Josef Haltrich
Sächsische Volksmärchen aus Siebenbürgen
Josef Haltrich

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106. Der Wolf und die Stute

Die Wunde, welche der Wolf empfangen, war nicht gefährlich; er steckte seinen Kopf in einen Haufen Sand, dadurch hörte das Blut auf zu fließen, und bald war der Hunger im Magen größer als der Schmerz im Haupte. Da sah er an einem Bergabhang einsam eine Stute mit ihrem Füllen weiden. Stracks lief er drauf los, und noch ehe sich die Stute versehen und retten konnte, war er bei ihr. »Ertappe ich Euch einmal auf verbotener Weide; ich bin hier Torbesvater (Feldhüteraufseher), Euer Kind nehme ich mit zum Pfande!« Es half der Stute nichts, daß sie sich aufs Bitten verlegte. »Ach!« seufzte sie, »mein armes unmündiges Kind würde sich in der Gefangenschaft zu Tode grämen!« – »Wie alt ist denn Euer Kind?« fragte der Wolf trotzig. »Ach, ich weiß es nicht mehr so ganz genau«, sprach die Stute, »sein Geburtstag ist aber mit seinem Namen bei der Taufe in meinen rechten Fuß eingeschrieben [worden], Ihr könnt doch wohl lesen? Ja, ja, wie kann ich so einfältig fragen, da Ihr Torbesvater seid, müßt Ihr ja auch lesen und schreiben können.« Der Wolf wollte jetzt nicht sagen: »Nein, das kann ich nicht!« Sein Ehrgeiz ließ das nicht zu. »Zeigt her einmal Euern Fuß!« rief er barsch. Da hob die Stute den rechten und versetzte dem Wolf eins wider den Gehirnkasten, daß ihm gleich Sehen und Hören verging und er sich hinstreckte, wie lang er war; indes gewann die Stute Zeit, mit ihrem Pullen sich heimzutrollen.


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