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Ein verstohlener Kuß und eine flüchtige Umarmung, als wir uns auf Deck nachts trafen, war alles, was ich von Jessie für den Rest der Reise bekam. Eines Abends sah man auf dem Lande Lichter flackern, die Passagiere strömten in Scharen auf das Deck, das Schiff verlangsamte seine Fahrt. Die Kabinenpassagiere gingen dann wieder wie gewöhnlich nach unten, aber Hunderte von Emigranten saßen wach wie ich und beobachteten, wie die Sterne den Himmel herunterglitten und das Morgendämmern schließlich mit silbernem Leuchten und verblüffenden Offenbarungen heraufkroch. Ich erinnere mich noch an den Schauer, den ich empfand, als ich die großen Wasserwege dieses landumschlossenen Hafens sah, den Long-Island-Sund von der einen Seite, wie ein Meer ausgestreckt, den herrlichen Hudson-River mit seinen Palisaden auf der andern, während sich vor mir der East-River fast ein Meile breit auftat. Welch ein Eintritt in eine neue Welt! Ein herrlicher und sicherer Ozeanhafen, der auch eine Sammelstelle der großen Wasserwege ins Land hinein bildete.
Man konnte sich keine schönere Lage für eine Welthauptstadt ausdenken. Ich war durch die feierliche Größe bezaubert, die offensichtliche Bestimmung dieser Königin-Stadt der Gewässer.
Man zeigte mir die Old Battery, Governor's Island, das Gefängnis und die Brücke, die man nach Brooklyn baute. Plötzlich ging Jessie mit ihrem Vater am Arme an mir vorbei und warf mir einen leuchtenden, haftenden Blick versprechender Liebe zu.
Ich erinnere mich an nichts mehr, bis wir gelandet waren und der alte Bankier kam, um mir zu sagen, daß er meinen Koffer aus der H.-Abteilung herausnehmen ließ, um ihn unter S zwischen sein Gepäck zu verstauen.
»Wir werden in dem Fifth Avenue Hotel am Madison Square wohnen. Es wird uns dort gut gehen.« Und er lächelte mich selbstzufrieden an. Ich lächelte ebenfalls und dankte ihm, aber ich hatte nicht die geringste Absicht, in seiner Gesellschaft zu bleiben. Ich ging auf das Schiff zurück und dankte Dr. Keogh von ganzem Herzen für seine Güte. Er gab mir seine Adresse in Newyork, und ich erfuhr von ihm, daß, wenn ich den Schlüssel von meinem Koffer behielte, keiner an ihn herangehen konnte. Er würde auf dem Zolldepot liegen bleiben, bis ich ihn abholte.
In einer Minute war ich wieder in dem langen Schuppen im Dock und wanderte fast bis zum Ende, bis ich auf eine Treppe stieß. »Ist dies der Weg in die Stadt?« fragte ich, und ein Mann erwiderte: »Jawohl!« Ich warf noch einen schnellen Blick im Kreise herum, um zu sehen, ob ich nicht beobachtet wurde, rannte im Augenblick die Treppen herunter und stand auf der Straße. Ich lief dann geradeaus an zwei oder drei Querstraßen vorbei und erfuhr auf meine Frage, daß die Fifth Avenue vor mir läge. Als ich auf der Fifth Avenue war, begann ich freier zu atmen. »Keine Väter mehr für mich!« Der alte Graubart, der mir lästig war, fiel ohne Bedauern dem Vergessen anheim. Heute weiß ich, daß er eine bessere Behandlung verdient hatte. Vielleicht hätte ich wirklich besser getan, wenn ich seine gütige, großzügige Hilfe angenommen hätte, aber ich versuche hier die bloße ungeschminkte Wahrheit zu schildern und muß daher sagen, daß die Zuneigung der Kinder viel geringer ist, als sich die meisten Eltern vorstellen. Nicht einen einzigen Gedanken verschwendete ich auf meinen Vater, hatte selbst nach meinem Bruder Vernon, der immer so gut zu mir gewesen war und meiner übermäßigen Eitelkeit Vorschub leistete, keine Sehnsucht. Das neue Leben rief mich. Ich bebte in Erwartung und Hoffnung.
Auf der Fifth Avenue sah ich den großen Platz und das Fifth Avenue Hotel, aber ich grinste nur und hielt mich rechts, bis ich den Central Park erreichte. Dort in der Nähe – ich kann mich nicht genau erinnern wo, aber ich glaube, es muß dort gewesen sein, wo heute das Plaza Hotel steht – war ein kleines Holzhaus mit einem niedrigen Hintergebäude an der andern Ecke des Bauplatzes. Während ich da hineinstarrte, kam eine Frau mit einem Eimer heraus und ging zum Hinterhaus herüber. In einigen Augenblicken kehrte sie zurück und sah mich über den Zaun gucken.
»Können Sie mir, bitte, etwas zu trinken geben?« fragte ich.
»Gern«, erwiderte sie mit einem starken irischen Akzent. »Kommen Sie nur herein.« Und ich folgte ihr in die Küche.
»Sie sind irisch«, sagte ich und lächelte ihr zu. »Das bin ich,« sagte sie, »wie haben Sie das erraten?« – »Weil ich auch in Irland geboren bin.« – »Ist nicht möglich!« rief sie pathetisch aus, mehr aus Freude, als um mir zu widersprechen. »Ich bin in Galway geboren«, fuhr ich fort. Sie wurde sehr lieb zu mir, goß mir warme Kuhmilch ein, und als sie hörte, daß ich nicht gefrühstückt hatte, und sah, wie hungrig ich war, drängte sie mich, zu essen, setzte sich zu mir und hörte bald meine ganze Geschichte oder jedenfalls genug davon, um immer wieder in laute Verwunderungsschreie auszubrechen.
Sie erzählte mir ihrerseits, wie sie Mike Mulligan geheiratet hatte, einen Hafenarbeiter, der gut verdiente und ein guter Mann war, aber hier und da einen Tropfen über den Durst trank, wie es oft bei einem Manne der Fall ist, der in den Kneipen verführt wird. Diese Kneipen waren, wie ich von ihr erfuhr, der Ruin für die besten Iren, die »doch die gutmütigsten Männer sind« ... Und das heimatlich anmutende Gespräch floß in bezaubernder Weise fort.
Als das Frühstück vorbei war und sie alles abgeräumt hatte, stand ich auf und bedankte mich, um wegzugehen, aber Frau Mulligan wollte nichts davon wissen. »Sie sind ein Kind«, sagte sie, »und kennen Newyork nicht. Es ist ein furchtbarer Ort. Sie müssen warten, bis Mike nach Hause kommt und –«
»Aber ich muß mir irgendwo eine Unterkunft suchen,« sagte ich, »ich habe Geld.«
»Sie werden hier schlafen,« unterbrach sie mich ganz entschieden, »und Mike wird Sie schon auf die Beine stellen. Er kennt Newyork wie seine eigene Tasche, und Sie sind uns willkommen wie Blumen im Mai.«
So blieb mir nichts anderes übrig, als dazubleiben und mir alle Schauergeschichten über Newyork anzuhören von »Raufbolden, Messerstechern und Frauenzimmern, die noch schlimmer sind – der Teufel mag sie holen!«
Dann, als die Zeit heranrückte, aß ich mit Frau Mulligan zu Mittag und ging mit ihrer Erlaubnis in den Park. »Sehen Sie zu, daß Sie um sechs zurück sind, sonst schicke ich Mike nach Ihnen aus«, fügte sie lachend hinzu.
Ich ging ein wenig im Park auf und ab und dann in die Stadt, um die Adresse in der Nähe der Brooklyn-Bridge zu suchen, die Jessie mir gegeben hatte. Es war eine häßliche Straße. Ich fand bald das Haus von Jessies Schwester, ging in ein nahe gelegenes Restaurant und schrieb einige Zeilen an meine Liebste, die sie, wenn nötig, auch zeigen konnte, in denen ich meinen Besuch für den Achtzehnten oder die nächsten zwei Tage ankündigte, nachdem das Schiff, in dem wir angekommen waren, seine Rückreise nach Liverpool angetreten hatte. Nach Erledigung dieser Pflicht, die mich alles mögliche für den Achtzehnten, Neunzehnten und Zwanzigsten erhoffen ließ, ging ich nach der Fifth Avenue herüber und schlug dann meinen Rückweg ein. Jedenfalls kostete mich meine jetzige Unterkunft nicht viel.
Als ich am Abend zurückkehrte, wurde ich Mike vorgestellt. Er war ein großer, gut aussehender Ire, der seine Frau für ein Wunder hielt und über alles, was sie tat, entzückt war. »Mary«, sagte er, mir zublinzelnd, »ist die beste Köchin der Welt. Und wenn sie nicht mit einem so umspringen würde, sobald man nur einen Tropfen über den Durst getrunken hat, wäre sie die beste Frau auf Gottes Erde. Nun habe ich sie aber so geheiratet und habe es nie bedauert, nicht wahr, Mary?« – »Du hast auch keinen Grund, Mike Mulligan.«
Mike hatte am nächsten Morgen nichts Besonderes zu tun, und so versprach er mir, meinen kleinen Koffer vom Zollhaus zu holen. Ich gab ihm den Schlüssel. Er bat mich ebenso inständig wie seine Frau, bei ihnen zu bleiben, bis ich Arbeit gefunden hätte, ich sagte ihnen, wie sehr es mir daran lag, möglichst bald damit zu beginnen, und Mike versprach mir, mit einigen seiner Freunde zu reden, um zu sehen, was sich machen ließ.
Am nächsten Morgen sprang ich um halb sechs aus dem Bett, als ich hörte, daß Mike aufgestanden war, und ging mit ihm die Seventh Avenue herunter, bis er auf den Omnibus stieg. Zwischen halb acht und acht drängte sich ein Strom von Menschen in die Stadt und in die Geschäfte. An vielen Ecken standen Schuhputzer. Ich merkte, daß einer von ihnen allein war, während drei Kunden vor ihm wartend standen.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte ich. Der Schuhputzer sah mich an. »Meinetwegen!« und ich ergriff die Bürsten und machte mich an die Arbeit. Ich war mit den beiden gerade fertig, als er den ersten beendete. Er flüsterte mir zu: »Wir teilen!« als der nächste Mann kam, und zeigte mir, wie man den Polierlappen benutzt. Ich zog meine Jacke und Weste aus und ging an die Arbeit. In den nächsten anderthalb Stunden hatten wir beide alle Hände voll zu tun. Dann begann das Gedränge ein wenig abzuflauen, ich hatte jedoch schon anderthalb Dollar verdient. Allison, der Schuhputzer, sagte mir dann, er würde mir gern zu denselben Bedingungen Arbeit geben. Ich versprach ihm, zur Stelle zu sein und mir alle Mühe zu geben, solange ich keine andere Arbeit gefunden hatte. Ich hatte drei Shilling verdient, und da ich gefunden hatte, daß man schon für drei Dollar in der Woche Pension bekam, merkte ich, daß ich in knapp zwei Stunden mir meinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Die letzte Angst fiel von mir ab.
Mike hatte einen freien Tag, und so kam er zum Mittagessen nach Hause und brachte gute Nachrichten. Man suchte Arbeitskräfte, um unter Wasser in Eisenkästen an der Brooklyn Bridge zu arbeiten, und man zahlte fünf bis zehn Dollar täglich.
»Fünf Dollar?« rief Frau Mulligan aus. »Es muß gefährlich oder ungesund oder sonst so etwas sein – du willst doch das Kind nicht in so etwas hineinstecken?«
Mike entschuldigte sich sehr; aber die Gefahr, wenn Gefahr da war, reizte mich fast ebenso wie die hohe Bezahlung. Meine einzige Angst war nur, sie würden mich für zu klein oder zu jung halten. Ich hatte Frau Mulligan gesagt, daß ich sechzehn sei, denn ich wollte nicht wie ein Kind behandelt werden. Ich zeigte ihr nun die achtzig Cents, die ich durch Schuhputzen verdient hatte, und sie riet mir, dabeizubleiben und mich nicht durch die Arbeit unter Wasser verlocken zu lassen. Aber die versprochenen fünf Dollar täglich waren für mich ausschlaggebend.
Am nächsten Morgen nahm mich Mike nach der Brooklyn Bridge kurz nach fünf mit, um mit dem Aufseher zu sprechen. Mike wollte man sofort anstellen, aber über mich schüttelte der Aufseher den Kopf. »Lassen Sie's mich versuchen,« bat ich ihn, »Sie werden sehen, wie gut ich es mache.« – »Schön,« sagte er nach einer Pause, »vier Schichten sind bereits mit zu wenig Personal unterwegs, versuchen Sie's!«
Ich habe über die Arbeit und ihre Gefahren ausführlich in meinem Roman »Die Bombe« erzählt, hier möchte ich nur einige Einzelheiten hinzufügen, um zu zeigen, was die Arbeiter zu leiden hatten.
In dem kahlen Schuppen, in dem wir uns für die Arbeit vorbereiteten, erzählte man mir, daß man nicht lange dabeibleiben könne, ohne »Krämpfe« zu kriegen. Es schien ein konvulsivischer Anfall zu sein, der den Körper zusammenkrümmte und einen manchmal lebenslang zum Invaliden machte. Sie erklärten mir in Kürze die ganze Prozedur. Wir hatten in gewaltigen, glockenförmigen Eisenkästen zu arbeiten, die auf den Grund des Flusses heruntergelassen wurden, vollgepumpt mit komprimierter Luft, um das Hereindringen des Wassers zu verhindern. Oben in einem solchen Kasten befindet sich ein Raum, den man die Materialkammer nennt, in die der herausgeholte Schlamm verstaut wird. Auf der Seite der Caissons ist ein zweiter Raum, Luftsperre genannt, in dem man »komprimiert« wird. Während die komprimierte Luft einströmt, absorbiert das Blut die Luftgase, bis die Spannung der Gase im Blut gleich der Spannung in der Luft wird. Wenn dieses Gleichgewicht erreicht ist, können die Männer in den Caissons stundenlang arbeiten, ohne Schaden zu erleiden, wenn nur genügend frische Luft hereingepumpt wird. Die schlechte Luft schien an allem schuld zu sein. »Wenn sie nur gute, frische Luft reinpumpen würden, wär's ja ganz in Ordnung! Aber das würde etwas Zeit und Mühe kosten, und Menschenleben sind billiger.« Ich sah, daß die Männer mich warnen wollten, weil sie mich für zu jung hielten, und ich spielte den Unbekümmerten.
Als wir in die Luftsperre hineinkamen und man einen Lufthahn der komprimierten Luft nach dem anderen aufdrehte, drückten die Männer die Hände an die Ohren, und ich tat bald dasselbe, denn der Schmerz war sehr heftig. Das Trommelfell wird oft dabei eingedrückt und platzt, wenn die komprimierte Luft zu schnell hereinströmt. Ich fand bald heraus, daß die beste Art, dem Druck zu begegnen, darin bestand, Luft zu schlucken und sie ins Mittelohr zu dirigieren, wo sie wie ein Tampon an der Innenseite des Trommelfells wirkte und so den Druck von außen verringerte.
Wir brauchten ungefähr eine halbe Stunde, um komprimiert zu werden, und diese halbe Stunde gab mir manches zu denken. Als die Luft ganz komprimiert war, öffnete sich die Tür der Luftsperre, und wir gingen mit Hacke und Schaufel zur Arbeit auf den Kiesgrund hinaus. Ich bekam heftige Kopfschmerzen. Wir waren unserer sechs, mit entblößtem Oberkörper in der kleinen Eisenkammer arbeitend bei einer Temperatur von mehr als 180° F. In fünf Minuten strömte der Schweiß in Bächen an uns herab, und dabei standen wir in dem eisigen Wasser, das nur durch den furchtbaren Luftdruck am Steigen verhindert wurde. Kein Wunder, daß man glaubte, vor Kopfschmerzen blind zu werden! Die Männer arbeiteten nicht mehr als zehn Minuten hintereinander. Ich bohrte ohne Pause weiter, entschlossen, mich zu bewähren, um dauernde Arbeit zu bekommen. Nur ein Mann, ein Schwede namens Anderson, arbeitete so schwer wie ich. Ich war sehr froh, als ich fand, daß wir beide zusammen mehr arbeiteten als die vier anderen. Die geleistete Arbeit wurde jede Woche von einem Inspektor geschätzt, wie er mir sagte. Anderson war dem Aufseher bekannt und bekam als Führer unserer Arbeitskolonne die Hälfte des Lohnes als Zuschlag. Er versicherte mir, daß ich so lange bleiben könnte, wie es mir gefiel, er gab mir jedoch den Rat, gegen Ende des Monats aufzuhören, denn es sei zu ungesund. In erster Linie dürfte ich nicht trinken und müßte meine ganze verfügbare Zeit im Freien verbringen. Er war mir gegenüber die Güte selbst wie auch alle andern. Nach einer Arbeit von zwei Stunden gingen wir wieder in die Luftsperre, um langsam dekomprimiert zu werden. Die Pression in unseren Adern mußte allmählich auf den gewöhnlichen Luftdruck gebracht werden. Die Männer begannen sich anzuziehen und reichten eine Flasche Schnaps herum. Aber obwohl ich vor Kälte wie eine nasse Ratte zitterte und mich grenzenlos niedergeschlagen und schwach fühlte, rührte ich den Schnaps nicht an. Im Schuppen oben trank ich mit Anderson eine Tasse heißen Kakao, worauf das Zittern aufhörte und ich bald imstande war, den schweren Nachmittag zu überstehen.
Ich hatte keine Ahnung, daß man sich nach der Dekomprimierung so elend fühlen konnte, aber ich befolgte Andersons Rat und ging ins Freie, sobald es mir gelang, und als ich am Abend zu Hause angekommen war und mich umgekleidet hatte, fühlte ich mich wieder ganz kräftig, aber der Kopfschmerz wollte nicht ganz vergehen, und die Ohrenschmerzen kamen immer wieder, und bis zum heutigen Tage erinnert mich eine leichte Taubheit an diese Arbeitszeit unter Wasser.
Ich ging für eine halbe Stunde in den Central Park. Das erste hübsche Mädchen, dem ich begegnete, erinnerte mich an Jessie. In einer Woche werde ich sie sehen können und ihr sagen, wie ich mich durchschlug. Und ich fühlte, daß sie ihr Versprechen halten würde. Die bloße Hoffnung öffnete mir alle Tore ins Märchenland. In der Zwischenzeit konnte mir nichts das stolze Bewußtsein nehmen, daß ich mit meinen fünf Dollar den Unterhalt für zwei Wochen an einem Tage verdient hatte. Die Arbeit eines Monats würde ein Jahr lang mein Leben bestreiten.
Als ich zurückkehrte, sagte ich Mulligans, daß ich für meine Unterkunft zahlen wollte: »Ich würde mich wohler fühlen, wenn Sie mich zahlen ließen!« und schließlich gingen sie darauf ein, obwohl Frau Mulligan drei Dollar die Woche für zuviel hielt. Ich war froh, als alles geregelt war und ich früh zu Bett ging, um mich gut auszuschlafen. Drei oder vier Tage lang ging alles ganz gut, aber am fünften oder sechsten Tage sprang uns ein Wasserstrahl entgegen, und wir wurden bis auf die Brust naß, bevor der Luftdruck so erhöht werden konnte, um das steigende Wasser niederzuhalten. Infolgedessen schoß ein furchtbarer Schmerz durch meine beiden Ohren. Ich preßte meine Hände fest heran und saß eine kleine Weile still. Glücklicherweise war die Schicht fast vorbei, und Anderson kam mit mir zum Omnibus. »Es wäre besser, wenn Sie Schluß machen würden. Ich kannte Leute, die dabei taub wurden.«
Der Schmerz war furchtbar, aber jetzt nahm er langsam ab, und ich war entschlossen, nicht nachzugeben. »Könnte ich einen Tag aussetzen?« fragte ich Anderson. »Selbstverständlich,« nickte er, »Sie sind der beste von der ganzen Schicht, der beste, den ich je gesehen habe, ein starkes, kleines Pony!«
Frau Mulligan sah sofort, daß etwas nicht in Ordnung war, und kurierte mich mit ihrem Hausmittel – einer entzweigeschnittenen Zwiebel, die mit einem Flanellumschlag dicht an beide Ohren herangedrückt wurde. Es wirkte wie ein Zauberstab. In zehn Minuten war der Schmerz verschwunden, dann goß sie mir noch ein wenig warmes Öl ins Ohr, und in einer Stunde ging ich im Park wie gewöhnlich spazieren. Trotzdem war die Angst vor dem Taubwerden in mir, und ich war sehr stolz, als Anderson mir sagte, er hätte sich bei dem Unternehmer beklagt, und wir sollten tausend Fuß reiner Luft mehr bekommen. »Es wird einen großen Unterschied ausmachen«, meinte Anderson, und er hatte recht, aber es war trotzdem nicht genügend Ich habe später in Deutschland erfahren, daß der Staat zehnmal soviel reiner Luft vorschreibt, wie wir es hatten, und dort werden auch die schweren Krankheiten, die bei uns achtzig Prozent in drei Monaten befielen, auf acht Prozent herabgemindert..
Eines Tages, als gerade die Dekompression zu Ende ging, fiel ein Italiener namens Manfredi hin, wand sich in Krämpfen und schlug mit dem Gesicht auf den Boden, bis das Blut ihm aus Mund und Nase quoll. Als wir ihn in den Schuppen brachten, waren seine Beine ineinandergeflochten wie ein Haarzopf. Der Arzt mußte ihn ins Spital bringen lassen. In diesem Augenblick beschloß ich, nicht länger als einen Monat bei der Arbeit zu bleiben.
Gegen Ende der ersten Woche bekam ich eine Zeile von Jessie, die mir mitteilte, ihr Vater fahre am Nachmittage ab und sie könnte mich am Abend sehen. Ich ging hin und wurde Jessies Schwester vorgestellt, die zu meinem Staunen groß und stark war, ohne eine Spur von Jessies Liebreiz.
»Er ist jünger als du, Jess«, brach sie lachend aus. Eine Woche früher wäre ich bis ins Innerste verletzt gewesen, aber jetzt hatte ich mich bewährt, und so sagte ich einfach: »Ich verdiene fünf Dollar täglich, Frau Plummer, und das sagt doch genug!« Ihr Mund stand vor Staunen offen. »Fünf Dollar,« wiederholte sie, »es tut mir leid, ich – ich ...«
»Siehst du, Maggie,« unterbrach Jessie sie, »ich hab' es dir doch gesagt, so etwas hast du noch nie gesehen. Du wirst dich schon mit ihm anfreunden. Kommen Sie jetzt, wir wollen spazierengehen.« Und wir gingen hinaus.
Das Schlendern durch die Straßen mit ihr war etwas Wunderbares, und ich hatte ihr viel zu sagen. Aber es ist schwer, auf einer Newyorker Straße an einem Sommerabend den Hof zu machen, und ich brannte danach, sie zu küssen und mit Zärtlichkeiten zu überschütten. Jessie jedoch hatte einen Ausweg gefunden. »Wenn die Schwester und ihr Mann Theaterkarten hätten, würden sie ausgehen, und wir könnten allein in der Wohnung bleiben. Aber es kostet zwei Dollar, und das ist doch eine Menge, nicht?« Ich war begeistert. Ich gab ihr das Geld und verabredete mit ihr, am nächsten Abend um acht Uhr bei ihr zu sein. Wußte denn Jessie, was geschehen sollte? Selbst heute bin ich mir nicht ganz sicher darüber, obwohl ich glaube, daß sie es erriet.
Am nächsten Abend wartete ich, bis die Luft rein war, und eilte zu ihr. Sobald wir allein in dem kleinen Zimmer waren, küßte ich sie und fing zu betteln an, daß sie sich ausziehen sollte. »Ich bin sicher, daß du sehr hübsch bist, aber ich möchte es doch sehen!« »Doch nicht gleich,« schmollte sie, »laß uns erst reden. Ich möchte wissen, was du machst.« Ich zog sie in den großen Lehnstuhl und hielt sie in meinen Armen. Meine Hände streichelten ihren Körper, und ich küßte ihre heißen Lippen. »Du sagst doch nichts«, meinte sie.
»Ich kann nicht«, rief ich aus und hatte meinen Entschluß gefaßt. »Komm!« Ich hob sie auf die Arme und trug sie in das Schlafzimmer hinein. Ich begann die Knöpfe ihres Kleides zu öffnen, sie wehrte sich ein wenig, dann half sie mir, und ihr Kleid fiel zu Boden. Ich bemerkte, daß ihre Höschen neu waren. Bald stand sie im Hemdchen und schwarzen Strümpfen. »Hast du noch nicht genug, du liebe Neugier?« fragte sie und zog das Hemdchen enger zusammen. »Nein, das Schöne muß schleierlos sein«, rief ich aus. Im nächsten Augenblick zögerte das Hemd ein wenig auf ihren Hüften und fiel dann im Kreise zu ihren Füßen.
Mein Herz stockte. Das Verlangen blendete mich. Meine Arme umfaßten sie und preßten ihren weißen Körper an mich. Ich hob sie aufs Bett. Sie wand sich in meiner Umarmung. Ich zitterte vor Aufregung. Ich hätte sie schlagen können, weil sie sich mir entzog. Mit einem Schmerzensschrei hielt sie mich zurück. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihr ihren Willen zu lassen. Ich tröstete mich, indem ich ihren Körper streichelte, plötzlich sagte sie: »Wir müssen aufstehen und uns anziehen, sie werden bald zurück sein.« Sie sprang aus dem Bett und stand da, eine vollkommene kleine Gestalt in rosigen, warmen Umrissen. Ich war entzückt; aber die verdammte kritische Fähigkeit war wach geworden. Als sie sich umdrehte, sah ich, daß sie für ihre Größe zu breit war. Ihre Beine waren zu kurz, die Hüften zu schwer. Es kühlte mich etwas ab. Sollte ich je die Vollkommenheit finden?
Zehn Minuten später hatte sie das Bett in Ordnung gebracht, wir saßen in dem kleinen Wohnzimmer, ich streichelte und küßte sie, als wir plötzlich Geräusche an der Tür hörten und ihre Schwester hereinkam.
Es gelang mir ziemlich lange nicht, einen Abend allein mit Jessie zu verbringen. Ich bat oft und oft darum, aber Jessie brauchte Ausflüchte, und ihre Schwester war sehr kühl zu mir. Ich fand bald heraus, daß Jessie sich auf ihren Rat mir vorenthielt.
Der Wunsch, Jessie vollkommen für mich zu haben, war auch einer der Gründe, warum ich die Arbeit an der Brücke aufgab, sobald der Monat um war. Ich hatte über 150 Dollar Reinverdienst in meiner Tasche und merkte, daß, obwohl die Ohrenschmerzen bald aufgehört hatten, ich etwas schwerhörig geworden war. Am ersten Morgen wollte ich im Bett liegenbleiben, um mir einen herrlich faulen Tag zu leisten, aber ich wachte wie gewöhnlich um fünf Uhr auf, und es fiel mir plötzlich ein, daß ich Allison, den Schuhputzer, aufsuchen könnte. Er hatte mehr denn je zu tun, ich warf daher meine Jacke ab und machte mich an die Arbeit. Um zehn Uhr hatten wir nichts mehr zu tun, und ich erzählte ihm von meiner Arbeit unter Wasser. Er rühmte sich, daß ihm sein Stand fast vier Dollar täglich einbrächte, an den Nachmittagen hätte er nicht viel zu tun, aber von sechs bis sieben verdiente er gewöhnlich noch eine Kleinigkeit. Er bot mir an, unter denselben Bedingungen wie früher bei ihm zu arbeiten, und ich nahm sein Angebot an.
An demselben Nachmittage ging ich mit Jessie im Park. Als wir uns auf eine schattige Bank setzten, gestand sie mir, daß ihre Schwester der Ansicht sei, wir müßten uns verloben und heiraten, sobald ich eine feste Anstellung bekommen hätte. »Eine Frau braucht ihr eigenes Heim«, sagte sie. »Ich werde es so hübsch machen, mein Lieb. Wir werden viel ins Theater gehen und ein schönes, lustiges Leben führen.«
Ich war entsetzt. In meinem Alter verheiratet! Bei Gott, nein, es schien mir absurd! Und noch dazu mit Jessie! Ich sah, daß sie hübsch und klug war, aber sie wußte nichts, hatte nie etwas gelesen. Ich konnte sie nicht heiraten. Die Idee selbst brachte mich zum Lachen. Da sie jedoch todernst war, ging ich auf alles ein, was sie sagte, betonte jedoch, daß ich erst eine dauernde Anstellung haben müßte. Ich wollte ihr auch den Verlobungsring kaufen, aber zuerst müßten wir noch einen Abend zusammen verbringen. Jessie wußte nicht, wann ihre Schwester ausgehen würde, aber sie wollte es einrichten. Unterdessen küßten wir uns unaufhörlich, dann schlenderten wir durch den Park und gingen schließlich in das große Museum.
Hier erlebte ich eine der großen Erschütterungen meines Lebens. Plötzlich blieb Jessie vor einem Bild stehen, das »das Urteil des Paris« darstellte. Paris war eine Idealgestalt jugendlicher Männlichkeit.
»Ist er nicht herrlich«, rief Jessie aus; »genau wie du«, fügte sie mit weiblicher Schläue hinzu, die Lippen wie zum Kusse gespitzt. Wenn sie es nicht in persönliche Beziehung zu mir gebracht hätte, wäre ich mir der ganzen Absurdität des Vergleichs nicht bewußt geworden. Aber Paris hatte lange, schlanke Beine, während meine kurz und dick waren, sein Gesicht war oval und die Nase gerade, während meine Nase mit breiten, beweglichen Nasenflügeln heraussprang.
Es kam mir mit plötzlicher Erleuchtung: ich war häßlich, hatte unregelmäßige Züge, scharfe Augen und eine kurze, gedrungene Gestalt. Diese Gewißheit überwältigte mich. Ich hatte vorher erfahren, daß ich zu klein war, um ein großer Athlet zu sein, jetzt merkte ich, wie häßlich ich noch obendrein aussah. Mein Mut sank. Ich kann meine Enttäuschung und meine Trauer kaum beschreiben.
Jessie fragte mich, was los sei, und schließlich erzählte ich es ihr. Sie wollte es nicht wahr haben. »Du hast eine entzückende, weiße Haut,« rief sie aus, »du bist stark und rege. Kein Mensch würde dich häßlich nennen – welch ein Gedanke!« Aber die neugewonnene Erkenntnis ließ sich nicht hinwegdisputieren und haftete mir mein Leben lang an. Sie führte oft hier und da zu irrtümlichen Folgerungen. So schien es mir zum Beispiel sicher, daß, wenn ich groß und schön wie Paris gewesen wäre, Jessie sich mir trotz ihrer Schwester gegeben hätte. Aber meine spätere Kenntnis der Frauen ließ mich daran zweifeln. Frauen sind zwar für das gute Aussehen eines Mannes sehr empfänglich; aber andere Eigenschaften wie Stärke und eine beherrschende Selbstsicherheit üben sogar einen noch größeren Reiz auf die Mehrheit der Frauen, hauptsächlich auf die stark erotisch empfindenden aus, und ich nehme eher an, daß es die Warnungen ihrer Schwester waren und ihre eigene vernünftige Angst vor dem Unabänderlichen, die Jessie vor der vollkommenen Hingabe zurückhielten. Aber der Vorgeschmack der Freuden, den ich bei ihr erfahren hatte, machte mich noch kühner und unternehmender. Die Überzeugung von meiner Häßlichkeit ließ in mir den Entschluß reifen, meinen Geist und alle andern Fähigkeiten in stärkstem Maße zu entwickeln.
Ich arbeitete jeden Morgen an unserem Stand und bekam bald regelmäßige Kunden. Hauptsächlich ein junger, gutangezogener Mann schien an mir Gefallen zu finden. Entweder von Allison oder von ihm selbst hatte ich erfahren, daß er Kendrick hieße und aus Chicago käme. Eines Morgens war er sehr schweigsam und versonnen. Schließlich sagte ich: »Fertig!«, und »Fertig!« wiederholte er versonnen. »Ich hatte an etwas anderes gedacht«, erklärte er. »Intent ...« meinte ich lächelnd. »An ein großes Geschäft dachte ich,« fuhr er fort, »aber warum sagen sie »Intent?« – »Der lateinische Satz kam mir in den Sinn,« erwiderte ich gedankenlos, »Intentique ore tenebant! sagt Vergil.«
»Großer Gott,« rief er aus, »ein Schuhputzer, der Vergil zitiert! Sie sind doch ein seltsamer Kerl! Wie alt sind Sie denn?«
»Sechzehn«, erwiderte ich. – »Sie sehen nicht danach aus,« meinte er, »aber nun muß ich eilen. Einen der nächsten Tage sprechen wir uns einmal.« Ich lächelte: »Besten Dank, mein Herr!«, und er stürmte weg.
Am nächsten Tage war er in noch größerer Eile. »Ich muß in die Stadt,« rief er ungeduldig, »ich komme schon zu spät. Fahren Sie nur schnell mal mit dem Lappen rüber! Ich muß diesen Zug erreichen.« Und er fuchtelte mit einigen Scheinen in der Hand herum. »Es ist schon gut«, meinte ich und fügte lächelnd hinzu: »Ich werde auch morgen hier sein.« Er lachte und ging ohne zu zahlen weg.
Am nächsten Morgen schlenderte ich ganz früh in die Stadt, denn Allison hatte herausgefunden, daß ein Stand mit dazugehöriger Einrichtung an der Ecke der Thirteenth Street und der Seventh Avenue zu verkaufen war, und da man ihn kannte, wollte er, daß ich mir den Betrieb dort zwischen sieben und neun ansehen sollte. Der Italiener wollte ihn verkaufen, um nach Dalmatien zurückzukehren, verlangte dreihundert Dollar dafür. Er behauptete, daß er vier Dollar täglich verdiene. Ich merkte, daß er nicht übertrieben hatte, und Allison war Feuer und Flamme, daß wir den Stand auf halbpart kauften. »Sie werden fünf oder sechs Dollar täglich herausschlagen, wenn dieser italienische Fritze vier verdient. Es ist eine sehr gute Stelle, und wenn Sie drei Dollar täglich verdienen, können Sie bald Ihren eigenen Stand haben.«
Während wir es noch besprachen, kam Kendrick an und setzte sich hin. »Worüber diskutieren Sie denn so eifrig?« fragte er, und ich erzählte es ihm. »Drei Dollar täglich ist sehr anständig,« meinte er, »aber Schuhputzen ist nichts für Sie. Wie wäre es, wenn Sie nach Chicago kämen? Ich würde Ihnen eine Stellung im Bureau meines Hotels geben, das ich dort zusammen mit meinem Onkel besitze. Ich denke, Sie werden sich da sehr gut machen.«
»Ich werde mir alle Mühe geben«, erwiderte ich. Der Gedanke an Chicago und den großen Westen zog mich unwiderstehlich an. »Darf ich es mir überlegen?«
»Selbstverständlich«, erwiderte er. »Ich fahre erst Freitag zurück. Sie haben drei Tage, um sich zu entscheiden.«
Allison beharrte bei seiner Meinung, daß ein guter Stand mehr Geld einbringen würde, aber als ich es mit Mulligans besprach, traten sie beide für das Hotel ein. Ich sah Jessie an demselben Abend, erzählte ihr von dem Stand und bat sie um eine andere Verabredung. Aber sie blieb dabei, daß ihre Schwester mißtrauisch und böse mit mir sei und uns nicht allein lassen wollte. Ich sagte ihr daher nichts von meinen Chicagoer Plänen.
Ich hatte bereits bemerkt, daß das erotische Vergnügen seiner Natur nach im höchsten Maße selbstsüchtig ist. Solange Jessie mich gewähren ließ und ich meine Freude an ihr hatte, reizte sie mich, aber sobald sie sich mir entzog, wurde ich verstimmt und träumte von andern hingebungsvolleren Frauen. Es machte mir beinah Freude, sie ohne ein Wort zu verlassen. »Das wird ihr schon eine Lehre sein,« flüsterte meine verletzte Eitelkeit, »sie verdient es zu leiden, weil sie mich so enttäuscht hat.«
Aber der Abschied von Mulligans war wirklich schmerzlich. Frau Mulligan war eine liebe, gütige Frau, die am liebsten die ganze Rasse bemuttert hätte, eine dieser süßen, irischen Frauen, deren selbstlose Taten und Gedanken die Blumen unseres traurigen menschlichen Lebens sind. Auch ihr Mann war ihrer nicht unwürdig, sehr einfach, geradlinig und arbeitsam ohne einen einzigen niedrigen Gedanken, eine natürliche Beute für die Kameraden, den Gesang und die Kneiperei.
An einem Freitagnachmittag verließ ich Newyork, um mit Herrn Kendrick nach Chicago zu fahren. Die Gegend schien mir sehr kahl, unfertig und primitiv, aber die großen Entfernungen begeisterten mich. Es war ein Land, auf das man stolz sein konnte. Jeder Morgen Boden sprach von Zukunft und Hoffnung.
Meine erste Runde – wenn man so sagen darf – des amerikanischen Lebens war vorbei. Was ich damals gelernt hatte, ist mir bis zum heutigen Tage geblieben. Kein Volk ist Kindern gegenüber so gütig, und nirgends ist das Leben für Handarbeiter so leicht; den Holzfällern und Wasserträgern geht es nirgends besser als in den Vereinigten Staaten. Dieser einen Klasse gegenüber, die bei weitem die zahlreichste ist, hat die amerikanische Demokratie ihre Versprechen mehr als erfüllt. Sie nivelliert die Niedrigsten in verblüffender Weise. Ich glaubte damals in tiefster Seele, was so viele Menschen heute glauben, daß nach allen Deduktionen es im großen ganzen die beste bis heute bekannte Zivilisation ist.
Mit der Zeit ließ mich eine tiefere Kenntnis diese Meinung immer gründlicher verändern. Fünf Jahre später sah ich Walt Whitman, den edelsten aller Amerikaner, der in Camden im äußersten Elend lebte, von englischen Verehrern abhängig war und ohne sie verhungert wäre. Und Poe hatte Ähnliches erlitten. Langsam zwang sich mir die Überzeugung auf, daß, wenn die amerikanische Demokratie viel dazu tut, um die niedrigsten Klassen zu nivellieren, sie noch erfolgreicher im Nivellieren der höchsten und besten ist. Kein Land der Welt kommt den armen, analphabetischen Arbeitern mit einer solchen Freundlichkeit entgegen, kein Land behandelt Denker und Künstler, die Führer der Menschheit, so verächtlich und kalt. Welche Hilfe bietet sich den Literaten und Künstlern, den Sehern und den Propheten? Solcher Führer bedürfen die müßigen Reichen nicht, und den Massen sind sie unbekannt. Aber schließlich ist das Wohlsein des Kopfes wichtiger als das des Körpers und der Füße.
Was wird aus denen werden, die die Propheten steinigen und die Lehrer verfolgen? Das Verhängnis steht mit flammenden Lettern auf jeder Seite der Geschichte geschrieben.