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enn es sich vielleicht so verhält, wie die Sage bei dem erhabenen Dichter der Eumeniden berichtet, daß die Herunterholung des Feuers vom Himmel und die Ueberlieferung desselben an die Menschen durch Prometheus auf der athenischen Akropolis stattfand, so ist nicht zu verwundern, daß bei der Nennung des Namens der Akropolis zu Athen vielen nur eine Höhe vorschwebt, ganz in eitel Licht getaucht, gekrönt von den marmorglänzenden Zinnen des Parthenon.
Aber es gab auch Eulen auf der Akropolis ...
Es gab Eulen zu Athen – es gab ihrer so viele, daß der Ausdruck »Eulen nach Athen tragen« zur Bezeichnung werden konnte eines überflüssigen Tuns.
Und diese Vögel waren sogar der Pallas Athene geheiligt. Sie gehörten ihr an, als die Vögel der gedankenzeugenden, sinnigen Nacht. Denn die Nacht selber ist dunkel, aber sie ist schwanger mit dem Lichte, und besser als der laute Tag läßt sie die Gedanken keimen und reifen im wachen Haupte der Menschen. Nicht selten aber betrachtet die Nacht etwas für sich, und mehr als das Licht, das aus ihr geboren wird, zu sein, und stellt sich dann dem Lichte feindlich entgegen.
So kommt es, daß auch die Vögel der Nacht, die Eulen, zu Feinden des Lichts geworden.
Es gab ihrer, wie gesagt, viele auf der Akropolis, und sie nisteten am liebsten in dem Raume zwischen dem Gesimse und dem flachaufliegenden Dache des altehrwürdigen Erechtheion, gemeinsam mit Eidechsen, Mäusen und Schlangen.
Sind sie doch die Lieblingsvögel des Erechtheuspriesters Diopeithes, der soeben dort, unmittelbar vor den Stufen des Parthenon, in lebhaftem Gespräche mit einem Manne und zugleich in einer etwas wunderlichen Verrichtung begriffen ist.
Er schreitet nämlich vor den Augen des andern Mannes mit einer gewissen Erregtheit die Stufen des Parthenon hinauf und wieder hinab. Vor dem Tempeleingang sind, um das Emporsteigen zu erleichtern, in die breiten hohen Stufen kleinere gehauen. Diese kleineren Stufen schreitet Diopeithes empor, und zählt dieselben im Schreiten, und spricht die Zahl mit vernehmlicher Stimme vor sich hin.
Und nachdem er so schreitend und laut zählend dem anderen Manne die Zahl der Stufen gewiesen, spricht er zu diesem:
»Du weißt, welches Gesetz in betreff der Stufenzahl eines Tempelaufgangs durch der Hellenen frommen und wohlbedachten Sinn seit Jahrhunderten festgestellt wurde. Ungerade ist nach alter Regel dieser Stufen Zahl, damit des guten Vorzeichens wegen die erste und die letzte Stufe vom rechten Fuße betreten werden könne.«
»So verhält sich's in der Tat!« versetzte der Mann, zu welchem Diopeithes sprach.
»Nun wohl!« fuhr Diopeithes fort, »du siehst, daß die Männer, welche diesen Parthenon hier gebaut haben, der guten Vorzeichen nimmer zu bedürfen glauben. Die Zahl dieser kleineren Stufen ist eine gerade. Mögen sie nun wirklich in bewußtem Trotz, oder von den Göttern mit Vergeßlichkeit geschlagen, gegen die heilige Regel gesündigt haben: was sie da aufgerichtet, verrät beim ersten Anblick schon sich als ein unfrommes, den Göttern mißfälliges Werk. Und ich sage: es ist in seinem ganzen Entwurfe eine Beleidigung, eine Erniedrigung, eine Verhöhnung der Götter. Ei, sieh doch nur: seit das Panathenäenfest vorüber ist, seit die Sieger in den Wettkämpfen ihre Preise erhielten, seit das Volk sich satt gegafft am verschwendeten Golde und Elfenbein der Statue des Pheidias, ist der Festtempel, wie sie ihn nennen, wieder geschlossen, das Bild der Göttin ist verhängt, damit es bis zum nächsten Feste nicht der Staub verzehre, und statt priesterlicher Personen sieht man Tag für Tag nur die Schatzmeister aus- und eingehen, welche im Hinterhause ihr Wesen treibend, die einlaufenden und auszufolgenden Summen überzählen. Und so hallt, o Schmach und Frevel! ins Ohr der Göttin statt frommer Worte Klang nur schnödes Geklimper von Gold- und Silberstücken!«
Auf diese Aeußerung des Diopeithes hin begann der Mann, mit welchem der Priester sich unterredete, und welcher durch sein Aussehen sich als ein Fremder verriet, angelegentlich nach dem Umfang, dem Werte und Betrage der gemünzten und ungemünzten Schätze zu fragen, welche in diesem Schatzhause, unter der Obhut der Pallas Athene, aufgehäuft lagen, und Diopeithes verweigerte die Auskunft nicht, welche er zu geben vermochte.
»Ein schöner Sparpfennig, oder sagen wir lieber eine schöne Beute ist«, bemerkte der Fremde, »was ihr Athener da gesammelt habt. Aber mich dünkt, ihr werdet diesen Vorrat bald erschöpft haben, auch im Frieden.«
»Noch lange nicht!« erwiderte Diopeithes.
»Ich sehe aber«, fuhr der Fremde fort, »daß, nachdem dieser kostspielige Tempelbau so eben vollendet worden, mit gleicher Hast und gleichem Eifer schon ein neues Werk hier oben begonnen wird, eine Prachtpforte der Akropolis, Vorhallen im größten Stile, nicht weniger großartig als der Parthenon selber« ...
»Und nicht weniger sinnlos, nicht weniger überflüssig als dieser!« fiel Diopeithes ein. »Das eben ist ja«, fuhr er fort, »der Frevel jener Uebermütigen, welche Athens Geschicke gegenwärtig lenken. Sie lassen das Heiligtum des Erechtheus verfallen, welches selbst der Perser nur halb zu zerstören wagte, und errichten dafür Prunkhallen, vollgestopft mit eitlen Machwerken der aus ganz Hellas zusammengelaufenen Rotte des Pheidias.«
»Ist denn Perikles allvermögend?« rief der Fremde. »Wie kommt es, daß von allen berühmten Feldherrn und Staatsmännern der Athener kein einziger, so viel ich weiß, dem Lose der Verbannung entgangen, Perikles aber eine so lange Reihe von Jahren unangefochten in seiner Uebergewalt sich behauptet?«
»Er ist der erste Staatsmann«, sagte Diopeithes, »welchem die Athener Zeit lassen, sie zu Grunde zu richten.«
»Das mögen die Götter verhüten!« sagte der Fremde. »Ich bin ein harmloser Mann aus Euboia, und wünsche den Athenern alles Gute!«
»Warum verstellst du dich?« sagte Diopeithes, dem Fremden ruhig ins Auge blickend. »Du bist der Mann aus Sparta, den sie beim Feste der Panathenäen von der Schwelle des Parthenon hinweggewiesen. Ich habe den Vorgang mitangesehen, und erkannte dich sogleich wieder, als du jetzt, über die Höhe der Akropolis hinwandelnd, dich mit einigen Fragen an mich wandtest. Ja, du bist ein Lakedaimonier, und wenn du sagst, daß du den Athenern alles Gute wünschest, so sagst du die Unwahrheit. Aber fürchte deshalb nichts von mir! Es gibt Athener, die mir weit verhaßter sind, als das gesamte Spartervolk. Und dir ist ohne Zweifel wohl bekannt, daß hier zu Athen die Gegner der Neuerungen, die Freunde der guten, alten Zucht, Sparterfreunde genannt werden. Und nicht mit Unrecht.«
Fast unwillkürlich reichte der Mann aus Sparta dem Erechtheuspriester die Hand.
»Glaube nicht«, fuhr dieser fort, »daß die Zahl derjenigen, welche dem Perikles in seinem neuen Athen grollen, wenn auch nur heimlich, gering ist. Komm mit! ich werde dir einen Ort zeigen, um welchen nicht weniger, als um das Erechtheion, unversöhnte Rachegeister schweben.«
Damit führte Diopeithes den Sparter bis an den Rand des westlichen Abhanges der Akropolis hinaus, und deutete mit der Hand auf einen schroffen, düsteren, wildgezackten Felshügel, welcher dem Burgberge gegenüber, nur durch eine Schlucht von ihm getrennt, aber niedriger als dieser, sich erhob.
»Siehst du diesen schroffen Hügel, dessen Felsblöcke wie von Titanenhänden übereinander gewälzt sind?« fragte Diopeithes. »Siehst du die in den Fels gehauenen Stufen, die zu einem im Viereck sich erstreckenden Raume führen? Dort sind Reihen von Sitzen, in den Fels gehauen, wie die Stufen. Von dieser Stätte aber führt ein anderer Stufenweg, auch er in den Stein gehauen, hinab in eine tiefe, schaurig-dunkle Schlucht, aus welcher ein schwarzes Gewässer hervorquillt. In jener Schlucht steht das Heiligtum der finsteren Rachegöttinnen, der schlangenhaarigen Erynnien, und jener im Viereck sich erstreckende Raum auf der Höhe des Berges ist die Versammlungsstätte des uralten, ehrwürdigen, von den Göttern selber eingesetzten Gerichtes, welches wir den Areopag zu nennen pflegen. Den greisen Beisitzern dieses Gerichtes ist die Obhut jenes Heiligtums der Erynnien anvertraut; in ihre Hände sind uralte Satzungen und Heiligtümer gegeben, auf welchen ein geheimnisvolles Dunkel ruht, und an welche das Heil des Staates geknüpft ist. Sie allein wissen, was der sterbende Dulder Oedipus ins Ohr des Königs Theseus geflüstert, als er auf dem Hügel von Kolonos im Haine der Eumeniden seiner langen Irrfahrt Ziel gefunden. Zwischen blutige Opferstücke werden die Streitenden gestellt, deren Sache diese Richter entscheiden, und einen Eid legen sie ab mit entsetzlichen Verwünschungen gegen sich selbst und gegen die Ihrigen, sollten sie einmal anders als nach der strengsten Gerechtigkeit entscheiden. Schweigend legen sie nach Anhörung der Sache ihre Lose in zwei Urnen, in die Urne der Erbarmung oder in die Urne des Todes. Vorsätzlichen Mord zu richten war von Anbeginn ihr Amt. Aber auch Sittenlosigkeit, Neuerung im Staat und im Dienste der Götter zu ahnden, waren sie in früherer Zeit berufen; ins Innerste der Familien zu dringen war ihnen erlaubt, um die verborgene Schuld ans Licht zu ziehen. Sie straften den Vatermörder, sie straften den Mordbrenner, sie straften den Mann, der ein harmlos Tier ohne Not getötet, straften den Knaben, der mitleidslos einen jungen Vogel geblendet. Einspruch sogar gegen Beschlüsse des versammelten Volkes zu tun, war ihnen freigestellt. Ist es zu verwundern, wenn dieser Hort aus alter Zeit, diese auf den Fels des Areshügels gegründete Burg der frommen Zucht, den Machthabern des neuen Athen schon längst ein Dorn im Auge gewesen? Perikles war es, der zuerst dieser geheiligten Macht zu trotzen wagte, der ihre Vorrechte beschränkte, ihr Ansehen schmälerte, ihren ihm unbequemen Einfluß auf die Staatsangelegenheiten zurückwies. Traun! wie auf eben diesen Areshügel die Brandpfeiler der Perser gegen die Burg und gegen die alten Tempel der Akropolis flogen, so stiegen heimlich jetzt von dort die grollenden Blicke der Areopagiten, schwanger von Unsegen, nach dem neuen Tempel des Perikles hinüber!« –
»Aber die große Masse der Athener liebt den Perikles«, sagte der Sparter; – »sie halten ihn für einen aufrichtigen Freund der Volksherrschaft.«
»Ich halte den Perikles nicht für blöde genug«, versetzte Diopeithes, »um ein ehrlicher Freund der Volksherrschaft zu sein. Ein geistig hervorragender Mann ist niemals ein ehrlicher Freund der Volksherrschaft. Denn wie sollte es ihm zum Vergnügen gereichen, die Macht, die er der unvernünftigen Menge abgerungen, freiwillig wieder mit ihr zu teilen, und sich in seinen besten Plänen, in seinen schönsten Unternehmungen von beschränkten Köpfen stören und hindern zu lassen? Perikles schmeichelt, wie alle diese Volksmänner, der Masse, um sich derselben zur Ausführung seiner ehrgeizigen Pläne zu bedienen. Vielleicht bleibt ihm aus dem Goldschatze im Hinterhause des Parthenon zuletzt so viel übrig, um sich daraus eine Krone schmieden zu lassen, die er sich an einem Panathenäenfeste vor den Augen des versammelten Volkes und zu den Füßen der Göttin des Pheidias aufsetzt. Bereitet euch vor, ihr Lakedaimonier, dem Hellenenkönig und seiner Königin Aspasia durch Überreichung einer Scholle spartanischen Landes und eines Kruges Wassers aus dem Eurotas huldigen zu helfen!«
Bei diesen letzten Worten sah der Priester um sich. »Laß uns hinweggehen«, sagte er zu dem Sparter, »ich sehe Leute sich nähern, welche hier oben den Platz der neuen Vorhallen abstecken. Man würde mich einer Verschwörung mit Lakedaimon zeihen, wenn man uns zusammen redend erblickte.«
So sprach der Erechtheuspriester und verschwand alsbald mit dem Manne aus Sparta hinter den Säulen des Erechtheions, wo beide noch eine Zeitlang vertraulich mit einander sich unterredeten.
Wenige Tage nach der Feier der Panathenäen hatte Telesippe, durch friedliche Uebereinkunft getrennt von Perikles, das Haus ihres bisherigen Gatten verlassen, und Aspasia war in dasselbe an ihrer Statt eingeführt worden als angetraute Gemahlin.
Nicht gedemütigt verließ Telesippe das Haus ihres Gatten, sondern stolzgehobenen Hauptes, denn sie ging einem Lose entgegen, für welches sie zwar sich geboren glaubte, dessen Erfüllung aber sie nicht mehr zu hoffen gewagt hatte.
Immer war es ihrer Klagen Anfang und Ende gewesen: »Ich hätte die Gemahlin des Archon Basileus werden können!«
Als der Entschluß, sich von Telesippe zu trennen, in Perikles gereift war, konnte er nicht umhin, darüber nachzusinnen, wie er das Schmerzliche des Eindrucks mildern könne, den diese seine Entschließung auf die bisherige Gattin machen würde. Er erinnerte sich, wie oft sie vom Archon Basileus gesprochen. Der eben amtierende Archon Basileus war ein Freund des Perikles, ziemlich betagt, aber unverheiratet. Perikles ging zu ihm und fragte ihn, ob er nicht geneigt wäre, sich zu verehelichen. Der Archon Basileus war ein stiller, anspruchsloser Mann und sagte, er sei einem Ehebunde nicht abgeneigt, wenn eine passende Braut für ihn sich finde.
»Ich kenne eine Frau«, sagte Perikles, »welche geschaffen ist für einen Mann wie du. Es ist meine eigene Gemahlin. Für mich selbst hat sie zu wenig von jener Heiterkeit an sich, an welcher ein vielbekümmerter Staatsmann von seinen Tagessorgen sich erholen mag, und zu viel von jener Strenge, von jenem würdevollen Wesen, welches einen ernsten Mann von priesterlicher Gewalt, wie dich, wohl anzuziehen vermöchte. Ich stehe auf dem Punkte, mich von Telesippe zu trennen, aber ich würde mich sehr glücklich schätzen, wenn ich wüßte, daß sie aus meinem Hause in das eines noch besseren Mannes geht, und daß sie dort, wo sie hingeht, finde, was sie in meinem Hause vermißte.«
Der Archon Basileus nahm diese Worte so ernst auf als sie gemeint waren. Ueber das Bedenken, daß ein Archon Basileus in der Regel sich nur mit einer Jungfrau vermählte, half ihm Perikles hinweg, indem er seinen ganzen Einfluß bei den Athenern aufzubieten versprach, die Verletzung eines alten Herkommens ungeahndet zu lassen. Auf dies hin gab der Archont zuletzt die Erklärung ab, er sei bereit, Telesippe aus dem Hause ihres bisherigen Gatten hinweg unmittelbar in das seinige als rechtmäßige Ehefrau zu führen.
Perikles eröffnete seiner Gattin zu gleicher Zeit seinen Entschluß, sich von ihr zu trennen, und den Entschluß des Archon Basileus, sich mit ihr zu vermählen.
Telesippe vernahm die Entscheidung kalt und stumm und zog sich zurück in ihr Frauengemach. Als sie aber dort ihre beiden Knaben erblickte, die sie nun verlassen mußte, zog sie dieselben an sich, und weinte Tränen nieder auf ihr Haupt. Sie dachte daran, daß sie dem Hipponikos Kinder geboren, daß er sie verstieß, und sie die aus ihrem Schoße geborenen verlassen mußte für immer; daß sie ferner dem Perikles Kinder geboren, und nun auch diese verlassen und von hinnen gehen mußte, einem neuen Gatten angetraut. Sie erschien sich rechtlos, hilflos, von Haus zu Haus gestoßen ...
Aber die Gattin des Archon Basileus! Das Ziel ihres Ehrgeizes! Das versäumte, und nun doch erreichte Glück ihres Lebens! Freilich – nur der verstoßenen Gattin war damit Genugtuung geleistet, nicht der Mutter. Durch den törichten Stolz des Weibes hindurch fühlte sie immer wieder die angstvollen Schläge des unversöhnten Mutterherzens.
Und als nun der Augenblick gekommen, in welchem Telesippe das Haus ihres Gatten verließ, und auf die Stirnen ihrer Söhne den letzten Kuß drückte, um von ihnen hinwegzugehen für immer, da wurde Perikles plötzlich von einem merkwürdigen Gefühle übermannt: es dünkte ihn, daß man denn doch kein geheiligtes Band, das einmal zwei Menschenherzen vereinigte, zerreißen könne, ohne daß etwas vom Herzblute dabei vergossen würde.
Telesippe hatte ihm Kinder geboren, Kinder, die seine Züge, seines Wesens Spur im Antlitz trugen. Wie sollte nicht für immer ehrwürdig, heilig dem Manne das Weib sein, das ihm Kinder geboren, die seine Züge tragen? Auf der Stirn der Kinder Telesippes leuchtete der Stempel der unentweihten Mutterehre. Dies Erbe ließ sie scheidend ihren Kindern und ihrem Gatten. Perikles ward sich dessen klar bewußt, als Telesippe aus seinem Hause hinwegging.
Vorhin hatte er sich mit kühlem, ernstem Händedruck verabschiedet; jetzt ergriff er noch einmal die Hand des Weibes, das ihm Kinder geboren, und eine Träne fiel darauf. Und als Telesippe schon längst hinweggegangen war, stand Perikles noch lange mit sinnendem Haupte da, mit einer Frage sich beschäftigend, welche zu denjenigen gehört, die keine menschliche Weisheit jemals löst ...
Wunderbar und ewig unentwirrbar kreuzen sich die Pflichten der Menschen und ihre Rechte.
Für Perikles und sein Eheleben war der Würfel gefallen.
Der Wendepunkt in seinem häuslichen Leben hatte ein Doppelantlitz, wie fast alles irdische Geschehen. Auf Telesippes ernsten Hinweggang folgte der fröhliche Einzug Aspasias. Ihr Eintritt verscheuchte gemach den Schatten auf der sinnenden Stirn des Perikles. Er verbreitete Licht und Glanz bis in den innersten Winkel des Hauses. Aspasia kam im Geleit aller lächelnden Frühlingsgeister. Ein würzig frischer Hauch verdrängte die bis dahin dumpfe Atmosphäre des Hauses.
Die alten, ehrwürdigen Hausgötter waren mit Telesippe fortgezogen. Aspasia brachte neue mit sich. Sie stellte im Peristyl des Hauses den freudenreichen Dionysos auf, und die lächelnde Aphrodite, und den lockigen, leuchtenden Schutzgott des heiteren Ionierstammes, den mit Pfeil und Lyra bewährten Führer des Musenreigens, Apollon. Auch fehlten von jetzt an nicht die Charitinnen am Altar dieses Hauses, wo das gebührende Opfer ihnen so lange versagt blieb.
Der Geist der Neuerung, welcher den Schritten Aspasias überall hin folgte, begleitete sie auch in das Haus des Perikles. Binnen kurzem war dieses Haus in heiterer und üppiger Weise umgestaltet. Nichts Unschönes, nichts Unedles duldete Aspasia um sich. Weichen mußte, was nicht Gnade fand vor ihren schönheitskundigen Augen. Schönheit wurde ausgerufen als oberstes Gesetz auch am häuslichen Herde. Künstlerhände mußten die Wände der Gemächer mit reizvollen Bildern schmücken. Aus Künstlerhänden mußte fortan nicht bloß das hervorgehen, was das Leben schmückt und verschönert, sondern auch, was immer dienen mag dem Bedarfe des täglichen Lebens.
Einfach war bisher das Hauswesen des Perikles; nun mißfiel diese Einfachheit auch ihm selbst. Nichts ist süßer für den Liebenden, als den Aufenthalt der Geliebten so reizvoll als möglich auszuschmücken. Kein Mann schmückt für sich selbst das Haus; für ein geliebtes Weib aber wird auch der Geizhals zum Verschwender. Mit Freuden half Perikles der geliebten Aspasia die Stätte seines neuen Glückes zu einem Tempel der Schönheit umgestalten.
Den feinentwickelten Sinn für das dem Auge wohlgefällige, für das Passende und Zusammenstimmende, welcher den Frauen eigen ist, und welchen sie an ihrem Schmuck, an ihrer Gewandung üben, besaß Aspasia in so wunderbarem Grade, daß Perikles sich wie im Banne einer Zauberin befand, und die Geliebte bat, sie möge nur nicht auch ihn selbst, wie alles um sich her, verwandeln. Aber er war schon verwandelt. Ohne ein Weichling geworden zu sein, entwickelte er nun einen Sinn in sich, der bisher in dem rastlos tätigen Manne völlig geschlummert hatte. Die Geliebte, oder vielmehr die Liebe selbst lehrte ihn die sinnige und nicht zu verschmähende Poesie desjenigen erkennen und schätzen, was er bisher nicht beachtet hatte. Was waren ihm früher Perlen und Edelsteine gewesen? Jetzt konnte er eine Gemme, die in einer Goldspange am lilienweißen Arme der Geliebten funkelte, eine endlose Zeitlang betrachten und sich in das farbig sprühende Licht derselben wie in eine wunderbare Offenbarung versenken. Was waren ihm früher duftende Salben, was waren ihm alle Wohlgerüche der Welt gewesen? Jetzt war sein Sinn geweckt für jeden feinsten Dufthauch, der in der Nähe der Geliebten ihn umwitterte, und jeder Art desselben entsprach in seiner Seele eine andere Art von süßer Trunkenheit. Was waren ihm bisher die Farben gewesen? Ein flüchtiger Reiz im besten Falle, dessen er kaum sich bewußt war. Und jetzt? welches Leben, welchen Zauber gewann für sein Auge das glutende Rot, das flammende Gelb, das entzückende Blau, das hold anregende Grün, wenn es den Leib der Geliebten umwogte, oder wenn ihre rosigen Glieder sich davon abhoben in blühender Weiße.
Das Band der Liebe und einer schrankenlosen Hingebung mag zwei Herzen noch so lange und glücklich vereinigt haben, das Band, das Hymen um sie schlingt, bereitet ihnen doch ein neues, bis dahin unbekanntes Glück. Die Ehe hat, wie die Liebe, ihren besonderen Honigmond. Täglich neu sich verlieren und täglich neu sich wiederfinden, mag dem Honigmond der Liebe seine Würze verleihen: aber auch das Bewußtsein, sein schönstes Glück immer nahe zu haben, ist beneidenswert.
Wer die Ehe schilt, der kennt die Liebe nicht.
Jede Tageszeit hatte jetzt für Perikles ihre besondere Lust, ihren besonderen Glanz, ihre besondere Blüte. Immer war Aspasia dem Perikles alles und doch zu jeder Zeit etwas anderes: des Morgens seine rosenfingerige Eos, des Abends seine Selene, süßen Schlummer auf seine Lider träufelnd, den Tag über seine Hebe, die ihm den Becher des Gebens kredenzte. Sie war die Hera des »Olympiers«, aber sie brauchte niemals den Zaubergürtel erst von der goldnen Aphrodite zu entlehnen. Noch mehr: in manchen Augenblicken erschien sie ihm ehrwürdig wie seine Mutter, und in andern Momenten liebte er sie mit der Empfindung, mit welcher man ein Kind liebt.
Wenn schon toter Schmuck, Edelsteine, Perlen, Wohlgerüche, leuchtende Farben durch die Liebe einen neuen Zauber gewinnen, dem Liebenden einen neuen, bis dahin ungeahnten Sinn erschließen, welches erhöhte Leben, welche neue Magie muß erst die Poesie, muß die Tonkunst für liebende Herzen gewinnen? Welche Fülle und Mannigfaltigkeit des Reizes und Genusses mußte die zauberkundige Aspasia aus diesen Quellen zu schöpfen und zu kredenzen wissen!
Sang Aspasia dem Perikles ein Lied zur Laute oder las sie ihm, wie als Kind dem Philammon, aus Bücherrollen vor, so wußte er nicht, was ihn schöner bezauberte: wenn sie mit erglühenden Wangen ganz aufging im Feuer ihrer Kunst oder des Poeten, den sie las, oder wenn sie in mutwilliger Laune ihren Sang oder ihre Lesung mit kindischem Geplauder, mit überflüssigen Liebesfragen, mit holdem Getändel beständig unterbrach ...
Die Athener hatten in der Regel kein eigentliches Daheim. Sie lebten außer dem Hause. Perikles aber besaß jetzt ein Daheim.
Daß die Knaben Xanthippos und Paralos, die Söhne des Perikles, nicht Aspasiens Sprößlinge waren, kam es dem Eheglück des Perikles nicht ebenfalls zu gute? Er brauchte die Liebe Aspasias nicht mit diesen zu teilen.
Wenn an dem Glücke der beiden etwas fehlte, so war es vielleicht nur das ganze, volle Bewußtsein desselben. Denn zuletzt ermessen doch nicht die Glücklichen selbst, sondern nur die Entbehrenden ganz und voll das Glück der Glücklichen. Wohlmeinend mischen die Götter gern einen Tropfen Wermut in jeden Freudenbecher: denn nur das getrübte oder gefährdete Glück kommt zum Bewußtsein.
Die Liebesehe des Perikles und der Aspasia gab den Athenern einen unerschöpflichen Stoff zu Gesprächen. Man erzählte sich auf der Agora, man erzählte sich in allen Hallen, auf allen Ringplätzen, in allen Buden der Handwerker und in allen Barbierstuben von ganz Athen, daß Perikles seine Gattin küsse, so oft er aus dem Hause fortgehe und so oft er wieder zurückkehre. Ein Mann, verliebt in seine Gattin! Man sprach von den weißen sikyonischen Rossen und dem glänzenden Gefährt, welches die neue Gattin des Perikles zuweilen durch die Straßen Athens trug. Man sprach von der Umgestaltung, welche das einst so einfache Haus des Perikles erfahren. Man sprach von den neuen, prächtigen Wandgemälden, mit welchen es geschmückt wurde, insonderheit von einem, welches die Plünderung des Olymps durch die Eroten darstellte. Geschmückt mit dem Raube zogen sie jubelnd einher: die mit dem Blitze des Kroniden, die mit dem Bogen Apollons, die mit des Ares Helm und Schild, mit der knotigen Wehr des Herakles, mit dem bacchischen Thyrsus, mit den Fackeln der Artemis, mit den geflügelten Schuhen des Hermes.
Man sagte jetzt auch, Aspasia verfertige dem Perikles die Reden, die er vor dem Volke halte. Perikles, der Olympier, der von jeher gefeierte Redner, ließ sich dies lächelnd gefallen und gab zu, daß er seine glücklichsten Eingebungen Aspasia verdanke. Aspasia besaß den Zauber einer fließenden, schlagkräftigen Rede, wie man ihn zuweilen bei Frauen findet, vereinigt mit lieblichem Silberklang der Stimme: und so machte sie auf die Männer den Eindruck, als wäre sie eine große Redekünstlerin, von welcher man lernen könne.
Man erzählte sich aber auch im Volke, daß Aspasia den Perikles verleiten wolle, nach der Königsgewalt zu streben. Man sagte, sie wolle nicht hinter ihrer Landsmännin Thargelia zurückbleiben, welcher es doch auch gelungen, eines Königs Gemahlin zu werden.
Reigenführerin der Neuigkeitskrämer zu Athen blieb stets die ehrwürdige Elpinike. Man konnte sie des perikleischen Hauses lebende und wandelnde Chronik nennen. Ihr entstammte die Runde von dem Kusse, welchen Perikles seiner Gattin beim Fortgehen und Wiederkommen gebe. Sie wußte Bescheid, welche Gesinnungen Aspasia gegen die Kinder des Perikles, gegen den jungen Alkibiades hege.
Sie wußte zu erzählen, daß Aspasia den Knaben Paralos und den Knaben Xanthippos nicht liebe, daß sie wenig um diese sich kümmere, sie der Obsorge des Pädagogen überlasse, des Knaben Alkibiades aber sich mütterlich annehme, ihn zärtlich behandle, daß unter ihren Händen der Sprößling des Kleinias zum Weichling werde und noch zu Schlimmerem.
War es zu verwundern, wenn Aspasia für den herrlich begabten Mündel des Perikles gegen die Söhne desselben Partei nahm, welche zwar die Züge des Vaters im Antlitz trugen, in der Gemütsart aber als Ebenbilder ihrer Mutter Telesippe sich darstellten?
Außer dem Alkibiades, dem Paralos und dem Xanthippos wuchs übrigens im Hause des Perikles noch ein anderer Knabe heran, den man nicht wohl zu den Angehörigen des Perikles, und doch auch nicht zu den Sklaven rechnen konnte. Es hatte eine eigene Bewandtnis mit diesem Knaben, welchen Perikles aus dem samischen Kriege mit nach Athen gebracht hatte. Man wußte nicht mehr von seiner Herkunft, als daß er der Sohn eines thrakischen, oder skythischen, oder eines andern nordischen Königs war, daß er von feindlicher Hand als Kind seinen Eltern geraubt und dann als Sklave verkauft worden war. Perikles fand ihn auf Samos; seine Teilnahme wurde erregt durch das Schicksal und das eigentümliche Wesen des Knaben, er kaufte ihn, und führte ihn mit sich nach Athen. Hier ließ er ihn erziehen mit seinen eigenen Kindern. Sein Name war Manes. Weit entfernt waren seine Züge von der Feinheit und dem Adel hellenischer Formen; er konnte vielmehr ein wenig an seine Stammverwandten, die skythischen Mietsoldaten auf der Agora, gemahnen. Aber er war ausgezeichnet durch schönes, hellbraun glänzendes Haar, helle Augen und eine blühende Weiße der Haut. Er war schweigsam und sinnend und verriet ein eigenartiges Empfinden in vielen Dingen.
Alkibiades suchte den neuen Gespielen zu verführen, ihn anzustecken mit seiner liebenswürdigen Ausgelassenheit. Es gelang ihm nicht. Manes hielt sich gern allein, zeigte keine glänzenden Gaben des Geistes, versenkte sich aber mit Eifer in alle Gegenstände des Unterrichts, der ihm gemeinsam erteilt wurde mit den Knaben des Perikles. Perikles selbst gewann ihn lieb, Aspasia aber fand ihn drollig, und der junge Alkibiades machte ihn zur Zielscheibe seiner Spöttereien und übermütigen Scherze.
Es tat dem häuslichen Glücke des Perikles keinen Eintrag, daß sein Haus jetzt den Freunden offener stand, als ehedem, und daß Aspasia, mit bewußter Absicht den Brauch athenischer Frauen verlassend, in Gesellschaft ihres Gatten teilnahm an den Gesprächen der Männer. Verleiht es ja doch dem Glücke derjenigen, welche sich lieben, nur eine neue Würze, wenn sie auf Stunden in einem größeren Schwarme sich gleichsam verlieren, um zuletzt doppelt beglückt sich wiederzufinden.
Von den älteren Freunden des Perikles trat Anaxagoras jetzt mehr in den Hintergrund. Er wurde verdrängt durch den glänzenden Protagoras, welchen Aspasia begünstigte, und dessen frische, vorurteilslose, kühn fortschreitende Lebensanschauung ihn als einen geeigneten Bundesgenossen der Milesierin erscheinen ließen. Auffallend selten zeigte in dem Hause des Perikles sich der Dichter der »Antigone«, sei es, daß er mit dem feinen Lebenstakte, der ihm eigen war, die gegen ihn, wie er wohl wußte, erregte Eifersucht des Freundes nicht schüren wollte, oder daß er in sich selbst eine wachsende, unzeitige Empfindung zu unterdrücken fand, oder auch, daß irgend ein anderes reizendes Frauenwesen seiner sich bemächtigte und den älteren Freunden ihn entzog. Nicht unmöglich erscheint es auch, daß diese sämtlichen verschiedenen Gründen bei ihm zusammenwirkten ...
Wenn so der heitere Sophokles sich selten machte, so suchte gerade der mürrische Euripides, sein Nebenbuhler auf dem tragischen Gebiete, um so häufiger die Gesellschaft Aspasias. Mit ihm kam der in seiner Anhänglichkeit unverändert gebliebene Sokrates. Den Pheidias führten Angelegenheiten seines Berufes zuweilen in das Haus des Perikles, und Aspasia genoß den Triumph, zu sehen, daß er ihre Gesellschaft nicht vermied. Ihm gegenüber wußte sie eine Art von Liebenswürdigkeit zu entfalten, welche berechnet war auf das Eigentümliche seines Wesens. Immer aber kam sie in den Gesprächen mit ihm zurück auf seine lemnische Göttin. Sie ereiferte sich, sie erhitzte sich sogar. Ihrer Meinung nach stand Pheidias jetzt an einem Scheidewege, und sie hoffte Einfluß zu nehmen auf die Richtung, für welche er sich entschied. Sie wollte alles daran setzen, den Starrsinn seiner künstlerischen Anschauung zu brechen.
Sie wiederholte ihm den Vorwurf, daß er den Reiz der natürlichen Weiblichkeit als Bildner nicht voll auf sich wirken lasse.
Pheidias verschmähte in der Tat die sogenannten Modelle. Er trug in sich die vollendeten Urbilder aller schönen Form. So blieb sein Künstlerauge am liebsten nach innen gerichtet, und je älter er ward, desto mehr vertraute er seinem inneren Schauen. Er war zu stolz, die unmittelbare Wirklichkeit einfach nachbildend in Stein oder Erz zu übertragen. Das aber war es gerade, was Aspasia von ihm wollte.
Als sie eben wieder ein lebhaftes Gespräch dieser Art mit Pheidias geführt, und dieser sich entfernt hatte, sagte Perikles lächelnd:
»Du zürnst dem Pheidias gar sehr, wie es scheint, daß er nicht mehr bei der reizenden Wirklichkeit in die Schule gehen will?«
»Allerdings«, sagte Aspasia; »in seiner Seele sind nur die Ideale einer sozusagen unbewußten und ernsten Schönheit vorgebildet. Es wäre Zeit, daß er den vollentfalteten, bewußten Liebreiz aus der Wirklichkeit zu schöpfen nicht verschmähte.«
»An welches Weib aber«, fuhr Perikles fort, »würdest du ihn weisen, um diesen vollen und seiner selbst sich erfreuenden Liebreiz wie aus der lautersten Quelle zu schöpfen? Da Pheidias die homerische Helena nicht aus dem Hades heraufbeschwören kann, das schönste aller gegenwärtig lebenden hellenischen Weiber aber, nach dem einstimmigen Urteile aller Menschen, du selbst bist, so wünschte ich zu wissen, in welcher Art du dem Pheidias zu antworten gedenkst, wenn er dich fragt, an welches Weib du ihn weisest?«
»Ich würde ihn an ein Weib weisen«, erwiderte Aspasia, »das nur sich selber angehört.«
»Wenn er darauf bestände, sich an ein Weib zu wenden, das nicht sich selber angehört?« fragte Perikles.
»Dann würde er sich wohl«, versetzte Aspasia, »an denjenigen wenden müssen, dem sie angehört: an ihren Herrn, wenn sie eine Sklavin ist, oder an ihren Gatten, wenn sie eines athenischen Mannes Gattin ist.«
»Und glaubst du«, sagte Perikles, »daß ein athenischer Mann jemals sich entschließen könnte, das Weib, das ihm angehört, den Blicken eines andern völlig preiszugeben?«
»Warum stellst du eine Frage an mich«, versetzte Aspasia, »die du besser zu beantworten berufen bist, als ich?«
»Nun wohlan!« entgegnete Perikles, »ich will sie beantworten. Der athenische Mann wird das Weib, das ihm angehört, den Blicken eines andern niemals unverhüllt preisgeben. Die Schamhaftigkeit des Weibes darf kein leerer Name sein; und wenn die Jungfrau züchtig ist von Natur, so muß das Weib, das einem Manne angehört, es doppelt sein aus Liebe, weil sie durch Entäußerung der Scham nicht sich allein entehrt.«
»Deine Willensmeinung ist ehrwürdig«, sagte Aspasia, »und ohne Zweifel gerecht. Der Grund aber, den du dafür anführst, scheint mir nicht in jeder Beziehung stichhaltig zu sein. Es geschieht doch gar nicht selten, daß ihr Männer eure Frauen den Augen und den Händen der Aerzte überlasset, wenn auch nur in eurer eigenen persönlichen Gegenwart. Es scheint also, daß die Schamhaftigkeit nicht die höchste aller Rücksichten, oder nicht jede Enthüllung an sich auch schamlos ist.«
So weit waren Perikles und Aspasia in ihrer Unterredung fortgeschritten, als sie plötzlich durch den Besuch zweier Männer unterbrochen wurden, deren gleichzeitiger Eintritt in das Haus sie sehr überraschte.
Diese beiden Männer waren Protagoras und Sokrates.
»Ei, wie kommt es doch«, fragte Aspasia lächelnd nach der ersten Begrüßung, »daß zwei erlesene Männer, von welchen ich seit jenem Festmahl bei Hipponikos immer gefürchtet, daß sie sich feindlich gegenüberstehen, heute so friedlich gesellt zu gleicher Zeit dieses Haus betreten?«
»Ich will dir erzählen, wie es kam«, erwiderte Sokrates, »wenn du durchaus verlangst, es zu wissen. Wir beide, Protagoras und ich, stießen, von entgegengesetzten Richtungen kommend, vor der Tür dieses Hauses zusammen. Ich für meinen Teil stand schon eine Weile vor der Schwelle und zögerte einzutreten, weil mich unmittelbar in dem Augenblicke, als ich eintreten wollte, ein Gedanke erfaßte, den ich nicht los werden konnte. Während ich nun so da stand, den Blick zu Boden gekehrt, kam von der andern Seite Protagoras. Er sah mich aber anfangs eben so wenig, als ich ihn, denn während ich nachdenklich zu Boden blickte, ließ er sein Auge mit emporgerichtetem Haupte in den Wolken und in den Höhen des Aethers schweifen. So prallten unsere Leiber aneinander; ich erkannte den Protagoras und er mich, und da jeder von uns beiden merkte, daß der andere die Absicht habe, hier einzutreten, so wollte jeder von uns beiden wieder umkehren und den anderen allein eintreten lassen. Und da jeder dem andern erklärte, er wolle ihm das Feld räumen, keiner aber dies Opfer des andern annehmen wollte, so kamen wir zuletzt auf den Einfall, auf gut Glück mitsammen einzutreten.«
Perikles und Aspasia lächelten und äußerten, sie erblickten eine gute Vorbedeutung in diesem Zusammentreffen, um so mehr, da sie eben in einer Art von philosophischer Erörterung begriffen gewesen seien. Sie hätten sich, sagten sie, mit einer Frage befaßt, zu deren Lösung zwei Männer, die zwar verschieden dächten, aber doch unbestritten weise wären, wohl das ihrige beitragen könnten.
Als nun Protagoras und Sokrates fragten, um welche Sache es sich gehandelt habe, so trug Perikles kein Bedenken, den beiden Männern die Angelegenheit auseinanderzusetzen.
»Wir begannen die Frage zu erörtern«, sagte er, »ob ein Mann die unverhüllte Schönheit des Weibes, das er liebt, dem Auge eines Bildners zur Nachformung preiszugeben sich bereit finden könne. Ich leugnete dies. Aspasia aber verwies mich darauf, daß wir Männer unsere Frauen ja doch auch den Augen und Händen der Aerzte preisgeben, wenn auch nur in unserer eigenen persönlichen Gegenwart, daß wir also bisweilen geneigt sind, andere Rücksichten für höher, als die Rücksicht auf Schamhaftigkeit zu erachten. Daß euch nun der Zufall eben herbeigeführt, ist ein Götterwink, euch, als weise Männer, zur Entscheidung der Sache heranzuziehen.«
»Ohne Zweifel«, sagte Protagoras, »gibt es Rücksichten, welche höher stehen, als die der Schamhaftigkeit, und Beweggründe, welche die scheinbare Verletzung derselben entschuldigen können. Einen dieser Beweggründe hat Aspasia selbst schon angeführt. Ich füge hinzu: was sollte aus der Bildkunst werden, wenn das Schönste sich dem Auge des Bildners spröde versagte? Die Schönheit hat Pflichten nicht bloß gegen sich selbst. Was die Natur ihr verschwenderisch geschenkt, das muß sie der Kunst zu gute kommen lassen. Das Schöne gehört in einem gewissen Sinne immer der Allgemeinheit an, und diese läßt sich ihr Recht darauf nicht rauben. Ueberdies ist die Schönheit ihrer Natur nach etwas Flüchtiges, etwas, das an sich nur für die Mitwelt da ist, und das nicht anders auf die Nachwelt gebracht und verewigt werden kann, als dadurch, daß die Dichter es in Gesängen verherrlichen, wie Homeros das Weib des Menelaos, oder daß ein Bildner den lebendigen Reiz der Leiblichkeit in Marmor oder Erz den kommenden Geschlechtern, soweit es möglich ist, überliefert.«
»Nach deiner Meinung«, sagte Perikles, »soll also ein schönes Weib als ein Gemeingut gelten, das keiner ganz für sich allein besitzen darf?«
»Nur ihre Schönheit – nicht sie selbst!« versetzte Protagoras. »wie es bei allem, was in der Welt geschehen mag, auf die Art und Weise des Geschehens ankommt, auf die Umstände, unter welchen es geschieht, so könnte meines Bedünkens auch die Schaustellung weiblicher Reize zur Förderung eines großen künstlerischen Zweckes in einer Art und Weise und unter Umständen vor sich gehen, welche das Bedenkliche der Sache völlig aufheben.«
»Und welche wären diese Umstände?« fragte Perikles.
»Es ist dies eine Sache«, versetzte Protagoras, »welche zu erörtern einigermaßen schwer fällt, wie Aspasia demzufolge, was du von deinem vorigen Gespräche mit ihr uns mitgeteilt, schon angedeutet hat, pflegen wir zwar ein Weib, das des hilfreichen Arztes vertrauliche Nähe ohne Zeugen sucht, für schamlos und verbuhlt zu halten, finden aber jene Art von Preisgebung unbedenklich, wenn sie vor sich geht unter den Augen des Gatten. Dadurch dürfte nun ein für allemal festgestellt sein, daß es eine Art und Weise gibt, in welcher der Mann das Weib einem fremden Auge ohne Entehrung preisgeben zu können glaubt.«
»Allerdings«, erwiderte Perikles, »könnte ich mir die Schaustellung eines Weibes, wenn es durch Umstände, oder durch einen großen Zweck geboten wird, nur in dieser Art denken. Hoffentlich fügst du auch noch die Bedingung hinzu, daß das Weib dem Bildner nur gebe, was an ihr des Bildners ist, und daß die Schamhaftigkeit sich zwar zurückziehe bis auf einen Punkt, diesen Punkt aber sozusagen bis auf den letzten Blutstropfen verteidige. Indessen, erinnerst du dich nicht der Geschichte jenes morgenländischen Königs, der, von den Reizen seines Weibes bezaubert, sich beifallen ließ, sie einem Günstling unverhüllt zu zeigen? Wenn ich mich recht erinnere, so verlor dieser König Thron und Weib und Leben durch den Günstling, der, entflammt durch jenen Reiz, nicht ruhte, bis er besaß, was ihn entflammte.«
»Mit anderen Augen«, versetzte Protagoras, »mit anderem Sinne, mit anderen Gedanken betrachtet ein Bildner die unverhüllte Wohlgestalt, als der weichliche Günstling eines morgenländischen Königs. Jener nimmt, wenn er herrlich erblühte Glieder betrachtet, so vieles wahr, was eben nur sein formkundiges, formsinniges Auge beschäftigt, eine solche Fülle der Belehrung strömt davon auf ihn ein, daß wenig Raum in seinem Gemüte bleibt für lüsterne Regungen. Und was etwa davon noch Raum finden mag, das hat er zu beherrschen gelernt. Abgestumpft hat auch die Gewöhnung für ihn den gröberen Reiz der Entschleierung. Und was nun gar den alten, ehrwürdigen Pheidias betrifft – ist das ein Mann? Nein, das ist eine gottgeküßte, aber geschlechtlose Bildnerseele, die einen Leib, eine Hand nur hat, um den Meißel führen zu können – das ist einer, für den alles in der Welt nur Form ist, niemals Stoff« ...
»Des Protagoras Meinung kennen wir nun«, sagte Perikles. »Lasset uns hören, was Sokrates in betreff dieser Sache vorzubringen hat. Was denkst du, Sokrates? Ist es einem Weibe erlaubt, zur Förderung eines großen, künstlerischen Zweckes ihre Schamhaftigkeit beiseite zu setzen?«
»Es scheint mir dies«, erwiderte Sokrates, »davon abzuhängen, ob in der Welt das Schöne dem Range nach über dem Guten steht. Und dies eben ist ja wohl, so viel ich mich erinnere, die Frage, mit deren Lösung wir uns schon so lange beschäftigen, und deren Erörterung auch bei jenem Festmahl des Hipponikos wieder abgebrochen wurde« ...
»Bei allen olympischen Göttern«, unterbrach ihn Aspasia lachend, »du wirst mich sehr verbinden, bester Sokrates, wenn du auch heute darauf verzichtest, diese Frage weitläufiger zu erörtern, und wenn du mir vorläufig verzeihst, daß ich nicht einsehe, warum die Sittlichkeit vor der Schönheit einen Vorzug haben sollte, wenn es ein Gesetz ist, daß alles in der Welt gut und sittlich sein soll, so ist es auch ein Gesetz, daß alles in der Welt nach Schönheit trachte, und in ihr die Blüte seines Wesens, das Ziel seiner Entwicklung finde. Schließlich kann doch das eine wie das andere dieser beiden Gesetze nur ein inneres, selbstgegebenes für den Menschen sein. Dabei, glaub' ich, können wir es für heute bewenden lassen.«
»Gewiß!« rief Protagoras; »wie ein jeder Mensch Wahrheit nur das nennt, was ihm für seine Person wahr erscheint, so ist auch gut und schön für jeden nur das, was ihm so erscheint. Eine an und für sich feststehende Sittlichkeit gibt es so wenig, als eine feststehende Wahrheit.«
Die gutmütigen Züge des Sokrates nahmen einen etwas spöttischen Ausdruck an, und er sagte: »Du behauptest immer, o Protagoras, daß es keine feststehende Wahrheit gebe, und bist doch selbst der Mann, der über alles, was man immer fragen mag, die glänzendste und unumstößlichste Auskunft zu geben im stande ist!«
»Seine Meinung offen auszusprechen«, erwiderte Protagoras, »ist besser, als in falscher Bescheidenheit vorgeben, nichts zu wissen, dann aber doch immer alles besser wissen wollen, als andere« ...
»Ich trachte nach dem Wissen«, sagte Sokrates, »welches ich nicht besitze. Du aber leugnest alle Möglichkeit desselben. Sollen wir die menschliche Gedankenarbeit als eine vergebliche schon aufgeben, nachdem wir sie eben erst begonnen?«
»Immer noch besser«, gab Protagoras zurück, »als die Frische und die Harmonie des hellenischen Gebens durch eine grübelnde und grämliche Betrachtung zersetzen zu wollen« ...
»Ich begreife nun«, entgegnete Sokrates, »daß es Menschen gibt, welche, da sie die Kunst des Denkens gering schätzen, die Kunst des Redens um so herrlicher ausbilden. Denn da die Gedanken, welche sie aussprechen, nach ihrem eigenen Geständnisse keinen unbedingten Wert haben, so können es nur die glänzenden Worte sein, durch welche sie auf die Hörer wirken.«
»Es gibt auch solche«, versetzte Protagoras, »welche die Kunst der Rede vernachlässigen, weil sie glauben, daß man hinter ihrer verstellten Einfalt Tiefsinn, hinter ihrem Stammeln die Weisheit eines Orakels, und hinter ihren bescheidenen Fragen die Herablassung eines überlegenen Geistes suchen werde.«
»Es dünkt mich besser«, sagte Sokrates, »die Menschen durch Fragen, welche ihre Bequemlichkeit stören, zum Denken zu zwingen, als sie durch schnell fertige, immer bereite Antworten, welche dem Frager bequem sind, zur Gedankenlosigkeit anzuleiten.«
»Besser ist Gedankenlosigkeit«, erwiderte Protagoras, »als den Boden der Wirklichkeit hinter sich lassend, auf Wolken und Luftgebilden reitend, im Schrankenlosen sich zu verlieren. Indessen ist ein solches Sichversenken in die Welt des unbegrenzten Gedankennebels oft erklärlich. Es gibt wohl solche, die gezwungen waren, sich auf die Jagd nach den Begriffen zu begeben, weil ihnen die Göttergabe lebendigen bildnerischen Schaffens versagt war« ...
»Es gibt auch welche«, versetzte Sokrates, »die mit Bildern flunkern, weil ihnen die Gabe der reinen und klaren Begriffe versagt ist« ...
»Jene grämlichen Grübler«, sagte Protagoras, »sie eben sind es, welche die Tugend widerwärtig machen, indem sie mit Worten immer darauf zurückkommen.«
»Bewunderungswürdiger sind freilich diejenigen«, entgegnete Sokrates, »welche die Tugend ganz beiseite liegen lassen, um niemals aus dem Kreise einer schönen und liebenswürdigen Liederlichkeit herauszutreten.«
»So lange die Liederlichkeit schön und liebenswürdig ist«, gab Protagoras zurück, »ist sie besser als die notgedrungene Entsagung derjenigen, welche auf das Feld der Schönheit und des Genusses das Unkraut ängstlichen Zweifels säen, weil sie selbst nicht zur Schönheit und zum Genüsse berufen sind« ...
»Ein solcher bin ich!« versetzte Sokrates ruhig. »Du aber, Protagoras, scheinst mir einer von denjenigen zu sein, welche den freien Gedanken zu dem machen wollen, was sie selber sind, zum Knechte der Sinne!«
»Ich bedaure«, fiel hier Perikles den Streitenden in die Rede, »daß ihr mit diesem Wortwechsel die Sache, um die es sich handelte, nicht zur Entscheidung gebracht, sondern euch, wie mich dünkt, in unfruchtbaren Worten ereifert habt.«
Sokrates sagte:
»Ich weiß, daß ich hier nur der Besiegte sein kann!«
Nach diesen Worten entfernte er sich ruhig und ohne eine Spur von Aufregung in den Zügen.
Bald darauf ging auch Protagoras hinweg, jedoch nicht ohne zuvor seiner Erregung noch durch einige Worte Luft zu machen.
»Die beiden weisen Männer«, sagte Perikles zu Aspasia, »scheinen mir einander völlig gewachsene Gegner zu sein. Sie gingen einander zu Leibe als kunstgeübte Fechter, und es ist schwer zu sagen, welcher von beiden die Ehre des Sieges in Anspruch nehmen darf.«
Aspasia lächelte nur, und auch als Perikles sie schon allein gelassen hatte, umschwebte jenes Lächeln noch ihre Lippen. Sie wußte genau, was den Streit der beiden Männer auf eine so scharfe Spitze trieb, was selbst von seiten des sanften Sokrates ihm so viel Schneidiges und Bitteres beimischte. Sie las im Herzen des Grüblers so gut, wie in dem des glänzenden Sophisten, der kein Wort sprach, von welchem er nicht wußte, daß es dem Ohre der schönen Milesierin gefallen werde ...
Gegen den Sokrates regte seit jenem Wortwechsel desselben mit Protagoras in Aspasia sich ein wachsender Unmut, und fast ohne daß sie sich dessen bewußt war, keimte in ihrer Seele der Anschlag, mit weiblicher Arglist die Weisheit des Mannes, der auf den »freien Gedanken« pochte und die »Knechte der Sinne« verachtete, wo möglich an ihm selbst zu schanden zu machen.