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Noch am Neujahr 1888, an welchem der Mann am Teufelstein in sein achtzigstes Lebensjahr eintrat, hatte er von der Gnade seines Fürsten auf Antrag des Oberförsters einen 100 Mark-Schein erhalten als Zeichen des Wohlwollens und der Zufriedenheit mit seinen Leistungen.
Gleichwohl fand er die Zeit gekommen, seinen Walddienst niederzulegen. So wehe ihm das auch tat, es ging nimmer. Die Füße versagten tagelangen Waldgängen den Dienst, und nur halben Dienst zu leisten, widerstrebte dem braven Mann.
Nur um eines bat er in seinem Pensionierungsgesuch: »im Forsthaus am Teufelstein bleiben und sein Leben beschließen zu dürfen, da es ihm unmöglich sei, seinen lieben Wald zu verlassen und unter so vielen Menschen in dem Städtchen Wolfach oder Schiltach zu leben.«
Gerne willfahrte Fürst Egon dem Wunsche des getreuen Dieners und ließ ihn mit 1200 Mark Ruhegehalt in seinem Forsthaus auf dem Abrahamsbühl.
Jetzt war der Alte selig.
An seine Stelle trat ein junger Waldhüter, dem er ein Zimmer im Forsthaus einräumte, und den er für 20 Mark monatlich mit sich essen ließ.
Auch in der Zeit seines Ruhestandes blieb er ein Original. In den Wald konnte und wollte er nimmer, es tat ihm zu wehe; aber im Wald noch zu wohnen, vom Fenster aus noch das Echo von St. Anton wecken zu können und am Morgen die Sonne über das »Theißenköpfle« heraufsteigen zu sehen, war ihm hohe Befriedigung.
Nie konnte man ihm den Glauben beibringen, daß die Erde sich um die Sonne drehe; das Umgekehrte, meinte er, sei der Fall, denn seit fünfzig Jahren sehe er jeden Morgen die Sonne am Theißenköpfle heraufkommen und hinter dem Staufenkopf hinunter gehen. Sie spaziere also, die Erde aber stehe still.
Ins Forsthaus gebannt, mußte hier für Beschäftigung gesorgt werden, und die machte er sich in seiner eigenen Art.
War er in der Frühe aufgestanden, so ging's an den laufenden Brunnen in der Küche, um sich zu waschen.
Indes mußte sein Wible oder die Tochter Priska den Kaffee machen, wobei er nicht aus der Küche ging, bis sein Mokka fertig war, weil er den Weibsleuten nicht traute und fürchtete, sie täten ihm Zichorie in sein Lieblingsgetränk.
Zum Kaffee ward die erste Zigarre angezündet. Dann wurden sämtliche Uhren aufgezogen und diejenige Pfeife gestopft, welche an der Tagesordnung war.
Er besaß 18 Pfeifen, von denen je eine einen Tag Dienst hatte. War sie ausgeraucht, so wurde wieder eine Zigarre angesteckt, bis die Tagespfeife kalt war und aufs neue gefüllt werden konnte.
Rauchend ging er dann in seinen drei Stuben in der Front des Hauses auf und ab. Nebenbei schaute er seinem Pferde, das er sich immer noch hielt, zu, wie es vor dem Hause weidete, oder er nahm sein Perspektiv und lugte nach den Taglöhnern in der Saatschule oder in seinen Feldern, ob sie arbeiteten.
Gen Mittag kam der Briefbote das Tal herauf und brachte ihm die Zeitungen, erzählte die Neuigkeiten aus der Welt drunten und gab ihm die Stunde an, wenn seine Sonnenuhr nicht funktionierte.
Punkt zwölf, während er eine neue Pfeife stopfte, stund er unter seinen Uhren und horchte lächelnd und aufmerksam auf ihr Schlagen, Trompeten, Kuckucken und Blasen. Kam eine zu spät, so erhielt sie alsbald eine Standrede.
Nach dem einfachen Mittagessen, zu dessen Auftragen ein Wecker in der Küche die Weibsleute mahnte, las er, immer rauchend, die Zeitungen und zwar stets zuerst den »Vetter aus Schwaben«.
Fand er in den Blättern irgend eine billige Neuigkeit aus dem Gebiete der Industrie angezeigt, so wurde sie alsbald bestellt.
Gleich nach dem Essen öffnete er zur warmen Jahreszeit die Fenster, um Fliegen anzulocken. War eine ordentliche Zahl, vom Speisengeruch angezogen, eingefallen, so ging der alte Jäger auf die Jagd.
Nur mit Hemd und Unterhosen bekleidet, nahm er seinen »Muckentatscher«, einen an einen Stecken gebundenen ledernen Lappen, und fing an, die Fliegen zu töten, bis keine mehr im Zimmer war. Die Zahl der Getöteten wurde alsbald in ein Schußregister eingeschrieben, dann die Fenster wieder geöffnet und nach einiger Zeit die Jagd aufs neue aufgenommen. Im Winter, wo keine Fliegenjagd möglich war, wurde zum Zeitvertreib die Drehorgel gespielt.
Dreimal des Tags fütterte er auch mit Vorliebe vom Fenster aus seine Hühner.
Kamen Hausierer, was ihm stets angenehm war, so entließ er keinen, ohne das oder jenes gekauft und mit dem Manne sich einige Zeit unterhalten zu haben.
Wurde es Abend, so schaute er in den Wald hinaus, wie die Sonne die Tannen vergoldete, und dann rief er, wie zum Nachtgebet, das Echo von St. Anton.
Einnahmen und Ausgaben des Tages wurden noch notiert, mit dem Wible zunacht gebetet und die letzte Pfeife im Bett vollends ausgeraucht.
Am liebsten war er, so beschäftigt, des Tags über allein. Seinem Nachfolger sagte er gleich: »Ich bin in meinem ganzen Leben am liebsten allein gewesen: wenn Sie also nichts bei mir zu tun haben, so lassen Sie mich in Ruhe.«
Aber einmal täglich mußte er doch kommen, da der alte Forstmann stets wissen wollte, was in seinen lieben Wäldern gearbeitet wurde. –
So oft er seine Pensionsrate erhalten sollte, mußte er, wie üblich, ein Lebenszeugnis einsenden, das er sich stets selbst ausstellte und zwar in abwechselnden, originellen Ausdrücken.
Im Jahre 1889 schreibt er an das Rentamt in Wolfe: »Das Ab- oder Fortleben des fürstlichen Beiförsters a. D. in Heubach betreffend. Obwohl ich das achtzigste Lebensjahr hinter mir habe, fällt es mir im Traum nicht ein, itzt schon ableben zu wollen oder zu sollen. Früher, wo schwere und beschwerliche Dienstgeschäfte zu verrichten oder Not und Mangel im Hause waren, hätte es eher der Fall sein können; erinnere mich aber dessen nicht. Seit ich nun in den Ruhestand versetzt bin, denke ich an gar kein Ableben und hoffe wenigstens noch 20 Jahre gesund und robust auszuhalten, denn itzt hab' ich das beste Leben, habe nichts zu arbeiten, nur zu essen und zu trinken, nachher mein Pfeifchen zu rauchen und Geld zu zahlen, wenn da ist.«
»Das Standesamt Kinzigtal wird und kann, wenn aufgefordert, mein Leben bestätigen, da demselben, so viel mir bekannt, vom hiesigen Totengräber bis dato noch kein Totenschein über mich zugestellt wurde.«
Im folgenden Jahre meldet er im gleichen Betreff: »Hiemit wird mit eigenhändiger Handschrift recht gerne bestätigt, daß der Unterzeichnete trotz seiner Geburt am 2. März 1809 bis dato noch im Dasein ist und ihm zur Zeit nicht im entferntesten einfällt, sein immer noch robustes Leben itzt schon durch den erwünschten Tod auszuhauchen.«
Im Jahre 1889 feierte er mit seiner Heli die goldene Hochzeit, aber im stillen, weil sein Wible krank war und er nicht ins Wirtshaus wollte nach dem Kirchgang. Aber sein Fürst sandte ihm einen klingenden Gruß, und Freunde und Bekannte gratulierten dem greisen Ehepaar, das auf all diese Dinge nicht gerechnet und auch niemanden etwas von der Feier gesagt hatte.
»Goldene Hochzeiten sind keine grünen,« meinte die Frau Helene, die den Festtag, mit Atemnot ringend, im Bette verbrachte, während der Hochzeitsvater zu Ehren des Tages eins aufspielte auf seiner Drehorgel.
Denn ohne Musik verging ihm kein Tag; machten ihm seine Uhren nicht genug in Tönen, so half er nach mit seiner Orgel oder mit dem Waldhorn.
Lag seine Heli, was in den letzten Jahren oft vorkam, tage- und wochenlang im Bett und es kamen Leute auf den Abrahamsbühl und zum Teufelsteiner, so führte er sie unter die Türe der Krankenstube und sprach im Spaß: »Helft mir doch mein Wible umkehren, sie liegt immer auf einer Seite, und sterben will sie auch nit, damit ich eine junge bekomme. Aber alte Wiber sterben nit leicht, die sind nicht umzubringen.«
Als Antwort flog dann ein alter Schuh oder ein Pantoffel unter die Türe, die der Gatte lachend wieder verließ.
Doch die gute Heli, die brave Mutter, ging eher heim, als der Fürst vom Teufelstein geahnt hatte. Am 3. April 1891 haben sie die treue Gefährtin am Teufelstein vorbei auf den winterlichen Kirchhof von St. Roman zu Grab getragen. Nur zwei von ihren vielen Kindern waren bei der Mutter im Sterben, die andern alle fern der Heimat oder im Tode ihr vorangegangen. Sie starb so fromm, wie sie gelebt hatte.
Bald, nachdem sie die Mutter begraben, wankte eines Tages mühsam an einem Stock eine bleiche, abgehärmte Frauensperson durch den Wald dem Forsthaus zu. Es war die Tochter Kreszenz, heimgekehrt nach furchtbaren Leiden aus Brasilien.
Merkwürdig, der Mann und die Frau, welche nie aus der nächsten Umgebung ihres Waldheims herauswollten, hatten Kinder, in denen ein starker Wandertrieb herrschte.
Als die Kreszenz sich erholt, heiratete die Priska ihren Sebastian, den Flößer, und der alte Jäger lebte mit der einzig freien Tochter seine letzten Tage in dem Haus, das einst wimmelte von Kindern.
Aber ans Sterben dachte er nicht, es war ihm auch nicht darnach. Ein Jahr nach dem Tod seiner Heli meldet er sein Leben wieder also an:
»Nun ist die Zeit wieder da, wo Pensionäre ein Lebenszeichen von sich zu geben haben, um nicht zu den Verschollenen notiert zu werden. Deshalb berichte ich, daß ich noch lebe und zwar seit dem 2. März 1809 und – Dank dem Himmel – recht gesund und munter bin und mein Leben itzt noch nicht mit dem unwiderstehlichen Tod vertauschen möchte.«
»Sollte aber durch einen Federstrich meine Unterschrift gegen die frühere bezweifelt werden, so wolle man den Totengräber Anton Hauer in St. Roman um Aufschluß angehen, welcher mein Leben gewissenhaft bestätigen dürfte, da ich meines Wissens noch lebe.«
Ja, er war in diesem Jahr 1892 noch so lebenslustig, daß er der Domänenkanzlei in Donaueschingen mit dem heiraten drohte.
Praktisch, wie er war, wollte er für seine kranke Tochter sorgen und kam daher auf den zweifellos vernünftigen Gedanken, seiner Kreszenz die Pension zu verschaffen, welche seiner Frau, wenn sie ihn überlebt hätte, zugefallen wäre. Er schrieb daher dienstlich den folgenden köstlichen Bericht: »Wie bekannt, bin ich seit 1. April vorigen Jahres Witwer, aber trotz meiner 83 Jahre noch heiratsfähig, verzichte aber auf Wiederheiraten, wenn hohe Domänenkanzlei meiner kranken Tochter Kreszenzia nach meinem Tod die Pension gewähren würde, welche sonst meiner überlebenden Frau zukäme. Andernfalls werde ich mich mit einem knapp der Schule entlassenen Mädchen verehelichen. Ein altes Reibeisen zu heiraten, fällt mir nicht ein. Minderjährige Kinder habe ich zur Zeit keine mehr, wenn ich aber wieder heirate, sind solche nicht ausgeschlossen.«
»Ich bin 57 Jahre im aktiven Dienst gewesen und habe einen großen Betrag in die Witwenkasse eingezahlt, hoffe also auf Gewährung meiner Bitte.«
Domänenkanzleien haben in der Regel keine Anlagen zum Verständnis von Humor und können sie der Folgen wegen auch nicht haben. Die Bitte des Teufelsteiners wurde abschläglich verbeschieden, aber der junge Fürst Karl Egon sorgte, wie wir sehen werden, für die Kreszenz und beruhigte so den Alten, seine Drohung, wieder zu heiraten, nicht auszuführen. –
Immer einsamer wurde des braven Mannes Leben, Er verließ in den letzten Jahren selten auch nur das Haus. In seinen Stuben spielte sich sein Leben ab mit Rauchen, Jagen, Orgeln, Uhrenaufziehen und Zeitunglesen.
Obwohl er Spaziergänge in den Wald, der ihn rings umgab, noch leicht hätte machen können, tat er es doch nicht.
Er wollte seine Kinder und Freunde, die jungen und die alten Tannen, nicht mehr besuchen als ein Forstmann, der nichts mehr mit ihnen zu tun hatte. Seinem Herzen hätte es wehe getan, wie ein Fremdling unter ihnen zu wandeln.
Diese Abgeschlossenheit und diese freiwillige Gefangenschaft waren zweifellos für einen Mann, der mehr als ein halbes Jahrhundert den ganzen Tag im Walde zugebracht hatte, gesundheitlich von schädlicher Wirkung.
Drum klopfte der Tod bei ihm eher an, als er erwartet hatte.
Ahnungen von diesem Ereignis zogen durch seine Seele. Eines Tages, als der Oberförster Gayer ihn besuchte, stellte er an diesen die Frage, ob er nicht, wenn der Tod einmal käme, im Walde begraben werden könnte. Er gehe so ungern aus seinem lieben Wald, und unter seinen Tannen möchte er den letzten Schlaf schlafen.
Der Oberförster bezweifelte, ob dieser Wunsch erfüllt werden könnte.
»Wenn das nicht sein kann,« sprach nun der alte Jäger, »so bitte ich Sie, Herr Oberförster, mein Begräbnis also zu ordnen: Mein Sarg soll, mit Tannenreisig verziert und von Waldleuten und von Holzmachern begleitet, von meinem Rößlein auf einem Wagen recht langsam bis zum Saum des Waldes beim Teufelstein gezogen werden. Von da aus sollen sie mich tragen bis zum Friedhof von St. Roman. Sobald sie aber mit meiner Leiche aus dem Wald herausschreiten, sollen drei Böllerschüsse losgelassen werden, daß es in den Bergen widerhallt und alle Tannen erfahren, daß der Fürst vom Teufelstein von ihnen ewigen Abschied nimmt.«
Gerührt versprach ihm der Oberförster, seinen Wunsch pünktlich zu erfüllen, meinte aber, es sei noch lange Zeit bis dahin. »Und ich mein's auch,« lächelte der Alte, »aber man weiß es eben nicht. Aber wenn's sein muß, geh' ich halt und bin jetzt getröstet, daß meine Leiche beerdigt wird, wie ich's wünsche.«
Im Winter 1892 auf 93 saß er am Abend, oft noch lange sein Pfeifchen schmauchend, bei seiner Kreszenz in einsamer Stube, während draußen in kalten Nächten die Füchse bellten und der Mond die schneebestreuten Tannen beglänzte, und erzählte aus seinem langen Leben. Oft sprach er aber auch davon, wie gut er's jetzt habe in seinen alten Tagen und wie gerne er noch ein paar Jahre leben möchte.
Es sollte nicht sein. Als der Frühling ins Land kam, der Schnee von den Bergwänden schmolz und die Tannen ihre Winterlast abschüttelten im Wehen lauer Winde, als die Bergfinken und die Drosseln wieder zu schlagen anfingen und des Jägers Rößlein lustig vor dem Forsthaus sich tummelte – da kam der Sensenmann zum Fürsten vom Teufelstein.
Er klopft erst leise an. Das Rauchen will nicht mehr so schmecken, wird aber unentwegt fortgesetzt in alter Art. Die Beine wollen ihren Mann nicht mehr tragen, während er rauchend durch seine Stuben promeniert. Bisweilen entschlüpft ihm das Wort: »Wie armselig wird doch der Mensch im Alter!«
Da es nicht besser werden will, besteht die Kreszenz darauf, den Doktor in Wolfe zu holen. Dagegen sträubte er sich wegen der großen Kosten und schickte die Tochter zum Dr. Moser, um von diesem mündlichen Rat zu holen.
Sie kam vom weiten Marsch zurück mit dem Bericht, der Arzt meine, er sollte den Patienten einmal selbst sehen. Darauf wollte dieser aber nicht gleich eingehen und machte den Vorschlag, dem Doktor eine Photographie zu schicken, welche ein vagabundierender Künstler einst vom Teufelsteiner aufgenommen hatte. »Dann sieht der Doktor, wie ich aussehe, in mich hinein kann er doch nit schauen,« sprach der Alte.
Schließlich gab er aber doch nach, und der Arzt erschien. Mit lächelnder Miene äußerte der Jäger, sein Pfeifchen im Munde und im Bette liegend: »Was meinen Sie, Herr Doktor, bringen Sie mich noch einmal 'rum? Ich hab' dieser Tag' in der Zeitung gelesen, im Oesterreichischen sei ein Wibervolk 130 Jahre alt geworden, und wenn das ein Wibervolk z'weg bringt, so wird's bigoscht der Fürst vom Teufelstein au z'weg bringen.«
Er wehrte sich gegen den Tod mit aller Energie. Täglich stand er noch vom Lager auf und versuchte mit der Pfeife seinen gewohnten Zimmerspaziergang zu machen. Täglich ging's aber auch schlechter.
Als er endlich sah, daß es nicht mehr wollte, ließ er den Pfarrer von St. Roman rufen und machte seine Rechnung mit dem Himmel. Seine Kreszenz hatte ihn, da sie in Einsiedeln diente, in die Bruderschaft von unserer lieben Frau zur immerwährenden Hilfe aufnehmen lassen.
Die Beipflichtung eines Mitglieds dieser Bruderschaft besteht in dem täglichen Beten von drei Ave Maria.
Dieses Gebet, das er zu verrichten nie vergessen hatte, betete er jetzt angesichts des Todes immer und immer wieder und, wie mir die Kreszenz schrieb, in einem so flehentlichen und innigen Ton, daß es »ihr durch Mark und Bein ging.«
Dazwischen rief er wieder laut und langsam: »O Jesus, dir lebe ich; o Jesus, dir sterbe ich; o Jesus, dein will ich sein im Leben und im Tode!«
Am Morgen seines Todestages kam vom jungen Fürsten von Fürstenberg eine Sendung, ein eingepackter Stock, im Forsthaus an. Der Alte freute sich und meinte: »Jetzt kommt der Fürst auf die Auerhahnjagd und übernachtet bei mir.« Am Mittag erschien der Waldhüter, sein Nachfolger, mit der Kunde, es komme am Abend ein Herr zur Hahnenjagd. »Das ist der Fürst selbst,« meinte der alte Jäger, »er hat diesen Morgen schon seinen Spazierstock geschickt, und ich hab' ihn in das herrschaftliche Zimmer bringen lassen.«
Gegen Abend kam der Waldhüter mit dem erwarteten Jäger ins Forsthaus. Es war nicht der Fürst, sondern ein Baron von Reischach, Hofmarschall der Kaiserin Friedrich.
Beide fanden den braven Förster als einen toten Mann. Eben, als am 27. April 1893 die Sonne zwischen dem Käppeleswald und dem Staufenkopf unterging, war er verschieden.
Der Baron hatte dem getreuen Diener Grüße des Fürsten und in der Sendung vom Morgen den Spazierstock seines verstorbenen Vaters als Andenken bringen sollen mit dem Wunsche, den Stock noch lange zu gebrauchen.
Der fürstliche Spazierstock war des alten Jägers Wanderstab in die Ewigkeit, in welche der fürstliche Spender ihm heute bereits auch nachgefolgt ist. –
Am 29. April 1893 regte es sich in allen Tälern und in allen Wäldern des oberen Kinzigtales. Ueberall hin hatten die Leichenbitterinnen den Tod des Fürsten am Teufelstein gemeldet auf alle Höfe in Kaltbrunn, Bergzell, Wittichen, St. Roman, Lehengericht, Schapbach, Rippoldsau, auf dem Kniebis und im Holzwald und hinab in die Städtchen Wolfe und Schilte.
Und von überall her aus diesen Waldgebieten waren Buren und Bürinnen aufgebrochen, dem braven Mann am Teufelstein die letzte Ehre zu erweisen. Die einen kannten ihn, die andern hatten viel von ihm gehört – alle achteten ihn, den Waldmann und Bauernfreund.
Sein Oberförster hatte die Feier in die Hand genommen, durch Rundschreiben alle Waldhüter und Holzhauer aus den fürstlichen Forsten dazu geladen, für die Böller gesorgt und für die Tannenkränze auf dem Totenbaum.
Des Toten Rößlein zog den Sarg bis über den Teufelstein hinaus. Und als der Zug den Wald verließ, krachten die Geschütze, und es rauschte in den Tannen am Eichberg und im blauen Loch, in der Trillen und am Teufelstein. Und von St. Anton herüber gab es Widerhall. Das Echo, das er so oft gerufen mit seinem Waldhorn, es gab heute die Trauersalven zurück wie dumpfes Wehklagen.
Und die Völker in malerischer Tracht hinter dem Sarg beteten feierlich und ernst immer und immer wieder: »Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm!« – bis die Waldhüter, welche den Toten vom Wald weg getragen, ihn niederstellten am offenen Grab neben dem altehrwürdigen Bergkirchlein von St. Roman.
Und als die Feier zu Ende war, sammelten sich die Leute in der großen, großen Stube des Adlerwirts und Bachvogts zur »Leidschenke«, und mit ernsten Mienen sprachen sie von dem braven, lustigen Mann, den sie heute begraben. –
Wenige Tage nach der Beerdigung des Vaters kamen die Priska und ihr Mann, der Basche, nach Wolfe und überbrachten dem Oberförster als letztes Vermächtnis des Toten seinen Hirschfänger.
Schon nach der Pensionierung des alten Jägers hatte der Oberförster den alten, mit Jagdstücken verzierten Hirschfänger – ein uraltes Familienstück – vom Teufelsteiner käuflich zu erwerben gesucht. Der aber hatte damals geantwortet: »Ich kann itzt, solange ich lebe, mich unmöglich von meinem alten, lieben Hirschfänger trennen, aber ich will, daß er nach meinem Tod in die Hände eines Jägers komme, und Sie sollen ihn haben.«
Er hat Wort gehalten und das Versprechen selbst im Sterben nicht vergessen. Die Uhren aber, welche so manche Stunde dem alten Jäger das Leben erfreut, wurden samt dem Waldhorn versteigert und tönen und schlagen und trompeten und kuckucken jetzt einzeln auf den Waldhöfen der Umgegend. Die Drehorgeln nahmen seine zwei Töchter, die Priska und die Wirtin zum Auerhahn an sich. Und sie spielten darauf in Erinnerung an den Vater.
Sein letztes Rößlein kam um 20 Mark weg, so wenig hatte es noch an Wert.
Die kranke Kreszenz nahm der Fürst von Fürstenberg in sein Spital zu Hüfingen auf, wo es ihr Wohl gefällt, und von wo sie mir vieles schrieb aus des Vaters und aus ihrem Leben.
Sie verrät in ihrer Erzählung überall den gesunden Humor des Fürsten, trotzdem sie fast beständig zu leiden hat. Ihre Freude sind die Erinnerungen an das Elternhaus, an Vater und Mutter, an Wald und Heide drunten im Tale.