meinem Geiste und meiner Vernunft die Beherrschung meiner selbst. Zu gleicher Zeit lehrten sie mich die Gesetze der Gesundheit und die Notwendigkeit, ihnen zu gehorchen. Ich hatte herausgefunden, daß ich schnell abmagern konnte, wenn ich wenig beim Essen trank, und daß ich nachher besser sprang denn je. Aber ich lernte auch, daß dem eine Grenze gesetzt war, denn wenn ich zu sehr abmagerte, begann ich an Kraft zu verlieren. Die Gymnastik brachte mir bei, was die Franzosen das juste milieu nennen, den Mittelweg der Mäßigung.
Als ich ungefähr vierzehn Jahre alt war, entdeckte ich, daß, wenn ich vor dem Schlafengehen an Liebe dachte, die Nacht auch von Liebesträumen erfüllt war. Und diese Erfahrung lehrte mich noch etwas anderes. Wenn ich eine Lektion vor dem Schlafengehen wiederholte, wußte ich sie am nächsten Morgen auswendig. Es scheint, daß der Geist selbst im Unterbewußtsein weiterarbeitet. Seit jener Zeit habe ich oft im Schlaf mathematische und Schachprobleme gelöst, mit denen ich bei Tage nicht fertig werden konnte.