Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel XII.
Neue Erfahrungen.
Emerson, Walt Whitman, Bret Harte

Smith erwartete mich auf dem Bahnhof. Er war magerer denn je, und der trockene Husten rüttelte an ihm trotz der vielen Tabletten, die ihn der Arzt schlucken ließ. Ich bekam Angst um ihn, und bald wurzelte sich in mir die Meinung fest, daß das feuchte Klima der Quäkerstadt für ihn schlimmer war als die dünne, trockene Kansasluft. Aber er glaubte an seine Ärzte! Er wohnte bei einer angenehmen Puritanerfamilie, in deren Hause er auch für mich ein Zimmer mietete, und wir nahmen auch gleich wieder unser altes Leben auf. An einem unserer ersten Abende beschrieb ich ihm den Vortrag von Bradlaugh ungefähr auf dieselbe Weise, wie ich ihn hier wiedergab. Smith fragte mich: »Warum schreiben Sie das nicht? Sie sollten es tun! Die Presse würde es nehmen. Sie haben mir ein außergewöhnliches, lebenswahres Porträt eines großen Mannes gegeben, der, sozusagen, auf einem Auge blind ist. Eine Art Zyklop. Um wie vieles größer würde er sein, wenn er Kommunist wäre.«

Ich wagte, ihm zu widersprechen, und wir waren bald in eine hitzige Diskussion geraten. Ich wollte die beiden Prinzipien im Leben umgesetzt sehen, den Individualismus und den Sozialismus, die zentrifugale sowohl wie die zentripetale Kraft. Und ich war überzeugt, daß das Problem darin liegt, diese beiden Gegensätze in ein Gleichgewicht zu bringen, aus dem eine Annäherung an die Gerechtigkeit und ein allgemeiner Glückszustand sich ergeben würde. Smith widersprach mir, als ein überzeugter Kommunist und Marx-Jünger. Er war jedoch zu großzügig, um seine Augen vor diesen Klarheiten zu verschließen. Bald beglückwünschte er mich zu meiner Einsicht, die er für einen neuen Schritt in der Nationalökonomie hielt.

Seine Bekehrung vermittelte mir das Gefühl, daß ich mich schließlich gedanklich auf seine Höhe heraufgeschwungen habe, auf jedem Felde, auf dem seine wissenschaftliche Ausbildung ihm nicht die großen Vorteile gewährte. Ich war nicht länger sein Schüler, sondern ein Gleichgestellter. Und seine schnelle Anerkennung dieser Tatsache erhöhte, glaubte ich, unsere gegenseitige Zuneigung. Obwohl er unendlich mehr belesen war, strich er mich mit der seltensten Großzügigkeit in jeder Gesellschaft heraus, mit der Behauptung, daß ich neue, soziologische Gesetze entdeckt hätte. Monatelang lebten wir glücklich zusammen, und nur sein Hegelianismus hielt meinen Angriffen stand. Er entsprach zu genau dem grundlegenden Idealismus seines eigenen Charakters.

Sobald ich die Bradlaughgeschichte geschrieben hatte, nahm mich Smith in das Bureau der »Press« mit und stellte mich dem Herausgeber, einem Hauptmann Forney, vor. Die Zeitung wurde gewöhnlich »Forney's Press« genannt, obwohl man schon hier und da anfing, von ihr als von der »Philadelphia Press« zu sprechen. Forney gefiel mein Porträt Bradlaughs, und er engagierte mich als Reporter und gelegentlichen Mitarbeiter mit einem Gehalt von fünfzig Dollar wöchentlich. Ich war dadurch imstande, das ganze Geld zu sparen, das mir aus Lawrence geschickt wurde.

Eines Tages sprach mir Smith von Emerson und erzählte mir, er hätte eine Einführung zu ihm bekommen, die er mit der Bitte um eine Unterredung an den Philosophen weitergeschickt hätte. Er wollte, daß ich ihn nach Concord begleiten sollte. Ich ging darauf ein, doch ohne jede Begeisterung. Emerson war damals für mich ein unbekannter Name. Smith hatte mir einige seiner Gedichte vorgelesen, die er über den grünen Klee lobte, aber mir gaben sie kaum etwas. An einem hellen Herbsttage fuhren wir nach Concord, und am nächsten Tage besuchten wir Emerson. Er empfing uns auf die freundlichste, höflichste Weise, bat uns, Platz zu nehmen und setzte sich hin, um uns aufmerksam zuzuhören. Smith legte auch sofort los, erzählte ihm, wie sehr er sein Leben beeinflußt habe und wie viel ihm sein Mut geholfen hätte. Der alte Mann lächelte freundlich und nickte und sagte von Zeit zu Zeit »Ja, ja«. Smith wurde allmählich warm und stellte die Frage, ob Emerson je seine Ansichten über Soziologie oder die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit ausgesprochen hätte. Ein oder zweimal legte der alte Herr seine Hand an die Ohrmuschel, aber alles, was er sagte, war »Ja, ja« oder »Ich glaube wohl«, mit demselben gütigen Lächeln. Ich beobachtete den großen Mann, so genau es ging. Er war vielleicht fünf Fuß neun oder zehn hoch, sehr mager, sogar dürr, und höchst sorgfältig gekleidet. Sein Kopf war schmal und lang und sein Gesicht knochig. Eine lange, herausspringende, etwas gebogene Nase beherrschte seinen Gesichtsausdruck – sehr viel Selbstbewußtsein und eine beträchtliche Willenskraft, denn auch das Kinn war fest umrissen und groß. Das war alles, was ich in ihm sah. Und außerdem noch ein Eindruck von Güte und Wohlwollen, die aus seinen klaren, ruhigen, grauen Augen strömten, eine Süße fast wie bei einer Seele, die über alle kleinlichen, weltlichen Sorgen und Kämpfe erhaben ist.

»Ein netter, alter Kerl,« sagte ich zu mir selbst, »aber taub wie ein Laternenpfahl!«

Viele Jahre später wurde mir seine Taubheit das Symbol und die Erklärung seines Genies. Er hat sich nie in das Weltengetriebe gemischt und blieb davon unberührt. Das erklärt sowohl die Enge seines Mitgefühls wie auch die Höhe, zu der er emporgewachsen war. Sein schmales, freundlich-lächelndes Gesicht taucht immer wieder vor meinen Augen auf, so oft sein Name genannt wird. Aber zu jener Zeit war ich ungeduldig über seine Taubheit, und es ärgerte mich, daß Smith sie nicht zu bemerken schien und sich da zum Narren halten ließ. Als wir weggingen, rief ich aus: »Der alte Idiot ist ja so taub wie ein Laternenpfahl!« – »Ach, das ist also die Erklärung seines stereotypen Lächelns und seiner sonderbaren Antworten«, rief Smith aus. »Wie haben Sie es denn erraten?«

»Er hat mehr als einmal seine Hand ans Ohr gelegt«, erwiderte ich.

»Das stimmt! Wie dumm von mir, daß ich nicht diese naheliegende Schlußfolgerung gezogen habe.«

Es war wohl im Herbste desselben Jahres, als Gregorys nach Colorado übersiedelten. Ich hatte zuerst Kate sehr entbehrt, aber sie hatte auf meinen Geist keinen tiefen Eindruck gemacht, und das neue Leben in Philadelphia sowie meine journalistische Arbeit ließen mir wenig Zeit zum Nachtrauern übrig, und da sie mir nie schrieb, anscheinend dem Rat ihrer Mutter folgend, verflüchtigte sie sich schnell aus meiner Erinnerung. Außerdem war Lily als Geliebte fast ebenso interessant, und auch Lily begann für mich den Reiz einzubüßen. Das Fieber der Begierde ist in der Tat in unserer Jugendzeit eine vorübergehende Krankheit, die durch nähere Beziehungen schnell geheilt wird.

Im Frühling dieses Jahres 1875 mußte ich nach Lawrence zurückkehren, weil einige der Besitzer der Grundstücke, auf denen meine Zäune standen, einen Anteil an meinen Gewinnen verlangten. Ich mußte schließlich die Grundstücksbesitzer zusammenrufen; ich kam mit ihnen zu einer freundschaftlichen Einigung und teilte von nun an 52% meines Reingewinns unter sie aus.

Ich mußte auch meine Prüfung ablegen, um als Rechtsanwalt zugelassen zu werden. Ich hatte bereits meine ersten Naturalisierungspapiere bekommen, und der Richter Bassett vom Bezirksgericht ließ mich durch die Anwälte Barker und Hutchings examinieren. Die Prüfung war eine bloße Formsache. Sie stellten mir drei einfache Fragen, die ich beantwortete, worauf wir ins Eldridge-Haus gingen und es mit Sekt feierten. Der Richter Bassett ließ mich wissen, daß ich die Prüfung bestanden hätte und mich am fünfzehnten Juni des Jahres 1875 wegen Zulassung beim Gericht vorstellen sollte. Zu meiner Überraschung war der Gerichtssaal halb voll. Selbst der Richter Stevens war da, den ich noch nie auf dem Gericht gesehen hatte. Gegen elf Uhr informierte der Richter das Publikum, daß ich meine Prüfung bestanden hätte, meine ersten Papiere bekommen, und wenn nicht irgendein Anwalt Fragen zu stellen beabsichtige, um meine Eignung zu prüfen, schlüge er vor, mich zur Rechtspflege zuzulassen. Zu meiner Verblüffung stand der Richter Stevens auf. »Mit der Erlaubnis des Hohen Gerichtshofes möchte ich dem Kandidaten, der uns von der Universität so warm empfohlen wird, einige Fragen stellen.« (Keiner hatte von meiner Ausweisung gehört, er wußte es jedoch.) Er stellte mir darauf eine Reihe von Fragen, die bald die abgründigen Tiefen meiner Ignoranz bloßlegten. Ich wußte nicht, wie ein Rechtsverfahren wegen verweigerter Rechnungslegung nach dem alten englischen Gesetze abläuft. Ich weiß es auch heute nicht, und es interessiert mich nicht. Ich hatte Blackstone genau gelesen sowie ein Buch über das römische Recht, alles in allem vielleicht ein halbes Dutzend juristischer Bücher. Die ersten zwei Stunden hindurch tat Stevens nichts anderes, als meiner Eitelkeit Wunden zu schlagen, bis schließlich der Richter Bassett eine Mittagspause eintreten ließ. Stevens ging darauf ein, und wir erhoben uns. Zu meiner Überraschung kamen Barker, Hutchings und ein halbes Dutzend anderer Anwälte auf mich zu, um mich zu ermutigen. »Stevens spielt sich nur auf,« sagte Hutchings, »ich selbst hätte nicht die Hälfte seiner Fragen beantworten können.« Selbst der Richter Bassett ließ mich rufen und sagte mir, ich hätte nichts zu fürchten, und so kehrte ich um zwei Uhr zurück mit dem Entschluß, mich zusammenzunehmen und mir jedenfalls meine Verstimmung nicht anmerken zu lassen. Die Prüfung wurde in dem dichtgedrängten Gerichtssaale bis vier Uhr fortgeführt, und dann setzte sich der Richter Stevens hin. Diesmal hatte ich etwas besser abgeschnitten, aber mein Examinator hatte mich bei einem streitigen Punkt des Beweisrechts in eine Falle gelockt, und ich hätte mich dafür schlagen können. Aber Hutchings, als der ältere meiner beiden vom Gericht bestimmten Examinatoren, erhob sich und sagte einfach, er wiederholte jetzt seine Meinung, die er bereits dem Richter Bassett übermittelt hätte, daß ich durchaus geeignet sei, im Staate Kansas als Advokat zu praktizieren.

»Der Richter Stevens hat uns gezeigt,« fügte er hinzu, »wie sehr er im englischen Bürgerrecht bewandert ist, aber einige von uns haben es schon vorher gewußt, und in jedem Falle darf seine Erudition nicht zu einem Fegefeuer für Kandidaten gemacht werden. Es sieht so aus, als ob er Herrn Harris für seine Überlegenheit in den Universitätsstudien bestrafen möchte. Die unparteiischen Zuhörer werden zugeben, daß Herr Harris aus einer unerhört schweren Prüfung glänzend hervorgegangen ist. Und mir fällt die angenehme Aufgabe zu, dem Hohen Gerichtshofe vorzuschlagen, ihn in den Stand der Rechtsanwälte aufzunehmen, obwohl er noch zwei Jahre lang, bis er Bürger unseres Staates geworden ist, seine Praxis wird nicht ausüben können.«

Man erwartete allgemein, daß Barker ihm beipflichten würde, aber bevor er sich erhob, fing der Richter Stevens zu sprechen an:

»Ich möchte diesen Vorschlag unterstützen. Und ich möchte gleichzeitig erklären, warum ich Herrn Harris einem so schweren Examen vor dem Gerichtshofe unterworfen habe. Seitdem ich vor fünfundzwanzig Jahren aus dem Staate Newyork nach Kansas gekommen bin, wurde ich immerzu gebeten, diesen oder jenen Kandidaten zu examinieren. Ich hatte mich immer geweigert. Ich wollte nicht die Kandidaten aus dem Westen strafen, indem ich sie vor unsere östlichen Maßstäbe stelle. Aber hier steht endlich ein Kandidat vor uns, der sich auf der Universität ausgezeichnet hat und dem daher eine scharfe Prüfung vor versammeltem Gerichtshof nur eine Ehrenrettung sein kann. Und infolgedessen habe ich Herrn Harris examiniert, als ob wir im Staate Newyork wären, denn sicherlich ist Kansas endlich volljährig geworden, und man braucht seine Einwohner nicht als minderwertig zu behandeln.«

»Die ganze Angelegenheit«, fuhr er fort »erinnert mich an eine Geschichte, die man im Osten von einem Hundezüchter erzählt. Der Vater lebte von der Zucht und dem Training von Bulldoggen. Eines Tages bekam er einen ungewöhnlich viel versprechenden jungen Hund, und nun kauerten Vater und Sohn sich hin, schwenkten die Arme hin und her und ermutigten den Hund, ihre Ärmel zu fassen und sich daran zu hängen. Während sie einmal dabei waren, sprang der Hund, durch das dauernde Lob aufgemuntert, empor und faßte den Vater an die Nase. Instinktiv begann ihn der alte Mann abzuschütteln, aber der Sohn rief aus: ›Tu's nicht, Vater, um Gottes willen, es mag für dich schmerzhaft sein, aber es ist gut für den Hund.‹ Und dasselbe halte ich von meiner Prüfung, sie mag schwer für Harris gewesen sein, aber sie wird ihm gut tun.«

Das Gericht wollte sich vor Lachen ausschütten, und auch ich beteiligte mich an der allgemeinen Freude. Der Richter Stevens fuhr jedoch fort: »Ich will jetzt beweisen, daß ich nicht ein Feind, sondern ein Freund von Herrn Harris bin, den ich schon seit Jahren kenne. Herr Hutchings glaubt offensichtlich, daß Herr Harris zwei Jahre warten muß, um Bürger der Vereinigten Staaten zu werden. Ich freue mich, aus meiner Kenntnis der Statuten meines Landes ihm versichern zu können, daß Herr Harris nicht einen Tag länger zu warten braucht. Das Gesetz sagt, daß, wenn ein Minderjähriger drei Jahre in einem Staate gelebt hat, er nach erlangter Volljährigkeit Bürger der Vereinigten Staaten werden kann, wann es ihm gefällt, und wenn Herr Harris daher entschlossen ist, unsere Staatsangehörigkeit anzunehmen, kann er es sofort tun, und wenn der Hohe Gerichtshof damit einverstanden ist, kann er schon von morgen an seine Praxis aufnehmen.«

Er setzte sich inmitten eines großen Beifalls, in den ich von ganzem Herzen einstimmte. Von diesem Tage an wurde ich als vollwertiger Bürger zur Ausübung der Rechtspraxis zugelassen. Es traf sich jedoch unglücklich für mich, daß der Gerichtsschreiber, den ich um meine Bürgerpapiere bat, mir nur das Zeugnis meiner Zulassung zur Ausübung der Anwaltspraxis in Lawrence gab, mit der Bemerkung, daß das vollkommen genügte, da diese Bewilligung nur einem amerikanischen Bürger gegeben wird. Vierzig Jahre später hat die Woodrow Wilsonsche Regierung sich geweigert, diesen offensichtlichen Beweis meiner Staatsangehörigkeit anzuerkennen, und ich hatte viel Schwierigkeiten, um wieder naturalisiert zu werden.

Aber in diesem Augenblick in Lawrence war ich überglücklich, nahm mir ein Zimmer in demselben Hause, in dem Barker und Sommerfeld ihr Bureau hatten, und ließ mein Schild anschlagen.

Ich habe die Geschichte meiner Prüfung so ausführlich erzählt, weil sie meiner Ansicht nach wie in einem Spiegel die ganze Liebenswürdigkeit und tief eingewurzelte Güte des amerikanischen Charakters zeigt.

Einige Tage später war ich wieder in Philadelphia.

Gegen Ende dieses Jahres 1875 oder im Anfang des Jahres 1876 lenkte Smith meine Aufmerksamkeit auf die Ankündigung, daß Walt Whitman, der Dichter, in Philadelphia über Thomas Paine, den berüchtigten Ungläubigen, der nach dem Ausspruch von Washington mehr als jeder andere dazu beigetragen hat, die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten zu sichern, reden wollte. Smith beschloß, zu der Versammlung zu gehen, und wenn es Whitman gelingen sollte, Paine gegen die giftigen Angriffe der Geistlichen zu rehabilitieren, deren Erklärung, daß Paine ein berüchtigter Säufer war und ein ausschweifendes Leben geführt habe, bisher unwidersprochen blieb, wollte er Forney dazu bringen, eine erschöpfende und glühende Verteidigung Paines in der »Press« zu veröffentlichen.

Ich wußte im voraus, daß ein solcher Artikel nie erscheinen könnte, aber ich wollte nicht kaltes Wasser auf Smiths Begeisterung gießen. Der Tag kam, einer dieser verräterischen Tage, die in jedem Winter so oft in Philadelphia vorkommen. Die Temperatur fiel ungefähr auf 0° F., und ein Schneetreiben setzte ein, so oft der eisige Wind es erlaubte. Am Nachmittage entschloß sich Smith, es nicht zu riskieren, und bat mich, ihn zu vertreten. Ich ging gern darauf ein, und er las mir nun stundenlang die besten Gedichte Whitmans vor, und hauptsächlich sein: »Wenn im blumigen Vorhof der Flieder noch steht.« Er schärfte mir immer wieder ein, daß Whitman und Poe die größten Dichter seien, die die Vereinigten Staaten hervorgebracht hätten, und er hoffte, ich würde sehr nett zu dem großen Mann sein.

Man kann sich nichts Deprimierenderes vorstellen als den Anblick des Saales an jenem Abend; schlecht beleuchtet und ungenügend beheizt, barg der riesige Raum, der vielleicht tausend Menschen faßte, kaum dreißig Personen. Das war der Empfang, den Amerika einem seiner größten Geister bot, und erst Jahre später konnte ich die ganze Tragweite dieser Einstellung ermessen.

Ich setzte mich in die Mitte der ersten Reihe und zog mein Notizbuch hervor. In ein paar Minuten kam Whitman auf das Podium. Er kam langsam und steif herein, und ich lächelte zuerst, denn ich wußte damals noch nicht, daß er einen Schlaganfall erlitten hatte, und ich hielt seinen sonderbaren Gang für eine bloße Pose. Außerdem saß sein Anzug sehr schlecht und war für seine Gestalt möglichst wenig geeignet. Er muß ungefähr sechs Fuß groß gewesen sein, war breitschultrig, dabei trug er eine kurze Jacke, die hinten auf die fürwitzigste Weise abstand. Von vorn gesehen schlug sich sein weißer Kragen weit auf, ein Büschel grauer Haare kam heraus, seine Hosen fielen wie Korkenzieher um seine Beine und hatten sich von der Weste getrennt, wobei ein Streifen eines schmutzigen Hemdes zum Vorschein kam. Es hatte mich – armer, englischer Snob, der ich damals war – mit Verachtung erfüllt. Er erinnerte mich unwiderstehlich an einen alten Cochinchinahahn, den ich als Junge gesehen hatte. Er stelzte über den Hühnerhof mit denselben langsamen, steifen Schritten, und sein stummliger Schwanz ragte in die Höhe.

Jedoch schon auf den zweiten Blick fiel mir die vollkommene Einfachheit und Ehrlichkeit in seiner Stimme und seiner ganzen Art auf. Er legte seine Notizen in vollkommenem Schweigen hin und begann sehr langsam zu sprechen, hielt oft inne, um nach einem besseren Wort zu suchen oder einen Blick in seine Notizen zu werfen, zögerte manchmal und wiederholte sich – er war offensichtlich ein unbeholfener Redner, der auf jeden oratorischen Effekt verzichtete. Er sagte uns einfach, daß er in seiner Jugend beim Militär einen Oberst getroffen habe, der Thomas Paine genau gekannt hatte. Dieser Oberst hatte ihm mehr als einmal versichert, daß alle Beschuldigungen gegen Paine falsch waren – ein bloßer Ausfluß der christlichen Frömmelei. Paine pflegte ein oder zwei Gläser Wein beim Essen zu trinken, wie es alle besseren Leute heute tun, aber er war sehr mäßig dabei, und in den letzten zehn Jahren, wie der Oberst behauptete, hatte Paine sich nicht ein einziges Mal betrunken. Der Oberst verteidigte auch Paine auf dieselbe entschiedene Weise gegen die Beschuldigung der ausschweifenden Lebensführung und schilderte ihn als einen Mann von unverändert gutem Benehmen, als einen witzigen Plauderer mit großen Kenntnissen, der höchst interessant und angenehm in Gesellschaft war. Und der Oberst war ein zuverlässiger Zeuge, wie uns Whitman versicherte, ein Mann von der skrupelhaftesten Wahrhaftigkeit und den höchsten Ehrbegriffen.

Whitman sprach mit einer so ungewöhnlichen Langsamkeit, daß ich in der Lage war, die wichtigsten Sätze seiner Rede festzuhalten. Er war offensichtlich entschlossen, nur das zu sagen, was er sagen wollte, nicht mehr und nicht weniger – was einen Eindruck besonderer Offenheit und Wahrhaftigkeit vermittelte.

Als er geendet hatte, ging ich auf das Podium. Ich zeigte ihm meine Karte der »Press« und fragte ihn, ob er meine Notizen über seine Vorlesung unterzeichnen möchte, um sie auf diese Weise zu beglaubigen.

»Ja, ja«, war alles, was er sagte. Aber er las die Sätze, die ich niederschrieb, sorgfältig durch und korrigierte nur hier und da ein Wort. Ich dankte ihm und sagte, daß Professor Smith, einer der Redakteure der »Press«, mich geschickt hätte, um einen wörtlichen Bericht über seine Rede zu bringen, denn er beabsichtigte, einen Artikel über Paine, den er besonders bewunderte, in der »Press« zu veröffentlichen. »Ja, ja«, fiel es von Zeit zu Zeit von Whitmans Lippen, während seine klaren, grauen Augen alles in sich aufzunehmen schienen, was ich sagte. Ich fuhr fort und sagte ihm, daß Smith auch von einer tiefen Bewunderung für ihn (Whitman) erfüllt sei, ihn für den größten amerikanischen Dichter halte, und erzählte ihm, wie tief er bedauerte, daß er sich nicht wohl genug fühlte, um an diesem Abend auszugehen und ihn persönlich kennenzulernen.

»Es tut mir auch leid,« sagte Whitman langsam, »denn Ihr Freund Smith muß etwas Großzügiges in sich haben, wenn er sich so für Paine und mich interessiert.« Walt Whitman erschien mir sogar in seiner Selbsteinschätzung so vollkommen einfach und ehrlich, ein wirklich großer Mensch.

Ich hatte ihm nichts mehr zu sagen, und so eilte ich nach Hause, um Smith Whitmans knabenhafte Unterschrift zu zeigen und ihm den Mann zu schildern. Whitman ließ bei mir den Eindruck einer durchsichtigen Ehrlichkeit und Einfachheit zurück. Nicht eine Spur von Manieriertheit war in ihm, nicht ein Hauch der Affektiertheit, ein Mann seiner selbst sicher, sehr sorgfältig und bedacht auf seine Worte, aber unbekümmert um das Äußere und bezeichnenderweise frei von Grübelei und Selbstqual. Eine Persönlichkeit von einem neuen Typus, der mir im Laufe der Jahre immer mehr gefiel und mir jetzt das Beste darzustellen scheint, was Amerika hervorgebracht hat, diese weite, ungebrochene Seele des großen Volkes, das offensichtlich dazu berufen und auserwählt ist, einen immer wichtigeren Einfluß auf das Schicksal der Menschheit auszuüben. Ich würde ruhig sterben, wenn ich glauben könnte, daß der Einfluß Amerikas auf die Menschheit nur annähernd so männlich, wahrhaftig und scharfsichtig wäre wie der Whitmans. Aber leider!

Es ist schwer, einem europäischen Leser auch nur einen Begriff von dem Grauen und Entsetzen zu übermitteln, mit dem man Walt Whitman zu jener Zeit in den Vereinigten Staaten auf Grund seiner erotischen Gedichte in den »Grashalmen« ansah. Whitman war der erste der großen Männer, der offen über Erotisches schrieb, und auf fünfhundert Jahre hinaus wird es sein besonderes und höchstes Kennzeichen sein.

Smith ging es etwas besser – obwohl er im Augenblick enttäuscht war, daß sein ausführliches Lob Paines nie in der »Press« erschien –, und so sagte ich ihm eines Tages, ich müßte nach Lawrence zurückkehren, um meine Praxis aufzunehmen. Smith war darüber nicht sehr begeistert, aber er sah die Notwendigkeit ein, und ich wollte gerade abfahren, als ich einen Brief von Willie bekam, der mir mitteilte, daß mein ältester Bruder Vernon sich nach einem Selbstmordversuch in einem Newyorker Spital befinde.

Ich ging sofort hin und fand Vernon im Bett. Der Chirurg erzählte mir, er hätte sich zu erschießen versucht, die Kugel wäre gegen den Kiefer in einem solchen Winkel angeschlagen, daß sie um den Kopf herumging und gerade oberhalb des linken Ohres herausgenommen werden konnte. Er war nur ein wenig betäubt, und das war alles. Der erste Blick zeigte mir den alten unveränderten Vernon. Er rief mir zu:

»Wieder ein Fehlschlag, du siehst ja, John! Ich hab' es nicht einmal verstanden, mich umzubringen.« Ich erzählte ihm, daß ich mich jetzt Frank nannte. Er nickte mir freundlich lächelnd zu.

Ich versuchte ihn aufzuheitern, so gut es ging, mietete eine Wohnung für ihn, nahm ihn aus dem Spital, fand Arbeit für ihn, und nach vierzehn Tagen merkte ich, daß ich ihn ruhig allein lassen konnte. Er sagte mir, er bedauere, soviel Geld von meinem Vater genommen zu haben: »Ich fürchte, ich habe ihm dein und auch Nitas Teil entlockt. Aber warum gab er es mir denn? Er hätte es mir schon vor Jahren verweigern sollen, bevor ich das Letzte aus ihm herauszog. Aber in Geldsachen war ich immer ein Narr. Ich bin so leichtsinnig und vermag nicht an morgen zu denken.«

In diesen vierzehn Tagen erkannte ich, daß Vernon nur die Politur eines Gentleman hatte. Im Herzen war er so eigennützig wie Willie, jedoch ohne Willies Arbeitskraft. Ich hatte ihn als Knabe furchtbar überschätzt, hielt ihn für belesen und großzügig, und erst Smiths wirkliche Kultur und sein Idealismus zeigten mir, wie dünn die Goldschicht bei Vernon war. Er hatte nette Manieren und ein gleichmäßiges Wesen, aber das war auch alles.

Ich hielt mich in Philadelphia auf meiner Rückreise nach Lawrence auf, um Smith zu sagen, was ich ihm alles verdankte und was mir erst jetzt durch das Zusammensein mit Vernon klar geworden war. Wir sprachen die ganze Nacht hindurch, und damals zum ersten Male gab er mir den Rat, nach Europa zu gehen, um zu studieren und mich zum Führer und Leiter der Menschen zu bilden. Ich versicherte ihm, daß er mich auf Grund meines ausgezeichneten Gedächtnisses überschätzte. Aber er erklärte mir, ich hätte eine zweifellose Originalität, eine besondere Sicherheit des Urteils und in erster Linie eine Willenskraft, wie er sie nie gesehen hatte. »Wenn Sie sich etwas vornehmen,« schloß er, »werden Sie es sicher durchführen. Und Sie neigen überhaupt dazu, sich zu unterschätzen.« Damals lachte ich auf und sagte ihm, er hätte keine Ahnung von meiner grenzenlosen Eitelkeit, aber seine Worte und sein Rat prägten sich mir tief ein und sollten einen entscheidenden Einfluß auf mein Leben ausüben.

Ich kehrte nach Lawrence zurück, stellte mir ein Schlafsofa in meinem Bureau auf und aß meine Mahlzeiten im Eldridge Haus. Ich machte mich eifrig an das Studium der Gesetze und hatte bald einige Klienten, meistens verwickelte Fälle, die mir vom Richter Stevens und Barker, die den Anfänger mit Schwierigkeiten belasten wollten, zugeschickt wurden.

Die Reinemachefrau, die unsere Bureaus in Ordnung hielt, war eine alte Mulattin, und sie lebte in einer Mansarde im selben Hause. Eines Nachts wurde ich durch ihre Rufe und Schreie aufgeweckt. Sie hatte anscheinend eine Magenkolik und war wohl sehr erschrocken wie alle farbigen Menschen, wenn sie Schmerzen haben. »Ich sterbe«, wiederholte sie mir immer wieder. Ich behandelte sie mit Whisky und warmem Wasser, das ich auf meinem kleinen Gaskocher kochte, und saß neben ihr, bis sie einschlief. Sie erklärte mir am nächsten Tage, ich hätte ihr das Leben gerettet, und sie würde es nie vergessen, nie – nie. Ich lachte nur darüber und dachte nicht mehr daran.

Jeden Nachmittag ging ich auf eine Stunde nach der Liberty Hall, um den Kontakt mit den Geschäften nicht zu verlieren, obwohl ich die Hauptarbeit Will Thompson überließ. Eines Tages fand ich zu meiner Freude, daß Bret Harte zu einer Vorlesung erwartet wurde. Sein Thema lautete: »Die Argonauten des Jahres 49«. Ich kaufte mir einige seiner Bücher und las sie sorgfältig durch. Seine Gedichte machten keinen großen Eindruck auf mich, aber »The Outcasts of Poker Flat« und andere Geschichten schienen mir trotz ihrer romantischen Färbung und dem Hauch von Melodrama das Meisterwerk zu sein. Die Beschreibung des Spielers Oakhurst blieb mir besonders im Gedächtnis haften. Oakhurst gab den Parias den Rat, weiter zu reisen, bis sie einen sicheren Hafen gefunden hätten. Aber er unterstrich seinen Vorschlag nicht allzusehr, er wußte, daß es nutzlos sei, und in diesem Augenblick prägt Bret Harte den außerordentlich bezeichnenden Satz: »Das Leben war für Oakhurst im besten Falle ein ungewisses Spiel, und er wußte, welch ein Prozentsatz dem Handelnden gewöhnlich zufällt.« In diesem einen Satz liegt mehr Humor und Einsicht als in den lächerlich überschätzten Werken von Mark Twain.

Ich versprach mir sehr viel von dem Vortrag; und Hartes Agent hatte es eingerichtet, daß der Held des Abends mich vorher im Eldridge-Haus empfing. Ich holte ihn vom Hotel ab und brachte ihn in den Vortragssaal. Ein mittelgroßer Mann, gut aussehend, mit einem angenehmen Lächeln und nach innen gewandten, versonnenen Augen, kam mir entgegen. Da er keine Lust am Gespräch zu haben schien, nahm ich ihn sofort in die Liberty Hall und führte ihn ein. Er schritt ganz einfach bis zum Vortragspult, legte sich sorgfältig seine Notizen zurecht und begann in einem schlichten Gesprächston über die Argonauten des Jahres 49 zu sprechen.

Ich bemerkte, daß er keine Spur von amerikanischem Akzent hatte. Aber das war alles, was mir auffiel. Ich bin ebensowenig imstande, einen Bericht über die Vorlesung zu geben, wie ein Porträt des Mannes zu zeichnen. Ich erinnere mich nur an einen Satz, der wahrscheinlich auch der beste war. Als er von den Männern sprach, die einst über die große Prärie kamen, begann er: »Ich werde Ihnen jetzt von einem neuen Kreuzzug erzählen, einem Kreuzzug ohne Kreuz, einem Exodus ohne Propheten.«

Ich habe ihn zehn Jahre später in London getroffen, als ich mehr Selbstgefühl und ein viel tieferes Verständnis sowohl für Talent wie für Genie hatte. Aber auch da konnte ich nichts Wesentliches aus Bret Harte herausholen, trotzdem ich sein zweifelloses Talent bewundere. Ich gab mir alle Mühe, ihn zum Reden zu bringen, ihn seine Gedanken über Leben, Tod und den unentdeckten Bezirk formulieren zu lassen, aber entweder murmelte er Gemeinplätze vor sich hin oder zog sich in seine Schale eines vollkommenen und anscheinend tiefsinnigen Schweigens zurück.

In meine monotone Arbeit schlug plötzlich ein ganz unerwarteter Vorfall ein. Eines Tages kam Barker auf mein kleines Bureau, stand eine Weile da, versuchte einen Schlucken zu bemeistern und fragte mich, ob ich kein Mittel dagegen wüßte. Ich sagte ihm, daß kaltes Wasser das beste dagegen ist. »Ich habe schon allerlei getrunken,« sagte er, »ich werde wohl am besten nach Hause gehen, und wenn es andauert, werde ich einen Arzt kommen lassen.« Am nächsten Tage hörte ich, daß es ihm schlimmer ginge und er im Bett sei. Eine Woche später sagte mir Sommerfeld, ich müßte den armen Barker besuchen, denn er sei ernsthaft krank.

An demselben Nachmittag ging ich hin und war über seine Veränderung entsetzt. Der dauernde Schlucken hatte die ganze unförmige Fleischmasse von den Knochen abgeschüttelt, die Haut seines Gesichtes hing lose herab, das Knochengerüst zeichnete sich unter den dünnen Falten ab. Ich versuchte ihn zu täuschen und sprach über seine Genesung. Aber er hatte keine Illusionen. »Wenn Sie nicht mit dem Schlucken fertig werden, dann werde ich fertig sein. Hat man denn je gehört, daß ein Mensch am Schlucken stirbt? Dabei bin ich noch nicht Vierzig.«

In den nächsten Tagen kam die Nachricht, daß er tot war – dieser große, dicke Mensch! Sein Tod veränderte mein ganzes Leben, obwohl ich mir damals nicht träumen ließ, daß es irgendeine Wirkung auf mich haben könnte. Eines Tages war ich auf dem Gericht und vertrat einen Fall vor dem Richter Bassett. Obwohl ich den Mann mochte, brachte er mich an diesem Tage durch seinen Eigensinn zur Verzweiflung. Ich legte ihm den Fall in jedem erdenklichen Lichte dar, aber er ging nicht darauf ein und entschied gegen mich. Als ich meine Papiere sammelte und aufsah, begegnete ich seinem lächelnden Blick.

»Ich werde diesen Fall vor dem Obersten Gerichtshof auf meine eigenen Kosten vertreten«, erklärte ich ihm bitter, »und werde dafür sorgen, daß man Ihren Beschluß umstürzt.«

»Wenn Sie Ihre Zeit und Ihr Geld verschwenden wollen,« bemerkte er freundlich, »kann ich Sie nicht daran hindern.«

Ich verließ den Gerichtssaal und fand plötzlich Sommerfeld an meiner Seite. »Sie haben den Fall sehr gut vertreten,« sagte er, »und Sie werden ihn sicher vor dem Obersten Gerichtshof gewinnen. Aber Sie hätten es Basset nicht sagen sollen, so in seiner eigenen ...«

»Domäne«, half ich ihm aus.

Als wir an seinem Bureau angelangt waren, wollte ich nach rechts in mein Zimmer abbiegen, er sagte jedoch: »Wollen Sie nicht hereinkommen und mit mir eine Zigarre rauchen? Ich würde gern mit Ihnen sprechen.«

Sommerfelds Zigarren waren immer ausgezeichnet, und ich folgte ihm gern in sein großes, ruhiges Bureau, das auf einen leeren Bauplatz ging. Ich war nicht eine Spur neugierig, denn ein Gespräch mit Sommerfeld bedeutete gewöhnlich ein ziemlich schweigsames Vorsichhinrauchen. Diesmal jedoch hatte er etwas zu sagen und sagte es ganz unvermittelt.

»Barker ist nun tot«, bemerkte er in die Luft hinein, und dann: »Warum sollten Sie nicht seine Stelle übernehmen?«

»Als Ihr Sozius?« rief ich aus. – »Selbstverständlich,« erwiderte er, »ich werde die Schriftsätze ausarbeiten, wie ich es bei Barker tat, und Sie werden sie vor dem Gericht vertreten. So zum Beispiel«, fügte er auf seine langsame Art hinzu, »gibt es einen Beschluß des Obersten Gerichtes im Staate Ohio, das den Fall fast in Ihren eigenen Worten entscheidet, und wenn Sie ihn zitiert hätten, würden Sie Bassett überzeugt haben.« Und er las mir den Bericht vor.

»Der Staat Ohio«, fuhr er fort, »ist einer der vier Staaten, wie Sie wissen« (ich wußte es nicht –), »die das Newyorker Gesetz angenommen haben – Newyork, Ohio, Kansas und Kalifornien. Keins dieser Obersten Gerichte wird dem andern widersprechen, und so können Sie Ihres Urteils sicher sein – nun, was sagen Sie dazu?«

»Mit größter Freude,« erwiderte ich sofort, »ich bin stolz darauf, mit Ihnen zu arbeiten. Es hätte mir nichts Besseres passieren können!« Er hielt mir schweigend die Hand hin, und die Sache war erledigt. Sommerfeld rauchte eine Weile vor sich hin, dann bemerkte er beiläufig: »Ich pflegte Barker hundert Dollar wöchentlich für seinen Haushalt zu geben. Sind Sie damit einverstanden?«

»Vollkommen, vollkommen,« rief ich aus, »ich hoffe nur, ich werde es verdienen und Ihre gute Meinung rechtfertigen.«

»Sie sind schon jetzt sogar ein besserer Advokat als Barker, aber Sie haben einen – Mangel –«; er zögerte.

»Fahren Sie fort«, drang ich auf ihn ein. »Haben Sie keine Angst, ich vertrage jede Kritik und hoffe dadurch zu profitieren.«

»Ihr Akzent ist etwas englisch, nicht wahr, und das nimmt sowohl den Richter wie die Geschworenen – hauptsächlich die Geschworenen – gegen Sie ein. Wenn Sie Barkers Akzent hätten, würden Sie die besten Plaidoyers im ganzen Staate halten können.«

»Ich werde mir den Akzent aneignen, Sie haben vollkommen recht. Ich hab' es bereits empfunden, daß er mir fehlt, aber ich war zu eigensinnig. Jetzt werde ich ihn mir schon verschaffen. Sie können sich darauf verlassen. In einer Woche habe ich's weg.« Und das war auch der Fall.

Es gab in der Stadt einen Rechtsanwalt namens Hoysradt, der einen heftigen Streit mit meinem Bruder Willie hatte. Er besaß den prononciertesten westamerikanischen Akzent, den ich je gehört hatte, und ich machte es mir zur Aufgabe, Hoysradts Akzent und Artikulierung nachzuahmen. Ich machte es mir auch zur Regel, die langsame westliche Sprechweise zu imitieren, und in einer Woche mußte man mich für einen waschechten Amerikaner halten.

Sommerfeld war begeistert und sagte mir, er setzte nun vollstes Vertrauen in mich, und von dieser Zeit an war unsere Übereinstimmung ungetrübt, denn je besser ich ihn kannte, desto mehr schätzte ich ihn. Er war fähig, arbeitsam, wahrheitsliebend und ehrlich – ein Komplex aller Tugenden, jedoch so bescheiden und ungewandt, daß er sich selbst der ärgste Feind war.


 << zurück weiter >>