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Wien im Mai. Abends, unter ergrauendem Himmel, lockten und schluchzten gestern in dem stillen, feinen schönbrunner Park die Nachtigalen so innig, daß der Lauscher wähnen konnte, ein Chor von Dryadenseelen rufe aus ungeduldiger Mädchensehnsucht nach bräutlicher Lust; daß der aus lieblicher Hofmythenwelt Heimkehrende, wenn ihm der Ruch der müden Großstadt plötzlich in die verwöhnten Nüstern qualmte, aufschrak, als sei er von der im Mondsichellicht gleißenden, blitzenden Spitze eines über Märcheneilande hinragenden Kristallthurmes in die tiefste Pfütze eines Färbergrabens gestürzt. Der Morgenwind, der die Sonne hurtig aus den braunen, grauen, rothen Schamschleiern schälte, hat die häßlichen Dünste verweht, die am Feierabend, wie nach dem Dienstschluß aus einer Kaserne, in Schwaden aus den Industriestraßen aufsteigen. Im Lenzlicht funkelt der Ring; zittern Schneebälle und Fliederbüsche, Veilchen und Maiglöckchen leis, als schlürfe ihr Kelch in keuscher Wollust die Sonnenwärme. Vom Hotel Imperial bis an die Votivkirche: ein duftender Garten. Ward hier ein Fest bereitet? Vor dem Eingang in den Burghof umflattern Fahnen, umblühen Glashausgewächse eine ansehnliche Ehrenpforte. Offiziere im Paraderock werden sichtbar und der Kärntnerring dröhnt von Soldatentritten. Der Deutsche Kaiser kommt; Wilhelm kommt nach dem Semester des Serbenärgers zum ersten Mal wieder in die Hofburg: und soll sehen, daß man ihn als den in dunkler Stunde bewährten Freund willkommen heißt. Doch was ringsum den Blick labt, ist nicht für einen Festtag ersonnener Putz; ist das Alltagskleid, das die Wienerstadt unter dem Wonnemond trägt. Grüne Flächen zwischen dem schimmernden Weiß und dem noblen Grau der Paläste; ein Blumensaum unter jedem Fenster des Rathhauses; Blumenkörbe selbst an den schlanken Eisenschaften, von deren Höhe das Bogenlicht auf die Straße prallt. Diese Stadt braucht sich nicht mit theurem Schmuck zu behängen, nicht mit künstlich gewonnenem Wohlgeruch zu besprengen; ein Kränzlein ins Haar, zwei Knöspchen vors rundliche Brustgewölb: und sie ist, wie eine in sauberer Jugend prangende, auch bei der Hausarbeit zierlich gekleidete Frau, noch für Imperatorenbesuch schön genug. Solches Stadtbild hat des Nordländers Auge kaum irgendwo je erschaut. Nirgends diese Fülle hübscher, fröhlicher Menschen, die immer Zeit zu haben scheinen und denen man anmerkt, daß sie gefallen möchten. Hier wird Wein getrunken; ist das Gebirg nah; mordet das Uebermaß hastiger Arbeit nicht die Freude am Leben. Hier ist schon Orient. Die Luft singt davon und dem Wanderer begegnet mancher Levantinertypus. Der Vorhof des Orients; eines gründlich gesäuberten, civilisirten, ohne träges Geräkel, Fäulnißgestank, Pestilenz. Leicht kanns nicht gewesen sein, diese verträumte, verspielte, verliebte, verzärtelte Menge, diese lässig elegante Oberschichtmenschheit an straffe Ordnung zu gewöhnen. Und Einen, der ihr solche Gewöhnung zumuthete, hat Frau Vindobona sicher nicht lieben gelernt … Die ersten Hofkutschen rollen über den Karlsplatz. Von den Stufen der Kirche, deren edlen Rhythmus Fischer von Erlach ersann, sieht man über die Massen hin, deren munteres Getümmel den Platz füllt. Keine Absperrung, kein herrisches Polizeigebot, das dem Volk die Feiertagsfreude vergällt. Wie ein Familienfest ists; keins von den großen, durch die der Jubel braust, doch eins, das Jeder gern immer wieder erlebt. Volk und Regirung sind hier nicht durch finsteres Mißtrauen, wie durch einen Nebel ausdünstenden Graben, von einander getrennt. Kleidsame Uniformen. Goldtressen. Prächtig aufgeschirrte Pferde. Grüne Federbüsche, die in der Sonne leuchten wie junges Laub unterm Mittagsstrahl. Ein Summen kommt näher, wird lauter; wird nirgends zum Geschrei. Kein Jauchzen: ehrerbietiger Gruß nur empfängt und geleitet die beiden Kaiser. Sacht zerrinnt nun die Welle. Die Namen beliebter Erzherzoge und Erzherzoginnen werden genannt. Minister, Generale, Hofwürdenträger nur flüchtig gegrüßt. Jetzt aber steigt in der Ferne die Brandung. Schwillt das Summen zur Festkantate, in der ein Frauenchor mit frommer Inbrunst das Hauptthema singt. Tausend Häupter entbloßen und neigen sich. Aus einem einfachen Wagen dankt ein in ernstes Schwarz gekleideter Mann; der schlichteste im langen Zug. Haar und Bart fast völlig grau; der Kopf, wie eines Erschöpften, vornübergebeugt. Ihn aber grüßt das Herz, grüßt nicht nur Scheitel und Mund dieser Schaar. Wer ists? Der Gefragte blickt erstaunt auf; wie aus weltferner Andacht. Giebts am Fuß des Wienerberges denn wirklich Leute, die Den da nicht kennen? Oder will ein Fremder uns etwa frozzeln? Noch ein wägender Blick. Einerlei. Aus stolzer Ruhe kommt die Antwort: »Das ist der Bürgermeister.«
Der Bürgermeister? Der hat in Hofschauspielen sonst keine dankbare Rolle; Komparse. Auch wo er nicht, wie bei uns, fröstelnd oder schwitzend mit seinen Rathsherren die Galakutsche erwarten und neben einem wiehernden Pferdekopf dann sein Grußsprüchlein hersagen muß. Die Gaffer beachten, die Reporter erwähnen ihn kaum. Dr. Karl Lueger war, wo er sich zeigte, eine Hauptperson; konnte, auch wenn sein Rang ihm an der Schloßtafel einen schlechten Platz anwies, wie Bismarck sprechen: »Wo ich sitze, ist immer oben.« Und wären drei Kaiser zugleich nach Wien gekommen, jeder mit seinem Gemahl und mit großem, besternten Gefolge: der Bürgermeister der Reichshaupt- und Residenzstadt hätte, als Herr des luftigen Hauses, das die Gäste betraten, dem Blick aller Wiener stets im Vordergrund gestanden. Herr dieses Hauses war er; wie Keiner vor ihm. Alle beugten sich seiner Herrschaft und Alle lernten ihn lieben. Alte Chroniken berichten von solcher Glorie der Bürgermeisterschaft. Unserer Zeit ward sie fremd; nur im Wien Luegers noch einmal Ereigniß. Dieser Bürgermeister war der Führer der im Reichsrath, im Landtag, im Gemeinderath mächtigsten Partei; ein Redner von unübertroffener Schlagkraft; in jeder Volksversammlung, an jedem Schanktisch der witzigste Kopf; der populärste Mann in den Königreichen und Ländern Franz Josephs; und ein Verwalter, wie Habsburgs Völker nicht oft einen sahen. Das konnte genügen. Doch diesen von Persönlichkeit Strotzenden, dessen Wesenston sich von jedes Anderen deutlich abhob, krönte das Glück noch mit seinem schönsten Geschmeide: mit dem Strahlendiadem einer Güte, unter deren wärmendem Widerschein die härteste Herzrinde barst und die dem so Begnadeten die Gegner, Todfeinde selbst mählich versöhnte. Bürgermeister? Statthalter in, Herzog von Niederösterreich durfte man ihn nennen. Eine Großmacht war er; eine, deren Wink ein starkes Heer ins Feld stellen kann. Wie ein Fürst hat der allem Pomp Abholde zehn Jahre lang geherrscht und gethront; und wie den geliebten Vater und Herrn haben die Stadtgenossen an einem lichten Märzmittag den Toten bestattet.
Ein Glücklicher. Einer, der seinen Traum leben durfte. Und der erst im Glück zu höchster Wesenspracht aufblühte. Als der Name des vierzigjährigen Hof- und Gerichtsadvokaten bekannt wurde, hieß es: Ein Streber, der schon in allen Glaubensfarben geschillert hat und dem jedes Bekenntniß feil ist; gestern mit Kronawetter, heute mit Schoenerer, morgen vielleicht mit Hohenwart und übermorgen mit Denen, die in dem von Vogelsang geschaufelten Minengang gegen die Grundmauer des Gesellschaftbaues vorrücken. Ein nach Beute hungernder Demagoge. Nicht ungefährlich. Er ist fleißig, sieht gut aus, kann donnern und spaßen, schmeicheln und rücksichtlos schroff sein, spielt den Urwiener und amusirt die Leute. So sah ihn des Feindes Auge. Und seit er mit lauter Zunge gar zum Krieg wider Sems Söhne rief, ward er zum Abschaum der Menschheit geworfen. Daß die Bedrohten sich wehrten, war begreiflich; unklug nur, daß sie den Angreifer wie einen Wicht behandelten. Lueger hatte sich, wie hitzige Jugend so oft, in den Aberglauben an die Allheilkraft der Demokratie verrannt; hatte, wie Hunderttausende unter dem Eindruck der Slavengefahr, von einem Großdeutschland geträumt, dem auch die Länder der habsburgischen Krone wieder angehören würden; und war im Lauf der Jahre konservativer Staatsauffassung näher gekommen. Nur Tröpfe konnten ihn drum schnöden Gesinnungschachers zeihen. Aber er war für die »Gleichberechtigung aller Konfessionen« (von Rasse sprach man damals noch selten) eingetreten, hatte mit Juden als Freunden verkehrt: und schrie nun, Israel sei der Erzfeind und müsse entwaffnet, entmachtet werden. Weil er wähnte, solches Geschrei könne ihm auf die Höhe helfen? Das schien undenkbar; dem aufgeklärten Kapitalistenfreisinn der Sieg gesichert. Ein Streber hätte sich dem Liberalismus angelobt, dem volksthümliche Führer zu fehlen anfingen. Hat Lueger die Juden je gehaßt? Er fand sie, trotz schlimmer Nachwirkung der Gründerjahre und des Kraches, zu mächtig, den Einfluß ihres Geistes in alle Kraftquellen des Reiches zu groß; fand ihr Wirken da besonders unheilvoll, wo sie in Magyarenvermummung Oesterreichs Rechtsanspruch zu schmälern trachteten. Wohin gerathen wir, wenns noch lange so weiter geht? Ungarn, Böhmen, Galizien, Istrien; Magyaren, Czechen, Polen, Rumänen, Ruthenen, Slovenen, Serbokroaten, Italiener. Das Reichscentrum fast schon der Herrschaft eines fremden, rasch wachsenden Stammes unterthan, dem die Erhaltung unserer alten Volksart nicht Lebensnothwendigkeit ist. Alle Autorität, seit Königgraetz und erst recht seit dem Krach, bespöttelt. Die Gebildeten Skeptiker oder Raunzer, von deren Lippe nur höhnische Scheltrede über Oesterreich fällt und die Gottlosigkeit Ehrensache, frommer Glaube lächerlich dünkt. Ringsum strecken und stählen sich die Nationen, sondert jede sich von der Nachbarschaft; und der deutsche Oesterreicher soll sich selbst aufgeben und nur in unersprießlichen Kämpfen gegen die Czechen noch den Blinkschein seiner Würde wahren? So mochte Lueger denken. Muß Jeder denn, der die Ueberzeugung nicht aus dem Modewaarenhaus bezieht, ein schäbiger Geselle sein? Der »schöne Karl«, der blonde Tribun mit dem hellen Blick und der männlichen Haltung, war gewiß immer naiv; glaubte im Herzen stets, was sein Mund sprach. Laßt Euch nicht länger ducken, rief er, entringt Euch erschlaffender Zagheit und lernt endlich wieder den Muth, gläubige Katholiken und zuversichtliche Oesterreicher zu sein. Solcher Wandlung hättet Ihr Euch nicht zu schämen; dürftet stolz Euch ihrer rühmen. Wo er zum Wort kam, sprach er so. Und von seinem Feuer fielen Funken in ausgedörrte Hirne. Der hat studirt und ist doch fromm geblieben! Der glaubt an Oesterreich und meint nicht, daß aus uns nie wieder was Rechtes werden könne! Der fürchtet sich nicht vor den wiener, prager, budapester Juden und verheißt den Bedrückten, den Kleingewerbetreibenden und Bauern, daß sie bessere Tage sehen werden: wenn sie sich zur Einigung aufraffen und gemeinsam gegen die goldene Zwingburg vorrücken. Der liebt sein Vaterland und seinen Kaiser und bläst uns dennoch nicht, wie andere Patrioten, am Schluß jeder Rede den Radetzkymarsch. Dr. Karl Lueger wird der Liebling des niederösterreichischen Volkes. Bischöfe preisen ihn als den Retter aus gottloser Noth. Grafen und Greisler, Erzherzoginnen und Heimarbeiterinnen huldigen ihm. Seine Partei wächst zu unwiderstehlicher Wucht. Fünfmal wählt der Gemeinderath ihn zum Bürgermeister. Nach der vierten Wahl entschließt Franz Joseph sich zur Bestätigung; bittet den allzu Populären aber, auf dem Posten des Vicebürgermeisters noch ein Weilchen zu warten. Der Kaiser bittet; noch ein Bischen Geduld! Schon die Patriotenrolle erzwänge Gehorsam, Im April 1897 ist Lueger der Herr von Wien.
Das Bürgermeisteramt hatte er erstrebt. Danach gelangt wie ein Prätendent nach der Krone, für die er sich geboren weiß. Warum der Führer der Christlich-Sozialen ein so grausamer Kritiker der liberalen Stadtverwaltung war? Weil er fühlte, daß er das städtische Geschäft viel besser leiten könne; und weil das Bewußtsein solcher Ueberlegenheit (denkt an Bismarck in der Aera Schleinitz) immer zu hartem Urtheil stimmt. »Da ist ein Platz, auf dem ich Nützliches leisten, für meine Landsleute Dauerbares schaffen könnte: und schwache Stümper machten sich drauf breit.« Täglich erneut sich die Pein solcher Erkenntniß; allmählich wächst die Angst, der Alternde werde das Ziel nicht mehr erreichen. Wer bliebe, mit pochenden Pulsen, da mild? Bettete sich, nach der Anwendung arger List noch, nicht getrost in die Zuversicht, daß dieser Zweck jedes Mittel heilige? Lueger hat vielleicht gar nicht geahnt, daß er manchmal mit Waffen kämpfte, die das Kriegsrecht gesitteter Völker verpönt. Er gab sich, wie er war, mit den Malen und Runzeln der Menschlichkeit, und empfand nicht, daß er im Drang oft unreine Kräfte in den Dienst reinen Strebens stellte. War er nicht im Nothwehrrecht? Zauderte die Feindschaft etwa vor der Wahl unsauberer Waffen? Der schöne Karl verschwendete sich. War überall, wo Wiener zusammenkamen, zu sehen, zu hören. Hatte ihres Willens Neigung erspäht und sich in ihre Wünsche eingefühlt. Wo? durch war Ulrich Megerle als Abraham a Santa Clara berühmt geworden? Durch derben Witz, der mit Scherz und Schwank die Bußpredigt würzte. Was hatte dem Kaiser Franz, trotz den Niederlagen auf dem Schlachtfeld und am Diplomatentisch, trotz dem Ruf reaktionärer Gesinnung sogar, die Herzen der Menge erobert? Daß er, all in seiner Majestät, sich nicht schämte, die Weise zu pfeifen, für die dem kleinen Mann der Schnabel gewachsen war. Marengo, Austerlitz, Wagram, die Friedensschlüsse von Luneville, Preßburg, Wien, der Zwang zum Verzicht auf die Krone der Deutschen Kaiser und die Mitschuld an den Schnüffelkünsten der Heiligen Alliance: dem prunklos Lebenden, mit Bewußtsein Leutsäligen, der mit den Unterthanen in ihrer wienerischen Mundart plauschte, ward Alles verziehen. Megerles Talente und Franzens System schienen in Lueger vereint. Die Beiden hatten ihre niederösterreichische Menschheit gekannt. Die vermag nicht zu athmen, wenn stets Wolken über ihr hängen und das Sünderglöckchen sie Tag vor Tag zu Buße und Reinigung ruft; die wird von fleischlosen Dogmen und dürren Abstraktionen nicht satt. Den Hofprediger aus dem Barfüßerkloster hätte die furchtlose Wahrhaftigkeit seines Wesens sammt der frommen Menschenliebe, die das strenge Antlitz des Mahners entrunzelte, nicht zum populärsten Mann Wiens gemacht. Durch Witz und Sprachkraft wurde ers; durch die Urwüchsigkeit der von derbem, Lachlüsternen willkommenem Spaß und von heiteren, lustiger Erinnerung trächtigen Vergleichen überquellenden Rede; durch die Kunst, das Volksthum am Brennpunkt des Willens zu kitzeln; durch den schlauen Entschluß, nicht in der düsteren Gluth zorniger Strafpredigt, sondern im Sprühfeuer des Humors die Seelen zu läutern. Lest Abrahams Erzählung vom Erzschelm Judas, seine Weissagung »von Glück ohne Tück«, denkt der Ueberlieferung von Franzens Patriarchenpose: den rückwärts Blickenden wird Manches an Luegers Art erinnern. Der Wiener will keinen starren Cato, keinen steinernen Roland; will Helden, die ungefähr aus dem selben Stoff und von dem selben Format sind wie er selbst und die er sich auch beim Heurigen, beim Pilsener oder Schwechater vorstellen kann. Wenn der Doktor Lueger in den heißen, verrauchten Sälen der Vorstädte redete, hatte er nach dem dritten Satz alle Herzen gefangen. Ein Studirter, der den Dampf und Stank der billigsten Regiecigarren nicht scheut und mit fühlbarem Stolz die Sprache des Volkes spricht. Einer, der höllische Energie hat und doch munter ist wie der übermüthigste Schnurrenersinner. Der den Mächtigsten nicht schont und den Einfältigsten Tröstliches sagt. Den Leuten niemals die Mühsal unbequemer Wesensänderung zumuthen wird. Fröhlich und fromm, wie sie sind, sollen sie bleiben; nicht mit modischer Lehre, die im nächsten Lenz ja doch wieder aus den Schaufenstern verschwinden wird, das Hirn belasten; lachend Jedem die Zähne zeigen, der sie Phaiaken und Schalantersprossen schilt. Wir sind wir; und können uns überall sehen lassen. Griesgrämige Stubenmümmel und naseweise Judenbuben, Professoren und Schmocks sagen uns, daß wir zu nichts Rechtem taugen, daß wir trag auf Ererbtem hocken und Oesterreich nicht vorwärts kommt? Daß wir nicht dem Priester mehr, nur noch dem Zeitungmacher gehorchen sollen? Fällt uns nicht ein. Wenn die Hoffnung bisher nicht gesättigt wurde, sind Die dran schuld, die so lange an der Schüssel saßen und noch immer die fettsten Bissen beschmatzen. Sollen uns endlich heranlassen: dann werden sie ihr blaues Wunder erleben. Nein: ein schwarzgelbes. Wir brauchen gar nicht die Farbe zu wechseln, um in der Welt wieder was zu gelten; sind für solchen Wechsel um keinen Preis zu haben. Das glitzert und prasselt. Raketen, Leuchtkugeln, Sonnen. Und über den beizenden Tabaksqualm legt sich mit linder Süße ein Weihrauchwölkchen.
Lueger hat Oesterreichs Volk wieder an Oesterreich glauben gelehrt. Das vermochte nur Einer, der an sich selbst glaubte und sich selbst dennoch nicht als den einsam über Flachland hinragenden Gipfel sah. Während ringsum die Literaten flennten, mit der Habsburgerherrlichkeit sei es aus, während sie wimmerten, Oesterreich müsse in Unfreiheit versiechen, in Pfaffenknechtschaft vermodern, gleite, ohne zu rascher That tüchtige Männer, ohne zu fester Organisation reife Massen, in den Morast mählicher Verschlampung, zeigte der eine Mann, was an Energie, an Willen zu nützlicher Leistung selbst aus dem Gewimmel der Analphabeten zu holen war, und ließ zum ersten Mal wieder ahnen, welche Fülle politischer, zu Verwaltung und Führung berufener Talente in dem deutschen, monarchischen, der Kirche in blinder Treue ergebenen Oesterreich wuchs. Der als Kneipendemagoge Verschriene entpuppt sich auf dem Stuhl des Bürgermeisters (den häßlichen, steifen Titel »Oberbürgermeister« kennt Oesterreich nicht) als einen Organisator und Verwalter von genialischer Weitsicht und skrupelloser Entschlußkraft. Er sorgt für die Gesundung der Stadt; für eine blühende, duftende Schärpe, die ihren Leib mit Wäldern und Wiesen gürtet, ihrer fernsten Zukunft noch Licht und Luft sichert. Wahrt und weitet, wo ers irgend kann, jeden grünen Fleck zwischen den Steinmauern. Läßt Gärten und breite, helle Plätze anlegen. Von den Fenstern des Stadthauses und von den eisernen Trägern der Elektrizitätkraft Blumen herabwinken. Merks, Wien (nach dem Wort Abrahams a Santa Clara); halte Dich jung und hübsch und versäume, in Deiner Monumentalsucht, nicht, das für die Gesundheit der Kinder und Enkel Nothwendige anzuschaffen. Eine zweite Hochquellenleitung soll Euch, soll ihnen reines und schmackhaftes Wasser spenden. Die Stadtbeleuchtung nun Kommunalpflicht, Kommunalrecht sein und nicht mehr einer fremden Kapitalistengesellschaft die Tasche füllen. Der Wiener darf die beste Straßen- und Gürtelbahn fordern: und soll sie haben. Dem Kleingewerbe mehrt Lueger die Möglichkeit, Kredit zu finden; modernisirt das Versicherungwesen; verpflichtet die Gemeinde, ihre Beamten und Arbeiter gegen Berufsgefahr zu assekuriren, in ihrem Weichbild die wirksamsten hygienischen Einrichtungen zu bezahlen, der Armenverwaltung ausreichende Mittel zu gewähren, Kinderheime und Seesanatorien zu gründen und ihre Toten, ohne Tribut an den Leichenschacher, selbst zu bestatten. Die Künstler klagen über den Staat, dessen Rückständigkeit und Kargheit sie darben läßt? Eine gute Gelegenheit, den Schimpfern zu beweisen, daß wir »Klerikalen«, wir »Dunkelmänner« für die schönen Künste ein eben so offenes Herz haben wie die frommen Mönche, die der Menschheit die Pracht alter Kultur retteten; daß wir für die Kunst mehr thun als die liberalen Feinschwätzer. Luegers Machtwort schafft die Moderne Galerie; öffnet sie den verwegensten Talenten. Die Ueberfülle der Ausgaben bebürdet die Stadt mit allzu schwerer Zahlungpflicht? Unsinn. Ein paar Millionen sind flink gefunden. Lustig! Wien bleibt Wien. Und wird sich zu helfen wissen.
Der Stadtaufwand stieg auf zweihundert Millionen Mark im Jahr; stieg noch höher. Der Bürgermeister kürzte sich selbst den Sold; zwanzigtausend Mark: nicht einen Pfennig mehr wollte er haben. Einer, heißts, der nie dran dachte, den Beutel zu füllen. Und arbeitet doch wie Sems emsigster Sohn. Agitator und Geschäftsmann, Verwalter und Repräsentant. Alles in Allem. Läßt sich im Morgengrau über die Möglichkeit billiger Fleischzufuhr Vortrag halten. Hört Dezernenten und Petenten, die Häupter des Bürgerklubs und die Vertrauensmänner der Partei. Redet im Reichsrath oder im Landtag. Empfängt drei Dutzend Besucher und erledigt die laufende Arbeit. Präsidirt dem Gemeinderath und findet jeder Frage eine wirksame Antwort. Sitzt gleich danach beim Ministerpräsidenten und beräth mit den Führern anderer Parteien, wie dem Parlament der Weg zu ersprießlichem Thun zu bahnen sein könne. Abends ein städtisches Fest oder eine Sitzung des Wahlausschusses. Von dort vielleicht noch in eine Vorstadtversammlung. Nach Mitternacht, wenns sein muß, die Intimsten zu geheimem Kriegsrath vereint. Immer frisch, immer fesch und zu »Spassetln« gestimmt. Nie müde, wenn die Stadtwürde von ihm Vertretung, wenn Gewissenspflicht Erfüllung heischt. Nie ein langweilender Pedant. Als Geheimer Rath und »Excellenzherr«, der jedes Portefeuille haben kann, noch so einfach und derb gemüthlich wie einst im Rauch und Blak der Versammlungsäle von Margarethen. So mußte der Mann sein, der die Donauphaiaken in Ordnung zwang. Von heller Wesensfarbe; ohne Nervenschwachheit und verwundbare Hautstellen; schlau, energisch, arbeitsam, muthig zu allen Humoren und in seiner Männlichkeit von allen Grazien gesegnet; vom Wirbel bis zur Zehe ein Wiener. Lueger hat starke Helfer geworben: das Erzhaus, die Priesterschaft, den Hochadel, die Frauen. (Empfand er, daß in einem katholischen Land nur der Coelibat den Mann mit dem Prickelreiz des Unnahbaren weiht, als einen vom Nimbus stolzer Keuschheit Umleuchteten dem Vertrauen der Frauengemeinde empfiehlt, und nahm drum kein Weib?) Doch das Wichtigste hatte er immer sich selbst zu danken. Dem Zauber seiner Persönlichkeit, dem auch der Feind sich nicht ganz entzog. Dieser Antisemit wurde von den Juden bewundert (die schlagfertigen Witz auch in Germanengewandung nach seinem Werth schätzen und denen der Häuptling der Christlich-Sozialen nach einem Ausbruch höhnischer Wuth mit Schelmenzwinkern zublinzelte: »Gar so schlimm ists nicht gemeint!«); wurde von jüdischen Journalisten aller Zungen bejubelt, als er die internationale Zeitungmenschheit einst zum Festmahl ins Rathhaus geladen hatte. Durch Frohsinn, natürliche Wärme und unerkünsteltes Wohlwollen gewann er auch die Fremden, die ihm mißtrauisch nahten. Er sprach bald ja von Wien: und Alle fühlten in dem Agitator, dem Parteimann den gütigen Menschen; hinter den Igelstacheln das starke Herz eines deutschen Christen. Eines Germanen freilich; dem nie in den Sinn kam, Schmähreden und Backenstreiche in geduldiger Devotion hinzunehmen. Dieser Wiener hat seine Heimath geliebt wie der zärtlichste Sohn je die Mutter. Er brauchte keine Familie: hatte sein Wien. Das durfte er mit allen erreichbaren Waffen vertheidigen, mit allen ersinnlichen Ränken aus Fährniß retten. Dem mußte er, wie Kleists Hermann seinem Cheruskerland, freudig den Schein der Treue und Redlichkeit opfern. Was der Stadt frommte, konnte nicht Sünde sein. Leuchtenden Blickes sah Lueger die seiner Obhut Anvertraute, die ihm die Mutter, die Ehegefährtin, die Kinder ersetzte, zu neuen Prächten aufblühen. Ein Glücklicher. Einer, der seinen schönsten Traum leben durfte. Der mit der Wucht seines von einem großen Gefühl bedienten Willens alle Widerstandsversuche bezwang. Und starb, ehe die Volksgunst von ihm wich. Drei Jahre lang hat er gelitten; drei Jahre lang sich unrettbar verloren gewußt. Doch seinen Lieblingen wandelt der Himmel das Leid noch zum Glück. Die Krankheit adelt Luegers rasch ergreisende Gestalt; die stete Qual läutert den manchmal noch allzu groben Pritschenwitz des Hagestolzen zu väterlichem Humor. Milder tönts von der Lippe und vornehm erscheint, im Silberreif frühherbstlichen Martyriums, der Mann, der nur als ein aus tellurischem Stoff Gefügter doch zu werden vermochte, was er geworden war. Wien sieht den siechen Bürgermeister arbeiten, schaffen, lächeln, lachen sogar; ahnt, was es an dieser Kernkraft, die sich unter der Sichel des Menschenschnitters noch rüstig aufbäumt, an dieser robusten, rastlosen Liebe verliert: und in Ehrfurcht, Mitleid, Angst doppelt sich das Dankbedürfniß der Gemeinde. Bis ins letzte Röcheln bleibt dem Sterbenden die Macht; dem längst fast Blinden die Gunst der Volksgenossenschaft. Aus Palästen und Dachkammern schleppt die Hoffnung Blumen herbei. Das letzte Aufgebot der Groller entwaffnet sich vor diesem Leidenslager. Jeder fühlt, was der Stadt da, dem österreichischen Nationalbesitz schwindet. »Lebt er?« Wochen lang ists in der Frühe die erste Frage. Gläubige Liebe harrt auf ein Wunder. Und als der schwarze Wimpel vom Rathhaus weht, stockt dieser Stadt unverkümmerter Lebenslust plötzlich der Athem; scheint das junge Grün welk und die bunte Frühlingsflora entfärbt. Landestrauer, die kein Befehl zu erzwingen braucht. Hunderttausende reihen sich ins Leichenspalier. Die Kränze häufen sich zum Gebirg. In der Stefanskirche kniet der alte Kaiser neben dem Erdenrest seines besten Dieners. Vom Haus Oesterreich kommt Diesem hier Dank. Von allen Thürmen dröhnt die Klage: Der Lueger starb uns! Nie ward ein Bürger noch so bestattet.
Einer fehlte am Trauertag. Krankheit der Kinder hielt den Erzherzog-Thronfolger fern. Just an diesem Tag hätte Franz Ferdinand sich gern wohl den Wienern gezeigt. Die waren, seit er, statt des beliebten Weihbischofs Marschall, den Fremdling Nagl zum Erben des Kardinals Gruscha bestellt hatte, ein Bischen verärgert; trotzdem sie hörten, der jähzornige Herr habe dem Grafen Galen, der die wiener Stimmung so arg verkannt, sein Beichtkind so unklug berathen hatte, das bitterste Wort nicht erspart. Aus der Hofregion sickerte das Getuschel ins Thal. »Wird er als Kaiser nicht stetiger sein? Dann mögen die Günstlinge zittern. Beck, Aehrenthal, Galen: gestern im Glanz und heute im Dunkel!« Der um Lueger, den Freund Marschalls, Trauernde hätte sich die Schmoller schnell versöhnt. So mächtig ist dieser Bürgermeister noch auf der Bahre, daß ein Erzherzog, daß der Thronfolger wünschen muß, als ein dem Toten Getreuer vor das Volk der Hauptstadt zu treten.
Kann ein von überschwingender Liebe fast Vergotteter einen Nachfolger haben? Den Titel konnte Lueger, nicht die Macht einem Erben lassen. Karl der Glückliche starb so langsam, daß er Zeit hatte, das Haus der Stadt zu bestellen. Noch mit erblindendem Auge sah er manches Verwaltungtalent und manchen kräftig dem großen Muster nachstrebenden Willen. Doch nicht ein Haupt, das alle im Sturm erstrittenen Kronen zu tragen vermochte. Und gerade jetzt brauchte die Partei, brauchte die Stadt einen Mann, dem die Masse willig Vertrauen gewährt. Soll die Bürgermeisterschaft wieder zu einem unbeträchtlichen Verwaltungamt werden, für das ein in geschäftiger Würde alternder Figurant genügt? Dann wäre in Oesterreich, nicht in Wien nur, Wesentliches verändert. »So gehts, wenn man sich in Personenkultus verliert und irgendeinen Volksgünstling zu groß werden läßt. Sinkt diese verehrte ›Persönlichkeit‹ eines schönen Tages ins Grab, dann fallen die Adoranten von gestern über einander her und der ruhige Bürger, der nach der Arbeit was Gutes schmausen möchte, weiß nicht, wer Koch, nicht, wer Kellner ist.« Solcher Gefahr ist das liebe Berlin nicht ausgesetzt. Das holt sich die Bürgermeister aus der Fremde und ist zufrieden, wenn die Importirten nach der Schnur wirthschaften und der Beamtenpflicht niemals fehlen. »Famos, daß mirs in der Reichshauptstadt geglückt ist«; sonst hätte er sich für Breslau oder Altona angeboten und wäre schließlich versauert. Im Rothen Haus gehts aus dem Vollen. Magistrat und Stadtverordnete lassen sich ungern mit neuen Ideen heimsuchen. Lobt die Bürgerfreiheit und preist den Segen der Selbstverwaltung: dann seid Ihr geborgen. Das Stadtbild verhäßlicht sich, aus den Wäldern werden Parzellen, für die Kunstpflege geschieht nichts. Doch die Straßen sind sauber, der Bodenwerth steigt und der fremde Herr, der Oberbürgermeister heißt, erledigt sein Dezernat mit pünktlicher Sorgfalt. Er wuchs nicht aus diesem Boden; soll er sich mit dem Herzen ihm angeloben? Berlin wird, mit all seinen Reizen, im Reich erst Liebe erwerben, wenn ein liebender Sohn das Schicksal der Stadt, deren Erleben er wie eigenes zu empfinden gewöhnt ward, mit starkem Schöpferwillen gestaltet hat. Für Wien hats Lueger gethan. Mag von seiner Partei sich die Stadtmode wenden, in dem Menschen, wenn die Legende verklungen ist, das Allzumenschliche erfühlt werden: das Bild des Bürgermeisters, des Doktors Lueger wird Wien immer wieder mit dem Frühlingsgrün dankbarer Liebe kränzen.