Friedrich Halm
Das Haus an der Veronabrücke
Friedrich Halm

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Messer Ruggiero, fast bewußtlos von seinen Dienern in seine Wohnung am Canal grande zurückgebracht, beantwortete, wieder zur Besinnung gekommen, die ängstlichen Fragen Ambrosias nach dem Ausgange seiner Unterredung mit Anselmo, alle näheren Erörterungen abschneidend, mit der Bitte, des Elenden nie mehr zu erwähnen; den herbeigeeilten Ärzten erklärte er in Übereinstimmung mit der Angabe des Neffen, ein Anfall von Schwindel habe ihn plötzlich niedergeworfen, dabei verweigerte er aber die Anwendung irgendeines der ihm empfohlenen Heilmittel und begehrte in fieberhafter Ungeduld nur nach einem, nach ungestörter Ruhe und Einsamkeit. Bei der leidenschaftlichen Aufregung, die sein ganzes Wesen kundgab, wurde diesem Verlangen denn auch entsprochen, und bald herrschte in dem Gemache des Greises die gewünschte lautlose Stille, kaum ab und zu von dessen schmerzlichem Stöhnen oder den leisen Schritten der gegen sein Lager hinhorchenden, alsbald aber wieder im Nebenzimmer verschwindenden Ambrosia unterbrochen. In dieser Abgeschiedenheit, mit halbgeschlossenen Augen regungslos auf sein Lager hingestreckt, brachte Ruggiero, jeden Zuspruch, ja sogar jede Annäherung selbst Ambrosias ungestüm ablehnend, Speise wie Trank verschmähend, ewig das folternde Gedächtnis der erlittenen Schmach wiederkäuend, zwei Tage und Nächte hin. Als er am dritten Tage endlich sich wieder von seinem Lager erhob, schien er um zehn Jahre älter geworden; seine sonst männliche, volltönende Stimme klang nun dünn und heiser, seine Hände zitterten, und nur das unheimliche Blitzen des tief in seine Höhle zurückgesunkenen Auges verriet, daß in diesem gebrechlichen, hinfälligen Körper noch die Lebensfülle der Leidenschaft wohne. Er ging seinen Geschäften nach, aber wie im Traume; nicht bloß den Umgang, selbst jedes zufällige Zusammentreffen mit Menschen floh er, wie er nur konnte; die fragenden Blicke, mit denen Ambrosia bekümmert sein seltsames Treiben bewachte, waren ihm ebensoviele Dolchstiche, denn ihm war, als trüge er ein Brandmal auf der Stirne und jeder Blick müßte das Geheimnis seiner Schande von ihr herablesen. Frühmorgens sich aus dem Hause stehlend, bestieg er die Gondel und ließ sich nach dem Lido hinausrudern, wo er stundenlang das Haupt auf die Brust geneigt, in stummer Verzweiflung auf und nieder schritt oder am Ufer im Sande saß und den Wogen, die die Flut gegen ihn heranwälzte, erzählte, wie sein Neffe, der Knabe den er erzogen, den er mit Wohltaten überhäuft hatte, ihn, das Haupt des edlen Hauses der Malgrati, den schlachtenergrauten Kriegshelden, durch Stockschläge verunehrt, seine Vergangenheit geschändet und seine Zukunft vergiftet habe. Dabei weinte und schrie er und raufte sich das Haar wie ein Rasender, bis plötzlich tiefe Stille über ihn kam, und wie ein Stern in dunkler Nacht die Überzeugung in ihm erwachte, es lebe ein Gott im Himmel, der das nicht ungestraft hingehen lassen, der nicht frechen Undank mit dem Erbe des mißhandelten Wohltäters belohnen könnte und plötzlich werde, müsse sein Racheblitz auf das Haupt des Frevlers niederzucken. Dann erhob er sich gestärkt und ermutigt und trat halb getröstet den Heimweg an, um Tags darauf derselben Verzweiflung sich hinzugeben, mit derselben Hoffnung sich zu beschwichtigen. Der Himmel jedoch schien für den Augenblick auf diese Ansicht Ruggieros nicht eingehen und seine Donner einstweilen noch ruhen lassen zu wollen, denn Antonio Balletti, ein Kaufmann, den seine Geschäfte häufig nach Rom führten, brachte die Nachricht, Anselmo habe durch sein liebenswürdiges, ebenso einschmeichelndes, als selbstbewußtes Wesen die Gunst des allmächtigen Kardinals Caraffa und Zutritt zu den ersten Häusern Roms gewonnen; er lebe dort herrlich und in Freuden, versage sich keinen Genuß und vertröste seine Gläubiger auf das Majorat, das ihm früher oder später zufallen müsse, wie er denn auch Balletti, den Abend vor dessen Abreise auf der Tiberbrücke zufällig mit ihm zusammentreffend, angehalten und ihm mit tollem Gelächter empfohlen habe, zu Venedig seinen Onkel zu grüßen und den alten Herrn zu fragen, wie lange er denn noch in diesem irdischen Jammertale sich zu ergehen gedenke? Ruggiero erblaßte bis in die Lippen, als er die freche Botschaft vernahm, die in die offene Wunde seiner Schmach noch den Stachel des Hohnes drückte und stürzte zähneknirschend vom Markusplatze, wo er sie empfangen hatte, den Gäßchen zu, die von den Mercerien zur Rialtobrücke hinüberführen. Verwirrt und von widerstreitenden Gefühlen bestürmt irrte er lange, ohne zu wissen wo und wohin, in dem Häuserlabyrinthe Venedigs umher, bis er endlich seine Wohnung erreichte, um dort in seinem Gemache die lange Nacht hindurch unruhig auf und nieder zu schreiten.

Es waren schwere Gedanken, die er in sich herumwälzte. Die neue Beschimpfung, die ihm zugefügt worden, hatte seine Seele aus der dumpfen Betäubung des Schmerzgefühls emporgerüttelt, in die sie bisher wie gelähmt versunken war. Er schämte sich, so lange die Rolle eines Klageweibes gespielt zu haben; er fühlte das tiefinnerste Bedürfnis, mannhafte Tätigkeit an die Stelle leidender Hingebung, an das Gedächtnis der erlittenen Schmach treten zu lassen; er wollte handeln, er wollte sich rächen! Sein Geist wandte sich nach den Tagen seiner Jugend zurück, in denen er einen aus Eifersucht an einem Waffenbruder verübten Meuchelmord zu rächen, den Mörder jahrelang bis an das entfernteste Ende Europas verfolgt hatte, bis dieser endlich im Zweikampfe seinem Schwerte erlegen war. Jetzt freilich durfte er nicht daran denken, wie er vor seiner letzten Krankheit vielleicht noch getan hätte, mit dem Degen in der Hand vor seinen Neffen hinzutreten und Genugtuung zu fordern, wenn der hinfällige, gebrechliche Greis nicht dem jugendkräftigen, übermütigen Gegner erliegen, erliegend von dem Sieger noch verhöhnt werden wollte. Sollte er aber darum, die Hände in den Schoß gelegt, diese neue Beschimpfung hinnehmen? Mußte er nicht wenigstens versuchen, sich selbst zu helfen, damit der Himmel ihm weiter helfe? – Unwillkürlich trat das Bild eines gewissen Beppo vor seine Seele, eines verwitterten Burschen, der seinerzeit in den Niederlanden im spanischen Heere als Feldschmied gedient, nebenbei verschiedene zweideutige Gewerbe betrieben und nun, diese Beschäftigung fortsetzend, sich zu Venedig niedergelassen hatte. Er war ihm unlängst begegnet, er wußte, daß er in der Nähe von San Stefano wohne und er erinnerte sich, Beppo mit seinen beiden Strolchen von Söhnen stehe im Geruche, neben anderen lichtscheuen Geschäften auch das Gewerbe eines Bravo mit ebensoviel Entschlossenheit als Geschick zu betreiben! – Aber wie, sollte er, der schlachtenergraute Kriegsmann, mit Meuchelmördern in ein Bündnis treten? Und was war damit gewonnen, wenn auch ein kecker Schnitt durch die Gurgel, ein derber Stoß unter die Rippen hinauf den Namen Anselmo in seinem Kalender für immer mit einem Kreuze bezeichnet hätte? War damit der Frevler bestraft, waren ihm damit die Stunden, die Tage, die Wochen der Qual vergolten, die Ruggiero, von dem Gedächtnis des erlittenen Schimpfes ruhelos verfolgt, bald in dumpfer Versunkenheit, bald in verzweifelndem Rasen verbracht hatte? »Nicht den Feind mit einem Ruck aus der Welt stoßen, ihn hoffnungslos leben lassen,« sprach Ruggiero, in tiefen Gedanken auf und nieder schreitend, dumpf vor sich hin, »ihn hoffnungslos leben lassen, das heißt sich rächen! Daß der Glanz, der ihn jetzt umgibt, verdämmere und verbleiche, daß die Freunde, die er sich jetzt erworben, ihn verlassen, dafür, weiß ich, wird Anselmos grundloser Leichtsinn, wird die ungestüme Wildheit seiner Leidenschaften sorgen; aber eine Hoffnung bleibt ihm, die Hoffnung auf meinen Nachlaß, und diese ihm entreißen, ihn darben, hungern, in Elend verkommen sehen, während ein anderer als Erbe des Besitzes heranwächst, der er jetzt schon zu sein wähnt, das, und das allein wäre Rache! Einen Sohn müßte der Himmel mir schenken, einen Sohn!« Ruhelos sein Gemach durchwandernd, wiederholte er das eine Wort in allen Tonarten, vom leisen Flüstern der Sehnsucht bis zum lauten Schrei der Verzweiflung! Doch plötzlich stand er still, ergriff einen Armleuchter und schritt auf den prachtvollen Spiegel zu, der von der Decke bis zum Estrich des Gemaches herabreichend die ganze Breite des Fensterpfeilers einnahm, und beleuchtete, den Armleuchter emporhebend, sein Spiegelbild, wie es das venetianische Glas in ungetrübter Reinheit ihm zurückwarf. Die Aufregung der Leidenschaft hatte seiner Gestalt für den Augenblick die Haltung früherer Jahre wiedergegeben, seine Wangen brannten in unnatürlicher Röte und die Augen leuchteten fieberglänzend unter der hohen Stirne hervor, über die einzelne Büschel des spärlichen, immer lichter sich färbenden Haares herabhingen. »Pah,« sagte er nach einer Weile, seinen Zügen nicht unzufrieden zulächelnd, »pah, warum sollte ich an mir selbst verzweifeln! Mein Aussehen ist noch ganz jugendlich, die Haltung kräftig, das Auge frisch! Wie alt bin ich denn auch? – Fünfundsechzig – vielleicht einige Monate darüber! Hat Gott nicht viel ältere Männer mit Kindersegen erfreut, warum sollte er ihn mir versagen? Der Himmel freilich hilft keinem, der sich nicht selbst zu helfen weiß, aber ich will mir helfen, ich will!« – Und damit stellte er den Armleuchter beiseite, um, die Arme übereinandergeschlagen, das ruhelose Aufundniederwandern fortzusetzen, bis der Morgen bleich und dämmernd hereinbrach und Erschöpfung ihm endlich einige Stunden fieberhaft unruhigen Schlafes gewährte.

Spät morgens erwachend, begann Messer Ruggiero ungesäumt zur Ausführung der in der Nacht gefaßten Beschlüsse zu schreiten; statt wie gewöhnlich in unscheinbarer Kleidung die abgelegensten Orte aufzusuchen, um sich ungestört seiner Verzweiflung hinzugeben, und dann heimgekehrt nach einem kärglichen freudenlosen Mahle die Beschäftigung des Morgens fortzusetzen, ließ er sich, nachdem er ein Kräuterbad genommen, Bart und Haar kräuseln und mit wohlriechendem Öle salben, worauf er, seinem Stande gemäß gekleidet, den Stoßdegen an der Seite, den Federhut aufs Ohr gedrückt, verwandelt und verjüngt der Erbaria zuschritt, wo er die schönsten Blumen, die der Markt bot, in Fülle aufkaufte, um seine duftende Beute der schönen Ambrosia zu Füßen zu legen. Diese letztere, erst erfreut, den Gatten fröhlich und gesprächig zu sehen, fühlte sich bald durch das Feuer seiner Huldigung und den Ungestüm seiner Liebkosungen befremdet und eingeschüchtert und würde die Überfülle seiner Zärtlichkeiten gern auf das seinem Alter entsprechende Maß herabgedrückt haben, wenn sie nicht seine Reizbarkeit gekannt und gefürchtet hätte. Gegen Mittag füllte sich das Haus mit Freunden und Verwandten Ruggieros, die er zu Tisch gebeten, und die mit dem Ehepaare ein leckeres, durch die köstlichsten Weine gewürztes Mahl einnahmen, welchem zu Ambrosias bangem Erstaunen niemand so jugendlich tapfer zusprach, als eben Ruggiero. Noch mehr aber wuchs ihr Erstaunen, als nach einer Lustfahrt in der Gondel und einem Spaziergange auf dem Markusplatze Ruggiero bei hereinbrechender Nacht sich in dem seit seiner letzten Krankheit nur selten betretenen Schlafgemache Ambrosias häuslich einzurichten begann und die Absicht, daselbst die Nacht zuzubringen, zu erkennen gab, welchen Vorsatz er auch, ihren Bitten und Vorstellungen zum Trotz, wirklich ausführte. Die Erwartung Ambrosias, daß die plötzliche Sinnesänderung des Gatten nur eine vorübergehende, und daß er bald in das alte Gleis seiner gewohnten, wohlgeregelten Hausordnung zurückzulenken sein werde, erwies sich als eine vollkommen irrige, denn Ruggiero schien sich nicht nur in der neuen Lebensweise zu gefallen, sondern hielt sie auch mit solcher Lebhaftigkeit und Entschiedenheit fest, als hätte er es sich für den Rest seines Lebens zur Aufgabe gemacht, Tag für Tag seine schwindenden Kräfte durch künstlichen Überreiz übermäßig anzuspannen, um sie in nutzloser Verschwendung um so früher und gründlicher zu erschöpfen. Ambrosia, durch das allzu jugendliche Gebaren des greisen Gatten nichts weniger als erfreut, vielmehr in mehr als einer Beziehung verletzt, ja gekränkt, und wie alle Frauen ihrem Gatten eher daß er Unrecht tue zu vergeben geneigt, als daß er sich lächerlich mache, Ambrosia war nahe daran, diesem Treiben mit entschlossener Weigerung sich zu entziehen, wenn nicht Ruggieros erschöpfte Natur ihr diesen Schritt erspart hätte.

In wenigen Wochen waren trotz aller Reizmittel die Kräfte des alten Mannes so herabgekommen, daß er nicht mehr daran denken konnte, die so zuversichtlich übernommene Rolle des jugendlichen Ehemannes fortzuspielen, sondern sich genötigt sah, den erst leichtsinnig weggelegten Krückenstock wieder zur Hand zu nehmen. Allein die ihm angeborene Hartnäckigkeit verließ ihn auch jetzt nicht und die täglich fühlbarer werdende Abnahme seiner Kräfte konnte ihn nicht abhalten, mit derselben halb wahnsinnigen Begierde dem unerreichbaren Phantom von Vaterfreuden nachzujagen, mit der er früher Anselmos Verheiratung betrieben hatte. Durch Arzneimittel sollte nun erreicht werden, was die Gesetze der Natur versagten, und da die Ärzte, die ihn sonst behandelten, ihm entweder abrieten oder ihn mit Versprechen hinhielten; da die Quacksalber und Wunderdoktoren, denen er sich zuletzt in die Arme warf, seinen Zustand eher verschlimmerten als verbesserten, so erklang es in ihm wie himmlische Musik, als er einst einen Schwererkrankten und glücklich Genesenen die Gelehrtheit und tiefe Einsicht des heilkundigen Meisters Gabriel Falopia lobpreisen hörte, der, durch seine anatomischen Forschungen in hohem Ansehen stehend, damals ein Lehramt an der alten und weltberühmten Hochschule zu Padua bekleidete. Sein Entschluß war bald gefaßt; noch desselben Tages trat er die Reise nach Padua an und versäumte, daselbst angelangt, keinen Augenblick, die Wohnung Meister Falopias aufzusuchen. Sein Weg dahin führte an der Kirche San Antonio vorbei, in die er eintrat, um vor dem wundertätigen Bilde des Heiligen ein brünstiges Gebet für das Gelingen seines Vorhabens emporzusenden, worauf er gestärkt und mutig dem ersehnten Ziele zuschritt. In einem kleinen unscheinbaren Hause, eine enge, dunkle Wendeltreppe hinangewiesen, pochte er an einer niederen Tür und trat schüchtern, wie in ein Heiligtum, in eine gewölbte Stube, deren Wände bis zur Decke hinauf dicht angefüllte Bücherstellen verbargen, während am Fensterpfeiler ein menschliches Skelett, in den Fensterbogen aber in großen Glasgefäßen Weingeist-Präparate und seltsame Instrumente von geheimnisvollem Aussehen aufgestellt waren. Ruggiero war kaum eingetreten, als der Vorhang, der die Stube von einem Nebengemache trennte, sich öffnete und Meister Falopia auf ihn zukam, ein Mann von einigen dreißig Jahren, aber schmächtigen, kränklichen Aussehens und vorwärtsgebückter Haltung, aus dessen dunklen Augen jedoch wie Sonnenschein der Lichtstrahl eines hellen, scharfen Geistes dem Fremden entgegenfunkelte. Er begrüßte Ruggiero, fragte nach seinem Begehr und hörte ruhig, unveränderter Miene, wie dieser erst verwirrt und verlegen, bald aber Mut fassend und ohne Rückhalt sein Herz ausschüttend, ihm seinen glühenden Wunsch: mit Kindersegen erfreut zu werden, eröffnete und sich seine Hilfe zur Erfüllung desselben erbat.


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