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Briand.

Hundertundfünfzig Jahre sind vergangen, seit Camille Babeuf geboren wurde. Das Schicksal des Mannes ist lehrreich. Der Sechzehnjährige kommt 1776 zu einem Feldmesser in die Lehre, wird später in der Picardie Grundbuchkommissar und klettert langsam die Amtsleiter hinauf. Zu langsam für das Bedürfniß seines Ehrgeizes. Er sieht die Volksmasse leiden, hört sie ungeduldig im Joch stöhnen, liest Rousseau, Mably, Morelly und andere Sozialmoralisten, beschließt, die Bewegung, die den Umsturz des Bestehenden vorbereitet, mitzumachen, und nennt sich zuerst, weils milder klingt, François-Noël, dann, weils wilder klingt und die Römer wieder in der Mode sind, Gracchus Babeuf. Er geht nach Paris, preist, in Phrasen, die von Rousseau billig zu haben sind, den Naturzustand, dessen Herrlichkeit durch die schnöde Gesellschaft verhunzt ward, ist unter den Erstürmern der Bastille und gründet, als die Volkswuth die Tyrannen weggeweht hat, eine Zeitung, der er, nach schwierigen Anfängen, den Titel Le tribun du peuple giebt. Im Schreckensjahr 1793 wars ihm schlecht gegangen. Er war, als Distriktshauptmann von Montdidier, der Urkundenfälschung angeklagt und zu zwanzigjähriger Zuchthausstrafe verurtheilt worden. Dieses Urtheil wird von der Zweiten Instanz aufgehoben. Babeuf ist wieder frei, bleibt in Mancher Augen aber bemakelt und kann kaum noch hoffen, in der Politik die Hauptrolle zu spielen, nach der seine Eitelkeit gelangt hat. Bleibt in der unbehaglichen Lage des Catilina, der von der Anklage, als Haupt der Provinzialverwaltung in Afrika den Einwohnern Geld abgepreßt zu haben, freigesprochen worden ist, mit besudeltem Kleid aber nicht für die Konsulatswürde taugt. Solche Menschen sind, weil sie von dem Sturz der geltenden Rechtsordnung nichts zu fürchten und Alles zu hoffen haben, immer zu Verschwörungen gegen das Staatsgefüge bereit. Der Jakobiner Babeuf sieht in dem Fall Robespierres den Triumph niederträchtiger Tücke und schmäht die Thermidorsieger so laut, daß er, als Verächter der großen Grundsätze der Revolution, ins Gefangniß gesperrt wird. Da findet er andere Hungrige, die nicht ans Ziel ihres Wunsches gekommen sind und deshalb meinen, das Vaterland müsse jetzt erst aus Lebensgefahr errettet werden. Im Kerker entsteht ein Nebenkonvent. Ist, wird gefragt, das Volk, das sich souverain dünkt, nun wirklich frei? Nein, heißt die Antwort; wer Rousseaus Lehre bis ans Ende durchdacht hat, muß erkennen, daß die formale Rechtsgleichheit ein Truggebild bleibt, so lange der Vermögensunterschied den Reichen zum Herrn des Armen macht; daß von Gleichheit erst ernsthaft gesprochen werden kann, wenn allen Bürgern der Republik die selbe Eigenthumsgrenze vorgeschrieben ist. Und was ist Freiheit, was Brüderlichkeit ohne wahrhaftige Gleichheit? Robespierre rächen: Das genügt nicht mehr; weit über Robespierres Ziel hinaus, führt der Weg, auf dessen letzter Strecke das Heilkraut wächst. Nur der Kommunismus kann helfen; nur die soziale Revolution diese Wohlthat dem Lande sichern. Als der begnadigte Babeuf ins Leben zurückkehrt, ist die Verschwörung der »Gleichen« fertig und harrt nur noch der günstigen Stunde.

Im Frühjahr hört Barras, eins der fünf Mitglieder des Directoire exécutif, von seinem schlauen Polizeiagenten Bacon, daß Babeuf in geheim gehaltenen Versammlungen, deren Schauplatz meist irgendeine Vorstadt sei, die Menge aufhetze, den Sturz des Direktoriums vorbereite und nicht nur beträchtlichen Massenanhang, sondern auch bestimmte Zusagen vom General Bonaparte habe. Da das Volk unter der Theuerung leide und mit der versöhnlichen Absicht der Direktorialpolitik eben so unzufrieden sei wie mit dem neuen Wahlrecht, dürfe man die Sache nicht leicht nehmen. Die Geheimorganisation habe schon fast siebenzehntausend Namen in ihren Listen, predige in Nachtklubs die Pflicht zur Revolution und plane eine Ueberrumpelung des Landes; auch das neue Direktorium sei schon gewählt. Bonaparte? Dem wäre solcher Streich zuzutrauen. Auch Einer, der nichts zu verlieren hat: also der richtige Mann für die Gleichmacher. Der hätte sich am dreizehnten Vendemiaire gegen den Konvent wohl in den Dienst der rebellischen pariser Sektionen gestellt, wenn er nicht schnell noch zum Divisionär befördert worden wäre. Barras kennt seinen Gehilfen; verspricht ihm den Rang eines Kommandirenden Generals, den Oberbefehl in Italien: und weiß nun, daß der Korse sich von Babeuf trennen und in den Süden die Hoffnung mitnehmen wird, die Sektenverschwörung möge dem schwachen Direktorium das Leben so schwer machen, daß es bald wieder einen bewährten Degen braucht. Doch die Fünf wollten nicht warten. General Blondeau erhält den Befehl, das Hauptquartier der Verschwörer zu umzingeln, bis der Friedensrichter Delorme die zwölf Kommunistenführer verhaftet und das Nest gründlich ausgenommen hat. Die konfiszirten Klubakten beweisen, daß Barras gut bedient war. Am zweiundzwanzigsten Floreal des Jahres IV sollte das Direktorium abgesetzt und, sammt den Männern des Generalstabes, in ein Provinzgefängniß geschleppt werden. Dann sicherten die Verschworenen sich die Herrschaft über den Staatsschatz, stellten die Verfassung vom Jahr 1793 wieder her, ließen einen neuen Nationalkonvent und einen neuen Wohlfahrtausschuß wählen, jeden Widerstrebenden köpfen und dem Volk verkünden, jedes Besitzrecht sei verwirkt, jedes Privateigenthum abgeschafft und die Aera des »allgemeinen Glückes« beginne. Aus dem Gefängniß schreibt Babeuf an das Direktorium, nun erst, nach dem Einblick in das Netz der Verschwörung, könne es erkennen, welche Gewalt und Vertrauensstellung er im Herzen der Nation erworben habe. »Glauben Sie etwa, Ihre Würde verbiete Ihnen, mit mir wie von Macht zu Macht zu verhandeln? Zeigen Sie sich in edler Größe: und das Vaterland ist gerettet. Mit ihren Leibern werden die Republikaner Sie decken. Sorgt, Ihr fünf Regenten, für das Volk, wenn Ihr Euch ihm zugehörig fühlt. Dann will ich gern meine Tribunengewalt, die Ihr jetzt ja kennt, benutzen, um Euch das Volk zu versöhnen. Eures Lebens dürft Ihr dann sicher sein.« Der hohe Ton der Epistel weckt nur Heiterkeit; und als Barras und Rewbell mildes Handeln empfehlen und drängend rathen, nur die gefährlichsten Häupter zu treffen und sich nicht vom ersten Schreck in Fanatikerwuth jagen zu lassen, werden sie von den Machtgenossen überstimmt. Keine schwächliche Schonung, mahnt Carnot; »Den Tod Allen, die sich verschworen haben, uns zu töten: so wills das Gesetz der Vergeltung, ohne dessen Strenge der Jakobinergeist nicht zu besiegen ist.« Carnot will die Erinnerung tilgen, daß er einst selbst dem Wohlfahrtausschuß angehörte. Fühlt sich auch als den Staatsretter, dem der Fehlschlag der Verschwörung zu danken ist. Als Barras, nach Bacons Meldung, noch schwankte, hat Grizel, der Einlaß in die Kommunistensekte gefunden hatte, dem Direktor Carnot gezeigt, wie nah die Gefahr schon sei; und erst dieser Bericht des agent provocateur hat den Haftbefehl erwirkt. Soll das Verdienst solcher Retterthat nun etwa verkleinert werden? Wo Rauch aufsteigt, brennts. Wer Verdächtige schirmt, darf nicht klagen, wenn er selbst verdächtigt wird. Barras hat mehr als einmal den Jägerlieutenant Germain empfangen. Der ist, mit Babeuf, in der Rue Bleue verhaftet worden. Am Ende war Barras dem Umsturzplan gar nicht so fern, wie man bisher glaubte? In seinen (von Duruy herausgegebenen) Memoiren hat er erzählt, mit welchem Aufwand von Theatereffekt das Geraun im Direktorium bestattet wurde. »Wagt nur, mich anzuklagen! Ich fürchte die Anklage nicht: ich fordere sie. Vor dem Rath der Fünfhundert werde ich sprechen und zeigen, wer unter uns die Würde des Amtes vergessen und mißbraucht hat.« In seiner Stimme fühlt er »die Macht des reinen Gewissens«. Und die Gegner erwägen, ob sie einen Mann, der so viel mitansah, zur Verzweiflung treiben dürfen. Das Land, heißts dann, will Ruhe; nur Royalisten und Anarchisten wollen uns durch Zwietracht trennen. Barras lächelt wieder. Die Komoedie ist aus. »Wir versicherten einander wohlwollender Hochachtung und schlossen die Sitzung.«

In Vendôme wird gegen Babeuf und Genossen verhandelt. Sie wehren sich wie Löwen, schreibt Barras; erklären, daß sie fürs Vaterland, für die ganze Menschheit den Tag der Freiheit bereiten wollten, nennen ihre Ankläger die Schande der Nation und singen am Schluß jeder Sitzung laut die Marseillerhymne. Die Fünf, die der »einen und untheilbaren Republik« vorsitzen, sehen mit ungleichen Gefühlen auf dieses Gerichtsschauspiel. Letourneur meint, das Tribunal dürfe die Frechheit der Angeklagten nicht dulden; Barras findet die Richter voreingenommen und den Brauch, Angeschuldigte wie Verdammte zu behandeln, unwürdig und mit dem staatlich anerkannten Menschenrecht unvereinbar. Carnot hat erfahren, daß ein Geschworener aus Vendôme nach Paris gekommen sei; die Polizei kenne ihn als Terroristen, wisse, daß zwischen den Angeklagten und ihrer hauptstädtischen Gemeinde Briefe gewechselt worden seien und am zehnten Floréal des Jahres V ein Aufstand versucht werden solle. Von allen Seiten ströme die unruhige Jugend nach Paris. Man müsse das Gerichtsverfahren beschleunigen, das hoffentlich mit einer harten Massenverurtheilung enden werde. Im Prairial werden Babeuf und Darthé zum Tod, sieben Gefährten zur Deportation verurtheilt, dreiundfünfzig aber freigesprochen. Carnot nennt das Urtheil ein Dokument der Schande und sagt voraus, daß die freigelassenen Kommunisten sich zu neuer Verschwörung schaaren werden. Am achtundzwanzigsten Mai wird Babeuf guillotinirt. Der aus Frankreich verbannte Filippo Buonarotti schreibt die Geschichte der Verschwörung. Noch im Jahr 1797 wird Carnot als Royalist verdächtigt und, wie die Sieben von Vendôme, zur Deportation verurtheilt. Er flieht nach Deutschland und enthüllt in einer Rechtfertigungschrift das schimpfliche Treiben der Genossen vom Directoire. Von den Kommunisten hört man nichts mehr. Ein Akt der Staatskomoedie ist ausgespielt.

Babeuf hat muthig gelebt und ist muthig gestorben. Hinter dem übers römische Normalmaß noch hinauslangenden Größenwahn des Volkstribunen barg dieses Hirn einen festen Glauben. Der ferne Betrachter darf den Gracchus aus Saint-Quentin nicht sehen, wie ein um seinen Direktorensitz bangender Barras ihn sah. Alle Menschen, hieß es, sind frei, haben gleiche Rechte und über ihnen waltet, als einzige Gottheit, die Allvernunft. Wer mit ernstem Sinn dieser hell klingenden, froh stimmenden Botschaft nachgrübelte, mußte bald merken, daß sie hübsche Worthülsen bot, doch nur der Kurzsicht den Zustand, den sie verhieß, vorgaukeln konnte. Ist der Mensch frei, den Armuth zwingt, vom Nächsten die Möglichkeit des Broterwerbes zu erbitten? Ist dieser Nächste, der ihm die Arbeitmittel gewähren oder weigern, auskömmlichen oder elenden Lohn bewilligen kann, in der gemeinen Wirklichkeit sein Bruder? Nein. Wo der Besitz verschieden ist, darf der zur Vernunft Aufblickende nicht von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit reden; bleibt jedes Gesetz, das die Gleichheit der Rechte vorschreibt, ein Werkzeug der Volksbetrüger. Wenn dem Reichen das Ererbte oder Erworbene genommen ist, privates Besitzrecht nicht mehr gilt, Allen Alles gehört und die Gesellschaft die Gelegenheiten und Mittel zur Arbeit ohne Ansehen der Person vertheilt: dann erst kehrt die Gleichheit des Urzustandes wieder, den entartete Sitten verdorben haben. Der Geheimbund der Égaux wollte Schlagwörter in wirksame Staatsmächte wandeln und hätte, wenn er nicht von geldgierigen Schnüfflern verrathen worden wäre, aus dem Gewimmel der Untüchtigen ein starkes Heer rekrutirt. Denn der Untüchtige, der höchstens ins Mittelmaß Passende kann nur eine Gesellschaftform wünschen, die dem besser Begabten den Aufstieg wehrt; er fühlt, daß die Rechtsgleichheit, die im Grundgesetz steht, ihn nicht vor der Gefahr schützt, dem kräftigeren Konkurrenten weichen zu müssen, und ist erst zufrieden, wenn die Verschiedenheit der Wesensanlage und Lebensleistung nicht mehr den Rang bestimmt. Alle Menschen, spricht er, sind gleich begabt; daß Durand weiter kam als Dupont, ist die Folge eines Rechtszustandes, der dem listigen Räuber mehr nützt als argloser Redlichkeit. Verbietet ihn, befehlt, daß jedem Bürger Arbeit und Lohn von der Gesellschaft (also von der Majorität der Untüchtigen) zugemessen werde: und schnell wird sich zeigen, daß Durand eben so wenig leistet wie Dupont. In dem Discours sur l'origine de l'inégalité parmi les hommes hat Rousseau ja gesagt, daß der Mensch im »Naturzustand« gesund, gut, glücklich war und erst krank, schlecht und elend wurde, seit er Eigenthum erwerben konnte. »Ihr seid verloren, wenn Ihr nicht bedenkt, daß die Frucht Allen, der Boden Keinem gehört.« Vor Gott, lehrten schon die Heiligen Bücher der Juden und Christen, sind alle Menschen gleich; setzt man auf Gottes Platz die Vernunft, so muß die Gleichung noch immer stimmen. Und sind die Menschen gleich, dann gebührt das Bestimmungrecht der Mehrheit. Die beschließt, was geschehen muß, was nicht geschehen darf, und bestellt dem Staate die Hüter. Ihr sagt, sie kenne das Staatsgeschäft nicht und könne drum nicht ahnen, welche Erfahrung und Fähigkeit zur Leitung solches Geschäftes eignen? Wenn sie herrsche, müsse es im Staat zugehen wie in einem von Schornsteinfegern geleiteten Handelshaus? Kindergeschwätz. Alle Menschen sind gleich; alles Unheil stammt aus dem Brauch, Einzelne Besitz und damit Uebermacht erwerben zu lassen. Irland wäre noch heute die Heimath freier und glücklicher Menschen, wenn das dem Häuptling verliehene Recht, seinen Viehbestand zu erweitern, nicht das Gehege des Stammeskommunismus durchlöchert hätte. Ein ehrlicher Jakobiner war sich des rechten Weges bewußt und ließ keinen Zweifel ins Hirn kriechen. Lazare Carnot war, seit er von den Girondisten nichts mehr hoffte, in jeder Entscheidungstunde mit den Jakobinern gegangen, im Florapavillon, als eins der zwölf Häupter des Wohlfahrtausschusses, trotz manchem Zank mit Robespierre, der Träger ihres Vertrauens gewesen, stets aber bereit geblieben, mit jedem Starken bande à part zu machen. Guizot nennt ihn »so ehrlich, wie ein schwatzsüchtiger Fanatiker sein kann«. Vor der Revolution: Hauptmann im Ingenieurcorps; nach dem dreizehnten Vendemiaire: Mitglied des Direktoriums. Ein so rasch Beförderter lernt rasch auch anders sehen. Carnot war zu klug, um nicht zu erkennen, daß Babeufs Sieg Frankreich in hilflose Ohnmacht zerren müsse. Mit dem Pöbel, der ihm Geld, Waffen und Menschen zum Krieg anbot, wollte er paktiren; die Verkünder des Tausendjährigen Reiches der Sanftmuth, in dem es weder Eigenthum noch Krieg geben solle, mußte er, als Patriot und als Machterstreber, wie ein giftiges Schlinggewächs mit eiserner Hacke ausjäten. Aber auch Robespierre hätte, wenn ihm im Thermidorkampf der Sieg geblieben wäre, die Kommunisten nicht geschont noch gar geschirmt. Hätte in dem Tribunen Babeuf den Mann gehaßt, der dem Volk mehr verhieß, als es von den Regisseuren des Rothen Schreckens erhalten hatte, und der, früh oder spät, auf offenem Markt rufen mußte: Der Vernunftanbeter, der Tugendprotz Robespierre hat Euch mit Gauklerkünsten ums Menschenrecht betrogen!

Wenn die französischen Sozialdemokraten nach drei Halbjahrhunderten das Andenken Babeufs feiern und Carnot, der ihn ins Martyrium stieß, geißeln wollten, brauchten sie, um in der Masse Verständniß zu finden, den Blick nicht in die röthlichen Nebel der Schreckenszeit zurückzuschicken. Der Typus des Volksretters, der dem Revolutionär von gestern Mangel an Konsequenz und feigen Verrath vorwirft, ist nicht ausgestorben. Auch Robespierre lebt noch. (Er heißt Jules Guesde und wird dann von deutschen Marxisten, oder heißt Jean Jaures und wird von deutschen Bourgeois verherrlicht. Wie lange wohl? In Frankreich ist Guesde ein Sektenheiliger, Jaurès eine Mode vom vorigen Jahr. Clemenceaus Keltenwitz hat den Kranz des Kammerrhetors zerzaust; und nach dem Eisenbahnerstrike hat Grosclaude, der die pariser Stimmung zu munterstem Ausdruck bringt, gefragt: »Ists nicht endlich Zeit, diese alte Schwatzmühle in den Gerümpelschuppen zu spediren?« Der ami de la vertu muß sich bald in neuer Wesenheit verkörpern.) Und Lazare Carnot mag Denen ein Stümper scheinen, die Aristide Briand emporklettern sahen. »Wollt Ihr Euch vorstellen, wie Schurken die Männer morden, die für die Volksbefreiung ihr Leben wagen, dann schaut auf den Verräther, der heute die Lohnsklaven erdrosselt.« Der Schandpfahl, an dem Briand nackt stehen soll, ward schnell in den Boden gerammt. Der Versuch, den Abtrünnigen vor dem Staatsgerichtshof des Verfassungbruches anzuklagen, ist zwar mißlungen. Doch der Volkszorn kann gegen Aristeides wieder den Bannspruch des Ostrakismos erzwingen.

Der junge Herr Briand war, wie Danton, Advokat und sah aus, als solle ein Babeuf aus ihm werden. Der wildeste Genosse ist ihm noch nicht wild genug. Jedes Mittel, spricht er, das die Zwingburg der Reaktion in ihren Grundmauern lockern, das Volk aus den Fesseln des Kapitalismus erlösen kann, muß angewandt werden. Nur feige Seelen erbeben bei dem Aufruf zum Generalstrike. Die Entwickelung der Wirthschaft fordert diese Machtprobe; wer siegen will, darf ihr nicht ausweichen, und wer sie auch nur aufschiebt, mindert dem Lohnarbeiter die Möglichkeit endgiltigen Erfolges. Ist die Mehrheit der Hörigen noch zu schlaff, läßt sie sich von Leuten einschläfern, die bei dem Gedanken an Gewaltanwendung schlottern, dann muß wieder, wie so oft schon in unserer Geschichte, eine entschlossene Minderheit den Haufen mitreißen. Wähnt Ihr, der gute Wille der behaglich im Ausbeuterrecht Wohnenden werde, mag das Klasseninteresse noch so laut abmahnen, Eure Lage bessern? Selbst die winzigste Reform wird nur durch Einschüchterung, durch wirksame Drohung erreicht. Lasset die Kohlengräber getrost anfangen. Nicht vierundzwanzig Stunden lang kann ihr Ausstand vereinzelt bleiben; das Bewußtsein inniger Solidarität wird schneller, als die Trägheit heute ahnt, das ganze Proletariat waffnen und von einer Grenze zur anderen das Schlachtgeflld dehnen. Jeder Hafenarbeiter wird die kämpfenden Kameraden dadurch unterstützen, daß er kein Kilo fremder Kohle löscht. Die amorphe Masse, die ängstliche Hammelheerde muß überall von muthigen Männern zur That getrieben werden. Die Organisirung solcher Gruppen, in denen der Wille zu schonunglosem Kampf lebt, ist jetzt die wichtigste Forderung. Wovor sollten wir zittern? Vor den Flinten unserer in den Soldatenrock geknuteten Brüder? Sie hassen, wie wir, den Moloch des Militarismus. Aus millionen Kehlen haben sie den Ruf gehört: Wenn das Kommando ertönt, auf ausständige Arbeiter zu schießen, ist Eure Pflicht, als Zielpunkte Kopf und Herz der Offiziere zu wählen, die Euch das Verbrechen des Brudermordes zumuthen! Seid sicher, daß sie für Eure Sache fechten werden. Oder wollt Ihr bis ans Lebensende im Joch bleiben und den Orgien des Militarismus etwa gar noch zujauchzen? Nein. Wir brauchen keine uniformirte Schlächterzunft. Wir unterscheiden nicht zwischen gerechten und ungerechten Kriegen. Jeder Krieg ist uns ein Gräuel, dem jedes erreichbare Mittel vorbeugen muß. Wir sind fest entschlossen, die Kriegserklärung mit dem Generalstrike zu beantworten; und der Befehl zur Mobilmachung der Truppen giebt uns das Zeichen zur Revolution. Also spricht, vor Allgalliens Ohr, Aristide Briand; in hundert Versammlungen. Ein Demagoge von besonderem Schlag. Der Troß machts wie die Schranzen, die dem König vorgirren, er sei mit höherer Weisheit begnadet als das Gekribbel der Unterthanen; sagt der Masse nie, was sie nicht hören will, und rühmt den untrüglichen Instinkt, dem sie in ruhiger Zuversicht folgen dürfe. Briand hat ein anderes System. Empfiehlt sich durch Aufrichtigkeit, die auch Unwillkommenes nicht verschweigt. Singt das Lob der Minoritäten. Losung: Ni dieu ni maître! Feldgeschrei: Furchtlose, erbarmunglose Propaganda der That!

Noch sind kaum vier Jahre verstrichen, seit Frankreich seinen Aristeides so sah. Als den Unerbittlichen, der an der äußersten Konsequenz einmal gefundener Erkenntniß nie scheu vorüberschlich. Der dem Unrechtsstaat Todfeindschaft geschworen hat, die Kapitalistenrepublik durch Massengewalt aus den Angeln heben will und den Genossen, die ihren Jaurès zu sanft, fast schon zahnlos finden, zuruft: »Nur wer, wie ich, für den Generalstrike eintritt, darf sich einen Revolutionär nennen!« Als Hervés Vertheidiger, der die Soldaten zur Meuterei verpflichtet. Er wird Minister; und erklärt auf der Tribüne, daß er keinen seiner Grundsätze jemals dem Machtkitzel opfern werde. Ringsum ein Nicken und Lächeln. Waldeck-Rousseau war der Anwalt der größten Ausbeuter, schien selbst der ärgste Sozialistenfeind: und führte dann, ohne sich je in Hitze bringen zu lassen, die neuen Jakobiner zum Sieg. Combes trug die Kutte, ehe er zur Frühstücksmarmelade ein Pfaffenfilet heischte. Millerand war Sozialdemokrat, saß auf der Ministerbank dann neben Galliffet, dem »Meuchler der Geiseln«, und brüstete sich mit Titeln und Orden. Wer an der vollen Krippe sitzt, greift nicht nach der Axt, die sie zertrümmern könnte. Warum solls mit Briand nicht gehen? Ging auch. Sehr gut sogar. Bald wurde geflüstert: Ein politischer Kopf; ein Staatsmann, der sich zur rechten Stunde zu mäßigen weiß und im Kampfgewühl schon bedenkt, daß ihn morgen das Staatswohl zwingen wird, dem Feind von heute sich zu befreunden. Die Aechtung der Kongregationen ist an seinen Namen geheftet: und dennoch spricht die hohe und niedere Geistlichkeit von ihm im Ton sympathischer Achtung. Er hat eine behutsame Hand, die noch an halb verkohlte Pfosten nützliche Fädchen zu knüpfen vermag und heimlich die durch Clemenceaus fahrige Effektpolitik entstandenen Knitterfalten ausbügelt. Er wird Ministerpräsident. Der Sozialdemokrat; der Führer des groupe antimilitariste. Lernt Frau Marianne nun endlich das Fürchten? Sie freut sich; erwartet sich das lustigste Fest. Ein himmlisches Spektakel für ein blasirtes Volk von Genießern. Am Paradetag sitzt Briand neben dem Präsidenten der Republik, drechselt den Truppenführern Komplimente, preist die Mannszucht als das unentbehrlichste Gut der Nation. Und jeder Uniformirte weiß: Der mit dem Schnurrbart da oben hat uns hundertmal ermahnt, im Straßenkampf die Waffe gegen unsere Offiziere zu kehren, und feierlich gelobt, im Kriegsfall durch revolutionäre Abwehrbewegung, durch Generalstrike und Massenaufstand uns an der Erfüllung der Dienstpflicht zu hindern. Der ist jetzt unser höchster Chef. Ein Schauspiel für Götter; und für Pariser, die ihre Institutionen kaum noch ernst nehmen und keinem politicien Ueberzeugung und Grundsätze zutrauen. Der Ministerpräsident wirkt, wenn er das Wort nimmt, weniger oft durch Wirbelwinde als durch blanke Logik und kühle Nüchternheit. In seiner ersten Programmrede warnt er, in Périgueux, vor neuer Zerklüftung; nennt die Sehnsucht nach innerem Frieden den Herzenswunsch der Nation; fordert alle ehrlichen Republikaner auf, alten Groll zu vergessen und sich zu gemeinsamer Arbeit fürs Vaterland zu schaaren. Und ist vom nächsten Tag an der Vertrauensmann aller ruhigen Rentner, die Frankreich schon in Anarchie gleiten sahen, aller aufrichtigen Freiheitfreunde, die der Stank eines unduldsamen Sektenregimentes längst widert. Naht wirklich das Ende der Jakobinerherrschaft? Kann auch Einer, dem Religion nicht das Trugwerk der Priesterlist, die Ungleichheit der Menschen nicht die Folge staatlich patronisirter Raubzüge ist, in Frankreich wieder frei athmen? Nur Denen um Guesde, um Jaurès, um Combes furcht sich die Stirn. Wohin will dieser Mann, den das Vertrauen der sozialistisch-radikalen Mehrheit auf den höchsten Sitz hob? Leise erst, dann laut und schließlich in gellendem Ausruferton wird an Briands Agitatorenarbeit, an Briands hitzige Rebellenreden und Putschpredigten erinnert.

Dem zuckt keine Wimper. Sein galant lächelnder Mund, den düster dräuende Augen beschatten, spricht gelassen: Ich habe mich nicht gewandelt, bin der Selbe noch, der auf dem linken Flügel der Volksvertheidiger focht; nur jetzt eben president du conseil, der verantwortliche Leiter des Staatsgeschäftes und drum keiner Fraktion unterthan. Antwort und Abwehr? Der lässige Gestus Eines, der eine Mücke wegscheucht; den Stich hat er nicht gefürchtet, doch das Gesumm stört ihn in der Arbeit. In jeder Rede fast wiederholt ers: Ich bin unverändert; aber das Land will Ruhe und braucht die Mitarbeit Aller, denen das Gedeihen der Republik der Leitstern ist, und ich bleibe auf meinem Platz, so lange eine Republikanermehrheit für mich stimmt. Da beginnt der Eisenbahnerstrike. Ein aus bewußtem Willen zur Revolution geborenes Handeln. Die Lohnwünsche der Arbeiter sind schon erfüllt oder der Erfüllung nah; die Regirung verhandelt mit den Ausständigen und erklärt sich bereit, jede ausreichend begründete Forderung bei den Bahngesellschaften zu vertreten. Damit ist der herrschsüchtige Syndikalismus nicht zufrieden; ihm kommts auf die Machtprobe an. Die Rechtsräuber, die der Bodenwucher, die erpreßte Rente mästet, sollen in ihrer Fronfeste alle Schrecken der Belagerung kennen lernen. Auf allen Gleisstrecken wird, in Ost und West, die Rückkehr in die bewährte Mode des Sabotage empfohlen, die zwar die unnöthige Zerstörung des Industriematerials verbietet, es aber für die Dauer der Ausstandszeit unbrauchbar machen will. Eine feine Unterscheidung. Warum eine Dynamomaschine zerbeulen, zerstören, wenn man sie gemächlich demontiren und unentbehrliche Theile in sicheren Versteck schaffen kann? Wozu eine Lokomotive mühsam zertrümmern, wenn man ihrem Bauch die Kohlenspeise entziehen und durch falsche Signale den Schienenstrang sperren kann? Tage lang rollt kein Zug aus dem Gewölb der Kopfstationen. Durch Drohung werden die zum Strikebruch Willigen ferngehalten; die durch Worte nicht Einzuschüchternden mit Hieben und Püffen in die Pferche heimgetrieben, aus denen der Hunger sie zur Notharbeit rief. Ist Frankreich von der Nachbarschaft abgesperrt, ohne die Möglichkeit zu Einfuhr und Ausfuhr, sieht es seine Ostflanke wehrlos der Invasion ausgesetzt und stockt der Puls seiner Wirthschaft, dann muß es merken, wo die Macht wohnt, und die Massen befriedigen, von deren Laune Leben und Tod abhängt. Das ist kein Ausstand, der bessere Arbeitbedingungen erwirken, ist einer, der auf ungebahntem Weg zu neuer Vertheilung der politischen Macht führen soll; ist Revolution. Briand fühlts; und läßt seinen Drang von zaghafteren, um ihre Politikerzukunft, ihre einträglichen Mandate bangen Kabinetsgenossen nicht eine Minute lang hemmen. Aristeides wird Drakon. Die Haupthetzer, die beim Sabotage Abgefaßten werden verhaftet, die Strikebrecher mit der Waffe geschützt, die von der Militärpflicht nicht freien Ausständigen zum Wehrdienst einberufen und, als Soldaten, durch die Kommandogewalt zu der Arbeit gezwungen, die sie, als dem Syndikat gehorsame Civilisten, eingestellt hatten. Wüthend heult die Demagogenschaar auf. Gerade solchen Strike hat ja Briand stets gefordert; wenns nach ihm ginge, müßten in allen Gruben, Hütten, Fabriken jetzt die Arbeiter sich den Eisenbahnern anschließen; dann hätten wir den Generalstrike, den er ersehnte und in dem jeder republikanische Soldat zu Meuterei verpflichtet wäre. Briands Agitatorenreden werden abgedruckt, auf Riesenplakaten an die Straßenecken geklebt. »Declarations de M. le president du conseil.« Nur Drohung und Einschüchterung sichert dem Lohnarbeitervolk Erfolge. Der Befehl zur Mobilmachung ist das Zeichen zur Revolution. Der Soldat muß auf die Offiziere schießen, die ihm ausständige Arbeiter als Kugelziel zeigen. Die ganze Leier. Der Ministerpräsident wankt nicht. Läßt die Plakate kleben. Kann, wie der Weltenschöpfer, am siebenten Tag ausruhen: Frankreich ist wieder in Ordnung und ringsum Alles gut. Und da er in der Kammer mit Interpellationen und von der neuen Montagne her mit Schmähung überschüttet wird, spricht er, der Sozialdemokrat, der Revolutionär das tollkühne Wort: »Ich werde Ihnen, meine Herren von der äußersten Linken, Etwas sagen, das Ihren Unwillen vielleicht bis zum Siedepunkt erhitzen wird. Wenn im Angesicht einer dem Vaterland drohenden Gefahr das Gesetz nicht die Möglichkeit geboten hätte, die Grenzen des Landes zu schützen und dadurch das Leben der Nation zu verbürgen, dann wäre die Regirung, um sich das Verfügungrecht im Bereich der Eisenbahnen, also eines wichtigen Werkzeuges der Landesvertheidigung, zu wahren, gezwungen gewesen, ungesetzliche Mittel anzuwenden. Das hätte sie gethan; die Stimme der Pflicht hätte sie auf diesen Weg gedrängt.« (Zwischenspiel: Kaum ist das Wort, das den Muth zu ungesetzlichem Reichsschutz bekennt, dem Mund entfahren: da brüllt der stämmige Genosse Colly auf: »Laßt mich den Diktator erwürgen!« Genosse Jaurès hält, mit Anderer Hilfe, den rasenden Hünen und ruft ihm zu: »Wenn Du ihn prügelst, ist er gerettet!« Ein Musterbeispiel jakobinischer Geistesart. Der Streckenarbeiter, Schaffner, Zugführer, der Eisenbahnmaterial für eine von seiner Willkür bestimmte Frist unbrauchbar macht, muß straflos bleiben; denn das Gesetz giebt ihm das Recht zu Koalition und Ausstand und kein Buchstabe beschränkt die Wahl der anzuwendenden Mittel. Der Abgeordnete darf dem Minister, dessen Rede ihn ärgert, die Kehle zudrücken; nur die Erwägung des möglichen Nutzens oder Schadens, nicht die Pflicht zu legalem Handeln, darf von solchem Ueberfall abhalten. Das Regirunghaupt, in dem auch nur der Gedanke keimt, im äußersten Nothfall könne die Stimme des Reichsinteresses die Frage nach der Legalität einer Maßregel übertönen, ist des schlimmsten Verbrechens schuldig.)

Eine Stunde lang tobt der Sturm. Steht Briand, vor dem knirschenden, heulenden, fuchtelnden Haufen, auf der Tribüne. Verräther, Diktator, Gauner, Strolch: kein Schimpf wird ihm erspart. Bleich steht er; aber sein Blick ist ruhig. Seine Vergangenheit, Alles, wofür er Jahre lang gekämpft hat, speit ihm aus dem Geifermund entfremdeter Kampfgenossen Verachtung ins Antlitz. Und ein seiner Nerven minder Sicherer würde sich fröstelnd nun fragen, ob das unpopuläre Trutzwort nicht auch die Gruppen von ihm wegsprengen könne, ohne die seine Mehrheit unhaltbar ist. Briand bleibt ruhig. Er weiß, daß er wider die Bereiter der Anarchie im Lande die Mehrheit für sich hat; und für das Land diktirt er, da er sich in der Kammer nicht Gehör schaffen kann, den Stenographen den Schluß seiner Rede. Dann geht er unbesorgt, unbehütet heimwärts und sagt heiter zu den Reportern, die einen Verstörten erwarten: »Wenn ich den Diktator spielen soll, muß ich zunächst reiten lernen; morgen will ich mich nach einem Rappen umsehen.« Die nächste Sitzung bringt die Anklage in den ehrwürdigen Formen französischer Gerichtssprache. Die fünfundsiebenzig Sozialdemokraten, in deren Reihen er so lange saß, zeihen ihn frechster Rechtsbeugung, schamlosen Gesinnungschachers und erklären, sein Handeln habe im Proletariat Zorn und Ekel geweckt. Vorher schon nannte Jaurès ihn einen nach der Caesarenrolle lüsternen Hanswurst, den das Votum der Mehrheit flink in den Kehricht fegen werde. Er schweigt. Hat nur am Anfang der Sitzung gesprochen. Mehr im Ton des Melodramas als sonst. »Betrachtet meine Hände: kein Tröpfchen Blut hat sie befleckt. Ihre Stimmzettel können das Leben des Diktators enden. Entziehen Sie ihm die Zeichen Ihres Vertrauens: und machtlos tritt er vom Schauplatz. Die Regirung, die reaktionär gescholten wird, legt ihr Schicksal in Ihre Hände. Nur eins erbitte ich: lassen Sie uns im Sonnenlicht, nicht in einem Kellerloch sterben.« Das Wort, das gestern den Sturm entfesselte, war der unkluge Ausdruck einer vermeidbaren Hypothese: »une imprudence«. Keiner glaubts. Jeder möchte beschwören, daß Briand auch gestern sprach, wie er sprechen wollte. Doch die Bescheidenheit des Taktikers wirbt unter den Zaudernden Stimmen; 94 gegen Briand, 388 für ihn. Sieger. Der Bourgeoisie der Retter der Republik. Allen, die Etwas zu verlieren haben, der Messias im Bürgergewand, der Frankreich aus der Gefahr schleuniger Desorganisation riß und den widernatürlichen Bund mit den Sozialisten löste. Die Hoffnung, der Hort, das flecklose Panier aller guten Franzosen. Bald danach fällt er; in einem Kellerloch. Kehrt aber wieder; als Minister eines Königs? Wenn nicht als Person: als Typus ganz sicher.

 

Muß diesen Mann gemeine Machtgier zum Wesenswandel getrieben haben? Weil er die Terminologie am Schnürchen hat, glaubt er, wie in jedem Bezirk mancher Andere, die Sache zu kennen. Spät erst entschleiert sich ihm die Wirklichkeit. Frankreich braucht, zwischen wehrhaften Staaten, ein Heer; und nur strafte Mannszucht, die blind gehorchen lehrt, kann die zur Landesvertheidigung taugliche Maschine bedienen. Frankreich darf, neben klug geleiteten Industriestaaten, bei Gefahr rascher Verarmung und unheilbaren Siechthums nicht in das Elend des Kommunismus sinken. Nur eine kommunistische Gesellschaftordnung aber, die dem Untüchtigen den allzu gefährlichen Kampf ums Dasein erspart und an Besitz, Rang und Recht ihm das Selbe beschert wie dem Tüchtigsten, vermag dem Massenwunsch, dem Trachten der Mehrheit, die nie Elite sein kann, zu genügen. Wer weniger bietet, läßt Wassertropfen in glühenden Stein sickern. Sah Rousseau nie, daß auf der selben Waldscholle ein gesunder Baum starke Aeste himmelan streckt, ein Krüppelchen kaum übers Kindermaß hinauswuchs? Nicht Gleichheit: Ungleichheit zeigt uns, grausamen Zwang zur Auslese des zu Leben und Fortpflanzung Brauchbaren offenbart dem Blick in jedem Revier die Natur. Dürfen wir uns vermessen, sie zu meistern? Aus allen Winkein dieses schönen Landes dampfts von Fieberschweiß und erhitztem Athem. In allen Gewerben langt der Arm nach der Macht, die dem Kopf gebührt. Fraglich ist nur noch, ob der Staat in der Stunde eines Rausches, der auch die Wächter umfängt, zertrümmert oder langsam ausgehöhlt und entmachtet werden soll. Die Bourgeoisie will das Proletariat, das Proletariat die Bourgeoisie prellen. Wir können, heißts hüben und drüben, eine weite Strecke zusammengehen. Doch der wohlhabende Bürger fängt zu fühlen an, daß der Weggenosse ihm, Stück vor Stück, die Besitzrechte entwindet; das Syndikat, die Confédération Générale du travail, zur höchsten Instanz im Staat macht; die Brut in der Verachtung des Vaterlandes aufzieht. Das Proletariat? Daß Monarchisten und Klerikale morgen die Republik würgen und eine schwarze Tyrannei einsetzen werden, wird es nicht ewig glauben. Kleine Bissen sättigen nicht. Und wenn Ausgehungerte sich auf volle Schüsseln stürzen, verhallt der Mahnruf zu weiser Mäßigung. Was ist bis heute denn das Ergebniß der Blockpolitik, die in der Wirrniß des Dreyfushaders einer gefährdeten Partei das Löffelrecht wahren sollte? Ein tiefer Spalt im Stamm des nationalen Lebens. Die Willkürherrschaft der Horden, die von schlauen Beutejägern gedrillt wurden. Die Anwendung der Saboteurmethode auf die Politik: alle Materialien und Einrichtungen des Staates werden noch nicht zerstört, doch für die Zeit des gerade anhängigen Besitzrechtsstreites unbrauchbar gemacht. Währt dieser Zustand fort, dann wird Frankreich wehrlos; verliert seine Kolonien, seine Land- und Seemacht, seinen Welthandel, den Ertrag der Luxus- und Fremdenindustrie. Wird reif für die Sociale, den täglich nach der Melodie des Lampionliedes besungenen Umsturz. Wollt Ihr Frankreich, so müßt Ihr die Scheidung der Geister wollen. Katholisch oder gottlos, liberal oder radikal: das Vaterland heischt die Kraft aller Söhne, die das Interesse an seine Erhaltung band. Die »trunkenen Sklaven«, die Gambetta in ihre Höhlen zurückpeitschen wollte, leben noch unter uns. Und Babeuf geht wieder um … Ein Erleben, das aus dem Kneipenkonvent an die Spitze des Reichsdirektoriums führt, kann auch den Redlichen zweifeln lehren, ob Allen derselbe Rechtsanspruch zieme.

 

Für Babeuf war Carnot, für Jaurès und Genossen ist Briand der Verräther. Im Sinn des Massenhöflings ists Jeder, den die Erhaltung des Staates, auch eines unvollkommenen, und seiner Wehrkraft wichtiger dünkt als die Bescheinigung zäher Prinzipientreue; Jeder, der nicht gewiß ist, daß ohne den Glauben an lohnende, strafende Götter, ohne Willenszwang, ohne den Sporn, den die Sucht nach Besitz und Geltung dem Ermattenden eindrückt, die entfesselte, gekrönte Menge die dem Staatswohl unentbehrliche Arbeit leisten wird.


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