Robert Hamerling
Aspasia
Robert Hamerling

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VII. Der Diskoswurf.

Seit das von Perikles den tonkünstlerischen Aufführungen gewidmete Prachthaus mit einem Wettkampfe der Tonmeister eingeweiht und eröffnet worden, strömten die Athener fleißig herbei gegen den mittäglichen Fuß der Akropolis, um das eigentümliche Bauwerk und sein keilförmig zulaufendes, aus den Masten erbeuteter Perserschiffe erbautes Dach zu bewundern.

Aber gar bald folgte der Vollendung des Odeion die des Lykeion, und wie eben erst zu jenem, so drängt der Schwarm jetzt sich hinaus vor das gegen Sonnenaufgang gewendete Tor nach dem Ilissos hin, um die neue herrliche Ringschule, die nicht ihresgleichen hat, zu sehen.

Obgleich noch neu, sind Wände und Säulen doch schon hie und da bekritzelt mit schmeichelnden Inschriften, welche das Lob des einen oder des andern schönen Knaben verkündigen. Denn nicht die schaffenden Bildner allein, welchen die Wohlgestalt der Jünglinge, bei vielen Leibesübungen hier ohne Hülle sich zeigend, eine willkommene Schule des Naturgemäßen und des Schönen in der Bildkunst ist, auch die müßigen Schönheitsfreunde kommen hieher, um an dem Anblick reinentwickelter Jugendblüte sich zu ergötzen. Mit ihren begeisterten Kennerblicken wetteifert das Auge zärtlicher und ehrgeiziger Väter, welche mit stolzer Befriedigung die Uebungen und Wettkämpfe ihrer Erzeugten verfolgten, die Kraftentfaltung und den Eifer derselben mit mancher lebhaften Gebärde, mit manchem lauten Zurufe spornend. Im übrigen gibt es auch schwärmerische Liebhaber der gymnastischen Künste, welchen die Schau derselben an und für sich selbst ein Labsal ist, und welche mit alternden Gliedern, wie verjüngt durch den Eifer, die Bewegungen und Uebungen der Jugend, soviel deren vor ihren Augen gemacht werden, im Zusehen bewußt oder unbewußt mitmachen. Ja, bis auf einen solchen Grad steigt bei manchen dieser leidenschaftlichen Liebhaber die eingeborne Lust, daß sie nicht damit sich begnügen, tagelang müßige Zuschauer im Lykeion so wie in den Palästren abzugeben, sondern geradeswegs, wenn der Drang sie überkommt, werfen sie sich unter die Jünglinge, um an ihren Uebungen teilzunehmen, oder sie fordern gar einen Altersgenossen aus der Menge zu einem kleinen Ringkampfe auf dem Sande des Gymnasions heraus. »He da, Charisios«, heißt es, »wollen wir nicht noch einmal ein Wettspielchen mit einander wagen, wie so oft in unserer glücklichen Ephebenzeit? Welche jungen Herkulesse waren doch wir – wie anders, als diese Knäblein von heute!?« So heißt es, und die beiden Männer gedenken ihrer blühenden Jugendtage, und fassen sich und ringen mit einander nach unvergessenen Regeln der Kunst im Kreise ermunternder Zuschauer.

Aber nicht bloß den körperlichen Uebungen dient der Ort: er ist ein riesiger Gesellschaftssaal. Und so sehr ist er dies, daß alle die eigentlichen Uebungsräume auf der einen, mittäglichen Seite des Peristyls hinter der doppelten Säulenhalle liegen, die drei übrigen Hallen aber, so wie die Baumpflanzungen, welche an die Ringschule sich schließen, nur dem geselligen Verkehr der Athener gewidmet sind. Hier finden mit ihren Bewunderern, Freunden, Schülern sich vielgesuchte Männer zusammen. Mag man hier doch immer noch ungestörter sich unterreden, als in den Hallen der lärmvollen Agora. Was die Nachwelt eifrig in bestaubten Bücherrollen lesen wird, das strömt lebendig hier von den Lippen der Denker. An den Meister und seine vorerst nur wenigen Schüler, die hier an seiner Seite horchend dahin schreiten, schließt aus der Menge wer da will sich an. Wenige Tage sind es, seit des Lykeions Räume ihre Pforten erschlossen, und schon könnt ihr den kühnen Flügelschlag des hellenischen Gedankens in denselben rauschen hören.

In jenem Greise mit den hellen Augen erkennt ihr den Freund des Perikles, den edlen Anaxagoras wieder. Gleich ihm hat mancher Athener schon gelernt, nach des Naturlaufs Gründen zu fragen und über olympische Götterlaunen hinaus ewige Gesetze des natürlichen Geschehens aufzusuchen. Aber viele noch gibt es auch, die geneigt sind, eine unheimliche Art von Magier in ihm Zu erblicken.

»Ist dies nicht der Weise von Klazomenä?« fragte ein Athener, an einen der Schüler und Hörer in der Gruppe sich wendend, welche den Philosophen umgibt; »ist's nicht derselbe, von welchem man sagt, daß er einmal bei den Spielen zu Olympia mit einer Wildschur um den Leib sich hinsetzte, während die Sonne am heiteren Himmel schien, und denjenigen, die ihn deshalb bespöttelten, sagte, daß, bevor noch eine Stunde verflossen, ein Unwetter losbrechen würde; was denn auch in der Tat zu aller Verwunderung eintraf, woher schöpfte wohl der Mann eine solche Voraussicht, wenn er nicht besser als irgend einer auf übernatürliche Dinge und auf die Ausübung der mantischen Künste sich versteht?«

»Frage doch ihn selbst!« erwiderte der Schüler.

Der Athener befolgt den Rat und wiederholt seine Frage dem Anaxagoras ins Angesicht: »Bist du der Mann, der zu Olympia in einer Wildschur sich hingesetzt und ein Ungewitter vorausgesagt bei heiterem Himmel und hellem Sonnenschein?«

»Allerdings!« erwidert lächelnd Anaxagoras. »Und auch du hättest dasselbe vermocht, ohne Anwendung von magischen oder mantischen Künsten, wenn dich, wie mich, ein arkadischer Hirt belehrt hätte über die Haube des Erymanthos.«

»Was willst du sagen mit der Haube des Erymanthos?« fragt der Athener.

»Der Erymanthos«, versetzt Anaxagoras, »steht als ein hoher Gebirgstock dort, wo die Grenzen von Arkadien, Achaja und Elis zusammenstoßen; und sieht man von Olympia aus einen gewissen Gipfel dieses Gebirges bei großer Hitze und wehendem Nordost sich mit der leichtesten Wolkenhaube bedecken, so entladet binnen weniger als Stundenfrist sich ein Gewitter, das kühlen Schauer bringt und gewaltigen Regenerguß über die pisatischen Auen.«

Und als hierauf von den Umstehenden die Rede auf Entstehung und Ursachen der Gewitter gebracht wird, versichert Anaxagoras, der Blitz entstehe durch eine gewisse Art von Reibung der Wolken aneinander. Er geht auch auf andere Naturerscheinungen über und bringt ganz neue, ungewöhnliche Behauptungen vor; so z. B. will er wissen, die Sonne bestehe aus einer glühenden Erzmasse und sei größer als der Peloponnesos. Der Mond, behauptet er, sei bewohnt und habe Hügel und Täler.

Während solchergestalt der Weltweise mit seinen Hörern lustwandelt, anderswo lebendig erregte Kreise um den Politiker sich bilden oder um den Neuigkeitskrämer, sitzt in einer menschenleeren Ecke der entferntesten mitternächtigen Halle des Lykeion auf der glattgemeißelten umlaufenden Marmorbank ein Paar, das über wichtige Dinge in der Zurückgezogenheit mit Eifer zu verhandeln scheint.

Es ist ein Jüngling von ausnehmender Schönheit, und ein junger Mann von einer Gesichtsbildung, welche der seines Gefährten und Mitunterredners sehr unähnlich ist.

Es gab unter den einzelnen, welche vorübergingen, kaum einen, der nicht stehen geblieben wäre, oder im Vorüberwandeln sich nicht wenigstens umgesehen hätte, um die auffallende Schönheit des Jünglings mit einem aufmerksamen Blicke zu mustern. Einige kamen sogar wieder zurück, oder blieben in der Nähe und behielten den Jüngling im Auge, des Augenblicks harrend, wenn er, um an den gymnastischen Uebungen teilzunehmen – denn zu diesem Zwecke schien er doch wohl gekommen – die ganze enthüllte Wohlgestalt seiner Glieder den Blicken darbieten würde.

Aber sie täuschten sich, die solches erwarteten. Denn der bezaubernde Jüngling war eben wieder die schöne Freundin des Perikles, die heute noch einmal zu dem Hilfsmittel der männlichen Verkleidung zu greifen sich entschlossen hatte, um eine der Lieblingsschöpfungen ihres Freundes, das nun vollendete Lykeion, zu besichtigen, sie hatte sich diesmal den lange befreundeten Sokrates zum Begleiter erkoren. Sich mit Perikles in dieser Verkleidung öffentlich zu zeigen, konnte sie kaum mehr wagen, da das Geheimnis des im Geleite des allbekannten Mannes gehenden Zitherspielers schon von zu vielen durchschaut war. Sokrates hatte willig auf sich genommen, was Perikles sich selbst und der Freundin versagen mußte.

Er hatte sich am frühen Morgen mit ihr dort eingefunden, um ihr das Innere der Ringschule zu zeigen, bevor die Uebungen der Knaben und Jünglinge beginnen würden. Er tat mit Eifer das seinige, indem er Aspasia umhergeleitete in des Gymnasions Mittelraume, dem ins ungeheure ausgedehnten, von Säulenhallen umgegebenen Hofe, hinter welchem geräumige Säle sich reihten, auch die Bäder nicht vergaß, noch die jungen Baumpflanzungen, die neben dem Gymnasion, als eine den Lustwandelnden willkommene Ergänzung desselben, auf dem wiesigen Grunde des Ilissosufers sich hinzogen.

Den »Wahrheitsucher«, den »Weisheitsfreund«, den Grübler aus der Werkstätte des Pheidias zum Begleiter wählen, ohne den geheimen Anschlägen des unterredungslustigen Mannes zum Opfer zu fallen, war unmöglich. Und so hatte er denn auch jetzt vorerst, in seiner nachdenklichen Art sprechend, erwogen, wie sinnvoll Perikles das Odeion durch das Lykeion ergänzte und wie er damit vielleicht habe sagen wollen, daß die musischen und die Turnkünste immer verschwistert bleiben müßten, und daß sie vereinigt, die harmonische Tüchtigkeit des Leibes und der Seele erzeugten, und daß nicht bloß in Erz und Gestein der Grieche das Schöne bildend und schauend genießen wolle, sondern im eigenen lebendigen Wesen, dem leiblichen und seelischen, es zu verwirklichen durch einen starken Drang seiner Natur sich getrieben fühle.

Und nachdem er schon der Führerpflicht genügt, wußte er Aspasia noch immer festzuhalten, sie noch tiefer in ein Gespräch zu verstricken. Mit ihr auf der zierlichen Steinbank einer der am wenigsten von Menschen erfüllten, entferntesten Hallen sich niederlassend, war er wieder auf jenen Lieblingsgegenstand zurückgekommen, den er auf die Bahn zu bringen nie versäumte, so oft er der schönen Milesierin habhaft werden konnte. Unglücklicherweise fielen, während er auch jetzt sich bemühte, von ihr die lang gewünschte Aufklärung über den Begriff und das Wesen der Liebe zu erhalten, die Antworten Aspasias so aus, daß Sokrates immer zu erwidern sich genötigt glaubte:

»Was du da beschreibst, Aspasia, das ist ja nicht Liebe des andern – das ist ja alles nur Liebe zu sich selbst« ...

Er wollte nämlich wissen, was es denn eigentlich heiße, wenn man z. B. sagt, Perikles liebt die Aspasia, oder Aspasia liebt den Perikles. Aber welche schöne Wendungen die Milesierin der Sache geben mochte, Sokrates drehte und wendete sie stets noch geschickter, und zog aus Aspasias Worten, sie mochte sagen was sie wollte, stets nur die Erklärung, daß, wer eine andere Person zu lieben scheine, doch im Grunde nur sich selbst und sein persönliches Vergnügen liebe und suche. Ihm schwebte nur der Gedanke einer Liebe vor, welche wirklich Liebe eines andern, nicht bloß seiner selbst wäre. Und grillenhaft, wie er war, stellte er sich an, als könne er in den Erklärungen Aspasias auch nicht die geringste Spur einer solchen Liebe finden. Er fand darin immer nur einen Egoismus – einen Egoismus zu zweien.

Der Wahrheitsucher und die Schöne hatten schon geraume Zeit über diesen Gegenstand verhandelt, als sie den weisen Anaxagoras mit einigen Begleitern langsam die Halle heraufkommen sahen.

»Die Götter senden uns«, sagte Sokrates, »ohne Zweifel diesen Mann, damit er im Vorübergehen uns aus der Verlegenheit rette.«

»Meinst du nicht«, erwiderte Aspasia lächelnd, »daß die Jugend sich schämen müßte, wenn sie sich nach der Liebe bei dem Alter erkundigte?«

Anaxagoras war, langsam die Halle heraufkommend und zuweilen einen Augenblick im Gehen einhaltend, soeben beschäftigt, seinen Zuhörern auseinanderzusetzen, der Anfang aller Dinge seien kleine, untereinander ganz ähnliche Teilchen: denn wie das Gold aus Goldstaub, so bestehe das ganze Weltall aus kleinsten, staubkornähnlichen Teilchen, welche durch die in allen waltende Vernunft den ersten Anstoß zu Form und Harmonie erhielten. Diese Vernunft, die er auch den Nus, das ist den Geist, nannte, sei nicht bloß in bewußten Menschenwesen vorhanden, sondern auch des Naturlebens scheinbar dunkelste Tiefen durchwallte sie, und alles sei voll Seelen.

Als der Philosoph mit seinen Begleitern jener Stelle ganz nahe gekommen war, wo Sokrates mit Aspasia sich unterredend saß, wendete er von selbst, ohne einen Gruß des jüngeren Mannes abzuwarten, mit einem freundlichen Blicke sich zu ihm, denn er war ihm gewogen. Sokrates erhob sich von seinem Sitze und sagte:

»Wie sehr beneide ich diese deine Freunde da, o Anaxagoras, welche dich den ganzen Tag zu begleiten und jeden Augenblick ihren Wissensdurst aus deinem Borne zu löschen im stande sind. Wir anderen, die wir dir nur selten begegnen, tragen die ungelösten Zweifel tagelang in uns umher und quälen uns oder unsere nicht minder wissensdurstigen Freunde mit Bemühungen ab, die zu keinem Ergebnisse führen. Da plage ich nun schon eine Stunde lang den Sohn des Axiochos und will von ihm erfahren, was die Liebe sei, denn er versteht sich auf solche Dinge. Aber er hält, wie es scheint, mit seiner Weisheit geflissentlich zurück, und gibt mit boshafter Neckerei mir Dinge zu hören, bei welchen ich noch unklüger werde als zuvor. Erbarme du dich meiner, Anaxagoras, und sage mir: was ist die Liebe?«

»Im Anfang«, erwiderte der Philosoph, die Frage mißverstehend und den Gegenstand von seiner übernatürlichen Seite fassend, »waren die Urstoffe und Samen der Dinge in blinder Unordnung gemischt. Da war alles Chaos und Nacht und Erebos. Nicht Himmel, noch Erde, noch Luft war da, bis die schattenbeschwingte Nacht, vom Winde befruchtet, das Urei gebar, aus welchem die verlangende Liebe zur Welt kam, oder der geflügelte Eros, wie die Dichter sagen, durch dessen waltende Macht der innere Streit und Zwiespalt der Dinge sich löste, und anderes mit anderem liebend sich mischte, bis Wasser und Erd' und Himmel und Menschen und Götter in gesonderten Gestalten hervortraten aus dem Schoße, der allbefruchtenden Natur, als Kinder der Liebe« ...

»So wäre also Eros das Urwesen«, sagte Sokrates, einen Augenblick dem ins übermenschliche Gebiet abschweifenden Philosophen folgend; »aber ich habe von dir, o Anaxagoras, auch den Nus als Erstes und Höchstes nennen hören. Sollten Nus und Eros, allwaltende Vernunft und allzeugende Liebe, dasselbe sein?«

»Es ist wohl möglich«, versetzte Anaxagoras, »daß sie eins sind im innersten Grunde, und daß sie nach demselben Ziele trachten .. jenes wissend, dieses blind« ...

»Dann wäre es mit einem Male erklärt«, rief Sokrates, »was es besagen will, wenn man von der Blindheit der Liebe, von den verbundenen Augen des Eros spricht, wenn ich dich recht verstanden, Anaxagoras, so ist Eros nichts anderes, als der Nus mit verbundenen Augen« ...

»Nimm es immerhin so, wenn es dir so, gefällt!« sagte Anaxagoras lächelnd.

»Nun sieh' aber, Anaxagoras«, fuhr Sokrates fort, »wie du mich und diesen Jüngling hier, den Sprößling des Milesiers Axiochos, von unserem eigentlichen Gegenstande abgebracht hast, indem du uns in die obersten Höhen der Weisheit entführtest. Denn ich und dieser Jüngling, wir hatten bei unserem Gespräch eine andere Art von Liebe im Auge, als die du uns in deiner Rede vom Streit der Dinge und vom Erebos und vom Urei soeben gedeutet hast, wir fragen nämlich – und auch dieses erscheint der Frage vielleicht nicht unwert – welches denn die eigentliche Natur, das Wesen und der Zweck jener Empfindung sei, kraft welcher ein Mensch den andern, insbesondere aber jener Mann dieses Weib, oder jenes Weib diesen Mann zu lieben behauptet?«

»Ein Verlangen dieser Art«, versetzte Anaxagoras, »durch welches der Mann zum Weibe, aber nicht zum Weibe überhaupt, sondern zu einem bestimmten Weibe, und hinwiederum ein Weib nicht zum Manne überhaupt, sondern zu einem bestimmten Manne in leidenschaftlicher und willenloser Begierde hingezogen wird, ist eine Art von Erkrankung der Seele, und als solche wohl beklagenswert. Denn eine krankhafte Begier und leidenschaftliche Neigung dieser Art stürzt nicht bloß denjenigen, dessen Begierde von dem Gegenstande, auf welchen sie sich ausschließlich richtet, ungestillt bleibt, in die kläglichste Verzweiflung und in den trübseligsten Jammer, sondern sie bringt, auch wenn sie Hoffnung hat, gestillt zu werden, oder wirklich zum Teil gestillt wird, die von ihr Behafteten in eine Abhängigkeit von dem geliebten Gegenstande, welcher jeder schon an sich als seiner unwürdig und als schmählich erkennen müßte, welche aber auch deshalb für den Weisen durchaus zu vermeiden ist, weil er, um den Gleichmut und die innere Zufriedenheit der Seele zu behaupten, niemals sich an irgend etwas mit leidenschaftlicher Vorliebe hängen darf. Denn alles, woran wir uns in solcher weise durch Gewöhnung fesseln lassen, kann uns wieder entrissen werden, und sein Verlust bereitet uns dann unerträgliche Qualen. Solch krankhafte Liebesleidenschaft verwirrt das Gemüt, erfüllt es mit beständiger Angst und Eifersucht, macht den Kühnsten zag, den Stärksten schwach, den Besten gleichgültig gegen Ehre und Schmach, und den Sparsamsten zum Verschwender. Untereinander aber entstammt sie die Menschen zum erbitterten Hader und stiftet Unheil für ganze Völker und Städte, so wie ja auch um eines Weibes willen Ilion zerstört worden und die Griechen ein Jahrzehnt lang alle erdenkliche Mühsal und das vergossene Blut ihrer Besten erduldet.«

Anaxagoras hatte noch kaum seine Rede beendet, als Perikles, mit einem Begleiter im Gespräch, die Halle heraufkam. Er sah den Anaxagoras mit Sokrates sich unterreden. Er erkannte auch die verkleidete Aspasia an der Seite des Sokrates und warf ihr einen verwundert fragenden Blick zu, den sie mit einem unbefangenen Lächeln erwiderte.

Perikles blieb stehen, und da er die letzten Worte der Rede des Anaxagoras gehört, so fragte er die ihn Grüßenden, über welchen Gegenstand sie sich denn eben mit so gespannter Aufmerksamkeit von Anaxagoras hätten belehren lassen.

»Laß dir dieses, o Perikles«, sagte Sokrates mit schlauem Lächeln, »von dem Jüngling hier, dem Sohn des Milesiers Axiochos, auseinandersetzen; denn er ist eben schuld, daß Anaxagoras gezwungen wurde, an dieser Stelle Halt zu machen und einiges über einen der nach meinem Bedünken schwierigsten Punkte des menschlichen Erkennens zu äußern.«

»Die Rede des weisen Klazomeniers«, sagte Aspasia, »war veranlaßt durch die Frage des Sokrates, was zu halten sei von der Liebe.«

»Und was antwortete der weise Klazomenier in betreff dessen, was zu halten sei von der Liebe?« fragte Perikles.

»Er sagte«, gab Aspasia zurück, »wenn ich anders seinen Gedanken und nicht bloß seinen Worten gefolgt bin, daß die Liebe, so feurig sie sein möge, doch immer nur Sache des heiteren, fröhlichen Lebensgenusses bleiben müsse, und daß sie nicht zu krankhafter, trübseliger Schwärmerei entarten dürfe, noch zur Tyrannei, noch zu herznagender Eifersucht« ...

»Er sagte«, fiel Sokrates mit bedeutungsvollem Lächeln ein, »daß wenn einer den Jüngling, der ihm teuer, oder die Schöne, die er liebt, an der Seite eines anderen, schönen oder häßlichen Mannes erblicken sollte, er deshalb nicht sogleich für nötig halten dürfe, olympische Brauen zu runzeln, oder eine Griechenflotte in Aulis zu versammeln, um in wildem Rachedurst Völker auszutilgen und Städte zu verwüsten« ...

Perikles lächelte. Er fand die Silensgestalt des Wahrheitsuchers beinahe drollig neben dem strahlenden Liebreiz der ihm zur Seite sitzenden verkleideten Aspasia. Es war im ersten Augenblicke allerdings befremdend für ihn gewesen, Aspasia hier zu treffen, und seine olympischen Brauen hatten sich in der Tat bei ihrem Anblicke ein wenig zusammengezogen; aber nun schämte er sich beinahe dieser ersten Regung. Er zweifelte nicht an der Absicht seiner schönen Freundin, sich, wie es mit Rücksicht auf ihr Geschlecht ihr geziemte, vor Beginn der Leibesübungen aus der Ringschule zu entfernen. Aber er hielt es doch für geraten, sie durch eine versteckte Mahnung daran zu erinnern, daß dieser Zeitpunkt nahe sei, und daß sie bedacht sein müsse, denselben nicht zu versäumen. Er ließ die Aeußerung fallen, daß die Uebungen unverweilt beginnen würden. Er fügte hinzu, daß es heute für ihn selbst Ehrensache sei, sich hier einzufinden, da seine beiden Söhnlein, Xanthippos und Paralos, so wie sein Mündel Alkibiades, nachdem sie schon eine kleine gymnastische Vorschule in der Palästra durchgemacht, zum erstenmal in den öffentlichen Uebungen der Knaben in der Ringschule teilnehmen würden. Nicht länger sei der kleine Alkibiades zurückzuhalten gewesen, der nichts mehr von der armseligen Palästra hören wolle, und danach glühe, sich auf dem öffentlichen Felde der Ehren, im Lykeion, mit seinen Altersgenossen zu messen.

Anaxagoras und seine Begleiter vernahmen diese Nachricht nicht ohne lebhafte Teilnahme und schlossen dem Perikles sich an, um Zeugen der Wettkämpfe des kleinen Alkibiades zu sein, von welchem die Athener, so jung er war, doch schon zu sprechen begannen.

Aspasia erhob sich ebenfalls mit Sokrates, wie um den übrigen zu folgen, forderte jedoch insgeheim den Wahrheitsucher auf, sie aus dem Lykeion hinwegzugeleiten.

Aber der grüblerische junge Steinmetz aus der Werkstätte des Pheidias schritt, nachdem er mit der verkleideten Schönen aus dem Gedränge entwichen, wie traumwandelnd neben ihr hin, und ohne es zu wissen und zu wollen, führte er sie, statt aus der Ringschule hinaus, in die abgelegenste, eben völlig verödete Halle derselben, weit ab von dem Schauplatze, wo die Jünglinge und Knaben sich übten.

Sein Inneres war ganz ausgefüllt durch die schweigsame Erwägung dessen, was Anaxagoras über die Leidenschaft der Liebe geäußert hatte. Die Worte des Weisen waren tief in seine Seele gedrungen.

Aspasia fragte ihn zuletzt nach dem Grunde seines nachdenklichen Schweigens.

Er antwortete lange nicht; dann aber, wie aus einem tiefen Traume erwachend, begann er, nachdem er seine Begleiterin eingeladen, sich neben ihm auf einen Marmorsitz in der völlig menschenleeren Halle niederzulassen: »weißt du, Aspasia, wann in meinem Leben zum ersten Male mein Dämon sich bei mir meldete?«

»Was nennst du deinen Dämon?« fragte Aspasia.

»Mein Dämon«, erwiderte jener, »ist ein Mittelwesen zwischen göttlicher und menschlicher Natur. Er ist kein Phantom, kein Hirngespinst: denn ich höre zuweilen ganz deutlich, so deutlich, als man nur etwas vernehmen kann, seine Stimme in meinem Innern. Aber er verschmäht es leider, mir die Tiefen der Weisheit in geheimer Offenbarung aufzuschließen; was Erkenntnis anlangt, scheint er nicht stärker und nicht weiser als ich selbst. Er begnügt sich damit, mir in einzelnen Fällen kurz und ohne alle Begründung mit seiner innerlich vernehmlichen Stimme zu sagen, was ich tun oder was ich lassen soll. Zum erstenmal in meinem Leben vernahm ich diese seine Stimme, als ich dich, Aspasia, zum erstenmal erblickte!«

Aspasia fühlte sich sonderbar berührt, als sie den jungen Grübler so ernsthaft und wie von einer wirklichen Person und der natürlichsten Sache von der Welt von seinem Dämon reden hörte.

»Und was gebot dir der Dämon in jenem Augenblicke?« fragte sie lächelnd.

»Als ich dich erblickte und der Gedanke sogleich sich meiner bemächtigte, dich nach dein Wesen der Liebe zu fragen, da ließ er sich leise, aber deutlich vernehmen. »Tue das nicht!« sagte er. Aber ich dachte: was will dieser Fremdling? was kümmern ihn meine Angelegenheiten? – Ich gehorchte nicht, und fragte dich, fragte dich oft und immer nach dem Wesen der Liebe. Aber nun bin ich entschlossen, ihm für die Zukunft in allem, was er mir gebieten oder verbieten mag, zu gehorchen; denn ich habe mich indessen überzeugt, daß er der rechten Einsicht voll, und wohlwollend, und alles Vertrauens würdig ist.«

»Du bist ein Träumer, Freund!« sagte Aspasia, »obgleich du vorgibst, nach den klaren Begriffen der Dinge zu jagen. Zu sehr nach innen gekehrt ist dein Wesen, o Sohn des Sophroniskos! Blick um dich, und sieh' den reinen, ruhigen, gesunden, von heitrer Schönheit gesättigten Umriß des Lebens dich überall umgeben! Opfere den Charitinnen, o Sokrates! Opfere den Charitinnen! Und vergiß nicht, daß du ein Grieche bist!«

»Ein Grieche?« erwidert lächelnd Sokrates. »Bin ich nicht zu häßlich, um ein Grieche Zu sein? Meine Stumpfnase fällt hinaus aus der Sphäre des reinen Griechentums. Ich mache aus der Not eine Tugend und suche ein Lebensideal, das verträglich ist mit der Unschönheit!« –

Aspasia blickte nach diesen Worten dem Sokrates mit einem Gemisch von Befremdung und von Mitleid ins Gesicht.

Der arme Sohn des Sophronistos! Er schritt unter den heiter befriedigten Menschen dahin als der einzige unbefriedigte. Man fing an, ihn zu den Weisen zu zählen. Aber niemand hatte ihn jemals etwas behaupten gehört. Er fragte nur immer. Er wandelte durch seine Mitwelt als ein großes, lebendes, fast unheimliches Fragezeichen, war er das verkörperte Bedürfnis einer neuen Offenbarung, eines neuen Gedankens, einer neuen Zeit? ...

Da die Wirklichkeit, selbst in ihrer üppigsten Blüte, seine Fragen nicht ganz beantwortete, so flüchtete er sich ins Gebiet des reinen Gedankens. Er jagte den »klaren Begriffen« nach. Aber nichts liegt der grübelnden Gedankenjagd näher, als ihr scheinbares Widerspiel, die Schwärmerei. Und so sprach er von seinem Dämon.

Es war ihm Ernst damit. Des Griechen Auge war gewohnt, klar und offen nach außen zu blicken. Sokrates wendete das seine nach innen. Er hörte sich denken; er entdeckte die Innerlichkeit und erschrak davor, so sehr, daß sie ihm als eine dämonische Macht erschien. Er nannte sie seinen Dämon.

Viel wurde von seiner »Ironie« gesprochen. Ach, die Ironie, mit welcher er die Unwissenheit der andern in Gesprächen aufdeckte, sie war nur ein schwacher Nachhall jener Ironie, deren Stachel er gegen sich selbst, gegen das vergeblich nach Erkenntnis dürstende Ringen in seinem eigenen Busen kehrte!

Es war sein schmerzlicher Ernst, wenn er von sich versicherte, er wisse, daß er nichts wisse ...

Und doch gärte es in ihm von Gedankenkeimen der Zukunft.

Er suchte, wie Aspasia ihn soeben sagen gehört, ein Lebensideal, das, ungleich dem hellenischen, verträglich wäre mit der Unschönheit.

Er suchte, ahnte ein ernsteres Ideal gegenüber dem Ideal des »allsiegend Schönen«, das über sein Zeitalter den Glorienschein in goldner Lebensblüte warf ...

Von solcher Art war das Wesen dieses noch jugendlichen Grüblers. Und doch – er war ein Grieche. Unschön von außen, grüblerisch in seinem Innern, war er doch angehaucht von der Anmut hellenischen Geistes. Ein düst'rer Schwärmer war er nicht und konnte es nicht werden. Der Hauch Aspasias hatte auch ihn berührt; niemals konnte er den düsteren Gewalten ganz verfallen. Mehr und mehr mußte sein Wesen sich verklären zu milder Heiterkeit, wenn auch nur zur Heiterkeit des weisen, der den Giftbecher mit Gleichmut leert, wenn seine Stunde gekommen ...

Jetzt aber gärte in ihm noch die Jugend und eine geheime, ihm selbst fast unbewußte, jugendliche Leidenschaft. Noch war er nicht der Mann und nicht der Greis, von welchem die Bücher der Alten erzählen – noch war er der Steinmetz aus der Werkstätte des Pheidias.

Er liebte im geheimen die schöne und weise Aspasia.

Er liebte sie, und er wußte, daß er eine stumpfe Barbarennase und das Gesicht eines Silens habe, und daß sie ihn niemals lieben könne.

Er wußte es, aber er war noch jung, und er ermaß selbst nur halb die Gewalt des Feuers, das heimlich in seinem Busen loderte.

»Ich weiß es, Aspasia«, sagte er, »ich scheine dir auf der Blüte des hellenischen Lebens als eine Raupe umherzukriechen, sie heimlich zernagend und mit skeptischem Gedankengeifer besudelnd, und du hättest Lust, mich davon hinwegzuschnellen mit den Spitzen deiner rosigen Finger. Aber sieh, Aspasia, ich möchte ja gerne lieber schön als weise sein, sage mir nur, wie ich es anstellen soll, um schön zu sein?«

»Sei immer mild und heiter«, entgegnete Aspasia, »und – ich wiederhole es dir – beeifere dich, den Charitinnen zu opfern!«

»Durchsonne mich mit dem Strahl deiner Augen!« rief er, von der Regung seines Herzens überwältigt, der sonst so ruhige Wahrheitsucher. »Dann«, fuhr er fort, »werde ich immer mild und heiter sein!«

Er sagte diese Worte in leidenschaftlicher Aufwallung und rückte dabei dem Antlitz Aspasias mit dem seinigen näher, als ob er jenen erheiternden Strahl ihres Auges mit dem seinigen auffangen wollte.

Dabei kam das Silensgesicht des Weisheitsfreundes dem liebreizenden Antlitz der Milesierin so nahe, daß seine aufgeworfene Lippe den wonnigen Rosenmund der Schönen beinahe berührte. »Opfere den Charitinnen!« rief Aspasia, sprang empor und enteilte ...

In eben demselben Augenblick kam ein nackter Knabe, fast atemlos, flüchtend die Halle herauf gelaufen, stürzte sich, als er den Sokrates erblickte, auf diesen, riß den Mantel desselben an sich und verbarg darin seine nackten Glieder.

Der Wahrheitsucher wußte nicht, sollte er seine Blicke auf die von ihm hinweg enteilende Aspasia, oder auf den zu ihm sich flüchtenden Knaben richten. Er sah aus wie ein Mann, dem eine Taube aus der Hand entflieht, und dem im selben Augenblick eine Schwalbe an den Busen fliegt ...

Der Knabe, in den Mantel gewickelt, schmiegte sich in seinen Schoß und bat flehentlich, noch immer keuchend vor Angst, ihn zu verbergen und zu beschützen.

»Wessen Sohn bist du, und was ist der Grund deines ängstlichen Entweichens?« fragte Sokrates den Knaben.

»Ich bin des Kleinias Sohn, des Perikles Mündel, Alkibiades geheißen!«

So antwortete der Knabe, – In folgender Art aber hatte sich zugetragen, was das Söhnlein des Kleinias zwang, mit nackten Gliedern zitternd sich in den Schoß des Sokrates zu flüchten.

Zur Zeit, als dieser neuerdings sich in ein Gespräch mit Aspasia vertiefte, hatten die Uebungen der Jünglinge und auch der Knaben in den dazu bestimmten Räumen des Lykeion begonnen.

Perikles und seine Begleiter umstanden mit vielen anderen den Uebungsplatz der Knaben.

Es war eine Schau voll lebendiger Anmut, diese schönen, munteren, zarten, und doch schon durch die Vorübung der Palästra gekräftigten, unverderbt knospenden Knabengestalten, der purpurnen Chlamis entkleidet, im Sande der Ringschule sich tummeln zu sehen.

Unter allen aber leuchtete der Knabe Alkibiades hervor, einer der Jüngsten zwar, aber fest schon auf den Beinen und etwas Trotziges, Keckes in seinem Wesen zur Schau tragend. Aber das Kecke und Trotzige wurde gemildert durch den Reiz seiner Schönheit. Die Bildner drängten sich herzu, um dieses noch unentwickelte, aber gleichsam in leiser Andeutung sich ankündende Muskelspiel, diese knospende Wohlgestalt, diese gleichsam auf einen verjüngten Maßstab zurückgeführte männliche Formenharmonie zu bewundern. Nebst dem jungen Alkibiades befanden sich unter den Knaben auch seine beiden Altersgenossen, die Sprößlinge des Perikles, Xanthippos und Paralos; ferner der kleine Kallias, des reichen Hipponikos Sohn, mit welchem Alkibiades schon Freundschaft geschlossen hatte. Auch das Söhnlein des reichen Pyrilampes, Demos geheißen, war da zu sehen.

Die Knaben, feurig und lebhaft, wie sie waren, konnten den Beginn der Uebungen kaum erwarten.

Mit dem Wettlaufe begannen jetzt unter Leitung der Paidotriben, die Uebungen der Knaben.

Die Paidotriben unterwiesen ihre Zöglinge, wie sie im Laufe haushalten sollten mit ihrem Atem und mit ihrer Kraft, wie sie die oberen und die unteren Glieder im Gleichmaß bewegen, wie sie mit erhobenem, gleichsam schwebendem Fuße weit ausschreiten sollten, um mit der kleinen Anzahl von Schritten den größten Raum zu durchmessen; auch gewisse taktmäßige Bewegungen der Arme lehrten sie die Knaben, welche nach ihrer Meinung geeignet waren, dem Ausschreiten der Füße entsprechend, die Schnelligkeit der Bewegung zu fördern.

Doch, siehe da! der kleine Alkibiades wollte von dieser Lehre nichts wissen: er erklärte die Bewegungen der Arme, zu welchen man ihn zwingen wollte, für unschön und stritt sich mit den Paidotriben über die Sache. Begütigend mischte einer der Aufseher und Leiter der Uebungen sich in den Streit, streichelte die Wange des Knaben und lobte seinen Eifer für die Bewahrung der dem Auge wohlgefälligen Schönheit in Bewegung und Haltung, verwies ihn aber in betreff der Zweckmäßigkeit jener Bewegungen auf das Beispiel der mauretanischen Strauße, welche ihren Lauf durch die Bewegungen der kleinen Flügel, die sie gleichsam wie Segel gebrauchen, unterstützen.

Die nackten Knaben liefen gegen das Ziel mit einem fröhlichen Geschrei, das immer stärker erscholl, je mehr sie dem Ziele sich näherten. Mehrmals wurde der Wettlauf wiederholt – immer war der erste am Ziel der junge Alkibiades.

Nach den Uebungen des Laufes kamen die des Sprunges, des Hochsprungs, des Weitsprungs, des Tiefsprungs, an die Reihe.

Die Paidotriben gaben den Knaben Gewichte in die Hand und lehrten sie, dieselben so gebrauchen, daß sie, weit entfernt die Leichtigkeit des Sprunges zu hemmen, vielmehr den Schwung des Leibes nach vorwärts beförderten. Auch diese Gewichte mißfielen dem eigenwilligen Knäblein Alkibiades, und wenig fehlte, so hätte er sie einem derjenigen, welche über das sittliche Wohlverhalten der Knaben zu wachen hatten, und der ihm sein widerspenstiges Benehmen mit etwas scharfen Worten verwies, an den Kopf geworfen. Zorn und Scham bemächtigte sich des Perikles, als er, mit seinen Freunden unter den Zuschauern stehend, Augenzeuge ward von der Zügellosigkeit des Knaben. Aber er lächelte versöhnt, als unter dem Beifallsklatschen der Zuschauer der Sohn des Kleinias auch im Sprunge allen Altersgenossen den Vorrang abgewann.

Jetzt wurden die Knaben von den dazu bestimmten, sogenannten Aleipten mit Oel gesalbt für den Ringkampf. Das ließ der kleine Alkibiades sich noch gefallen; als man ihm aber den durch das Gel geschmeidigen Leib mit Staub bestreute, um die Schlüpfrigkeit der eingeölten Glieder zu mindern, so legte er gegen diese Verunreinigung lebhafte Verwahrung ein. Aber hier fügte man sich nicht, wie in der Palästra, den eigenwilligen Launen des Knaben; hier galt des Gymnasions strengeres Gesetz, und das Söhnlein des Kleinias mußte sich fügen.

Paarweise traten die Knaben zum Ringen an.

Mit gelinder Beugung des Knies den rechten Fuß ein wenig vorzustrecken, den Arm zum Angriff wie zur Abwehr auszulegen, Hals und Haupt nicht nach vorn zu neigen, auch den Unterleib einzuziehen, die Brust aber zu runden und zu wölben, des Gegners Bewegungen vorauszuerspähen, im Angriff wie in der Verteidigung beständig kunstgemäß zu verfahren, wurden die Knaben von den Paidotriben unterwiesen. Wie man ferner den Gegner mehr durch Gewandtheit als durch Kraft zum Fallen bringen, den Gefallenen aber mit Händen und Füßen so umschlingen und verwickeln könne, daß er regungslos bleiben und darauf verzichten müsse, sich wieder vom Boden zu erheben, das wurde nebst allen übrigen Kunstgriffen den jugendlichen Ringern eifrig eingeprägt. Aber auf Anstand auch und selbst auf Anmut der Bewegungen richteten die Lehrer und Aufseher der Hebungen ihr Augenmerk. Nicht auf Kraftentwicklung bloß und Gewandtheit bezogen sich die Regeln, welche sie gaben, sondern auch auf Schaustellung jeder Art von Wohlgestalt und jener schönen, freien, leichten Art von Haltung, durch welche der Athener sich von Barbaren und selbst von manchen Griechen unterschied.

Der junge Alkibiades rang mit dem ältesten unter den Knaben, und streckte ihn durch einen Kunstgriff, welchen er nicht dem Paidotriben verdankte, sondern in des Augenblickes Drang und Nötigung selbst gefunden hatte, in den Sand.

Nun wurden den Knaben die Schabeisen gereicht, damit sie sich den ölgetränkten Staub von den Gliedern schaben konnten, und nachdem dies geschehen, erhielt jeder von ihnen eine Diskosscheibe, auch eine kleine Stange statt des Speers, beides zu den Uebungen im Wurfe. Die Diskosscheibe der Knaben war nicht, wie sonst, von Erz, sondern aus dem Holze einer harten Art geschnitzt. Nichts Leichtes war der Diskoswurf, wenn er kunstgerecht ausgeführt werden sollte. Beim Wurfe die rechte Körperhaltung anzunehmen, ferner der Wurfscheibe, nachdem sie mit etwas Erde rauh gemacht worden, um sie sicherer fassen zu können, die beste Lage in der Hand zu geben, dann aber die Hand in eine wiegende Bewegung zu bringen, um gleichsam das Verhältnis der Kraft, welche aufzuwenden war, zu dem Gewichte richtig abzuwägen, den Diskos schwungrecht und die Muskeln des Armes spannkräftig zu machen, wohl auch die Scheibe im Halbkreisbogen zu schwingen und dann aus der Tiefe herauf in die Ferne zu schleudern – das alles wurde, wie den anderen Knaben, auch dem Alkibiades eingeschärft; er aber verachtete diese Regeln, und als die Knaben einer nach dem andern zum Wurfe antraten, und die weite, welche jeder einzelne mit seinem Wurfe erreichte, am Boden durch ein Zeichen ersichtlich gemacht wurde, schleuderte der Sproß des Kleinias, als an ihn die Reihe kam, seinen Diskos wie es ihm gefiel. Dennoch flog seine Scheibe über die der andern weit hinaus.

Da trat noch ein starker Knabe hervor, der im Diskoswurf eine besondere Fertigkeit besaß. Dieser versuchte nun sein Glück, und achtsam, mit Beobachtung aller Regeln der Paidotriben, warf er den Diskos und überholte zwar nicht den Wurf des Alkibiades, blieb aber auch hinter demselben nicht zurück. Seine Scheibe und die des Alkibiades lagen in gleicher Entfernung von den übrigen.

Alkibiades erbleichte. Zum ersten Male sollte er seine Siegesehre mit einem andern teilen. Stumm und vor Aufregung zitternd stand er da und warf Blicke des Unmuts nach seinem Nebenbuhler hinüber. Dieser aber vermaß sich zu behaupten, seine Scheibe liege, genau genommen, noch ein weniges über die des Alkibiades hinaus.

Bei dieser Behauptung wurde der junge Alkibiades von unbeschreiblicher Wut ergriffen, erhob seine Rechte und schleuderte mit aller Gewalt den Diskos, den er in der Hand hatte, nach dem Haupte des Gegners. Und nur zu gut erreichte der Wurf sein Ziel; ohnmächtig und blutend sank jener Knabe zusammen.

Ein großer Tumult entstand. Der fast auf den Tod verwundete mußte hinweggetragen werden. Bei diesem Anblick erbleichte und zitterte der junge Alkibiades einen Moment; als aber die Verwandten und Befreundeten des verwundeten Nebenbuhlers mit Vorwürfen und Drohungen auf ihn eindrangen, zeigte er sich sogleich wieder gefaßt und trotzig.

Jetzt aber sah er den zürnenden Perikles in Gesellschaft des würdevollen Gymnasiarchen auf sich heranschreiten, und merkend, daß man ihn ergreifen, hinwegführen, vielleicht gar in schmählicher Weise züchtigen wolle, wendete er sich plötzlich, durchbrach den Ring der Umstehenden, wo er am wenigsten dicht war, und entfloh mit jener Behendigkeit, welche ihm früher beim Wettlauf zum Siege verholfen hatte.

Man schickte sich an, ihn zu verfolgen, aber bald war er den Augen seiner Häscher entschwunden.

Im abgelegensten Teile des Lykeion war er auf den Sokrates gestoßen, hatte sich, wie schon erzählt, auf ihn gestürzt und schutzflehend sich in seinen Mantel geborgen.

»Der Sohn des Kleinias also bist du?« sagte Sokrates in sanftem und ruhigem Tone, nachdem ihm der Knabe auf sein Befragen den Anlaß seiner Entweichung erzählt hatte. »Nimmst du bei deinem Tun und Lassen keine Rücksicht auf Lob und Tadel, keine Rücksicht auf den Wunsch und Willen so vortrefflicher und angesehener Männer, von welchen du stammst, oder welchen du durch Geburt verwandt bist?«

»Ich will nicht immer tun, was die anderen wollen«, sagte der Knabe trotzig; »ich will tun, was mir beliebt und was ich selber will und was ich mir vorsetze.« »Du hast ganz recht«, erwiderte Sokrates, immer ruhig; »der Mensch muß tun dürfen, was er selber will und was er sich vorgesetzt hat. Aber was hast du denn eigentlich gewollt und was hast du dir vorgesetzt, als du heute morgen mit den andern Knaben hierher kamst in das Lykeion?«

»Der Erste zu sein in allem!« rief lebhaft der kleine Alkibiades, »Der Erste zu sein, mich auszuzeichnen und die größten Ehren unter allen davonzutragen! Das hatte ich mir vorgesetzt!«

»Dann hast du also doch nicht getan, was du eigentlich wolltest und was du dir vorgesetzt«, bemerkte mit unveränderter Ruhe Sokrates. »Du wolltest dich auszeichnen, wolltest mit Ruhm bedeckt das Lykeion verlassen; in der Tat aber bist du mit Schmach und Schande fortgehetzt worden und hast vielleicht noch gar, wenn du den Deinigen zurückgegeben wirst, eine Züchtigung zu erwarten, warum bist du denn nicht geradeswegs auf das, was du erreichen wolltest, losgegangen und hast deine Zeit mit Nebensachen, die dich vom Ziele abführten, verloren? Du bist nicht hierher gekommen, um deinem Altersgenossen mit dem Diskos ein Loch in das Haupt zu werfen, sondern, wie du sagst, um Lob und Ehre zu erringen. Dein Fehler war, daß du einen Augenblick ganz und gar vergaßest, was du hier eigentlich wolltest, und dich auf Nebendinge einließest, welche zur Folge hatten, daß du, statt mit Ruhm bedeckt, mit Schmach und Schande aus dem Gymnasion flüchten mußtest?« –

Es geschah dem Knaben Alkibiades zum erstenmal, daß ihm das Gesetz des zweckmäßigen Verhaltens nicht als willkürlich und äußerlich drohendes, sondern als etwas in ihm selbst Lebendiges, mit seinem eigensten Wollen wesenhaft verbundenes vor Augen gestellt wurde.

Ueberhaupt lag etwas in diesen Worten des Sokrates und in dem Tone, in welchem sie gesprochen wurden, was dem Knaben Vertrauen einflößte. Er sah dem Manne ernst und schweigend ins Antlitz, er sah ihm in die mild-freundlichen, braunen Augen, und sein Vertrauen wurde im selben Augenblick fast unbewußt zu einer Sympathie, wie er sie bisher für keinen Menschen empfunden hatte.

Jetzt sah man die Leute, welche den Knaben Alkibiades suchten, darunter den Perikles im Geleite des Gymnasiarchen, sich nähern.

Neuerdings begann der Knabe zu zittern. »Fürchte nichts!« mahnte Sokrates; »ich werde es mit der Götter Hilfe versuchen, dich auszusöhnen mit all' diesen grimmigen Feinden und Verfolgern!«

Die sich Nähernden erkannten den Sokrates und, an ihn geschmiegt, in sein Himation gehüllt, den Knaben, den sie suchten. Es war, als sähe man den Knaben Achill in Gesellschaft seines Lehrers und Pflegers, des ungeschlacht-gutmütigen Kentauren.

Als Perikles und der Gymnasiarch mit den übrigen herangekommen und gerade auf den Sokrates zuging, sagte dieser: »Ich weiß, wen ihr sucht, ihr Männer; aber der, den ihr sucht, ist mein Schutzbefohlener, wie ihr sehet, und ich werde ihn nicht ausliefern, sondern ihn, wie es meine Pflicht ist, nach Kräften verteidigen. Er ist, wie er mir sagt, ins Lykeion gekommen, um sich auszuzeichnen, was ihm nur deshalb nicht völlig gelang, weil er aus Vergeßlichkeit sich mit Dingen befaßte, die nicht zur Sache gehörten, indem er nämlich einem Gespielen den Diskos an den Kopf warf, was ihm Unehre brachte statt der Ehre, die er eigentlich gesucht, was die Verwundung jenes Knaben anlangt, so bedenkt, ihr Männer, daß ein ganz ähnliches Unglück oder Vergehen, wie ihr es nennen wollt, auch durch Götter- und Heroenhände schon geschehen ist; denn, wie ihr wißt, hat selbst Apollon seinen Liebling Hyakinthos, und der Held Perseus seinen Großvater Akrisios mit einem Diskoswurfe getötet. Es ist wahrscheinlich, daß dieser dunkelgelockte, feueräugige Knabe den Göttern und Helden ähnlich werden könnte, wenn er wollte, auch in anderen Dingen« ...

Der Zorn des Perikles legte sich bei dem Anblicke des wiedergefundenen Knaben, aus dessen Gesichte jede Spur von Trotz verschwunden war. Er richtete an den Fürsprecher einige freundliche Worte, welche zugleich den noch immer der Züchtigung Gewärtigen beruhigen konnten, und befahl hierauf dem Pädagogen, den Knaben anzukleiden und aus dem Lykeion hinweg nach Hause zu führen.

Sokrates schloß sich dem Perikles und dem Gymnasiarchen an, und die Männer unterhielten sich noch eine Weile von der seltsamen Mischung herrlicher und verderblicher Eigenschaften, welche sich in der Natur des Söhnleins des Kleinias begegneten.

Dieses selbst aber verließ an der Hand des Pädagogen nicht den Ort, ohne sich mit einem warmen Blicke aus seinen dunkelleuchtenden Augen von dem Schützer und Fürsprecher zu verabschieden. In solcher Art wurde der seltsame Herzensbund geschlossen zwischen Sokrates, welchen sie den Häßlichen nannten, und dem schönsten aller Hellenensöhne, dem jungen Alkibiades, an dem Tage, als dem Wahrheitsucher eine Taube aus der Hand entflog und im selben Augenblick eine junge Schwalbe an den Busen flüchtete ...

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