Friedrich Halm
Das Haus an der Veronabrücke
Friedrich Halm

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Messer Ruggiero Malgrati war der Sprößling eines der angesehensten Adelsgeschlechter der venetianischen Terra ferma, dessen bedeutende, meist in Friaul gelegene Güter, in ein Majorat vereinigt, dem Erstgeborenen zufielen, während die jüngeren Söhne sich mit geringen Jahrgeldern begnügen mußten. Ruggiero, der Zweitgeborene von drei Brüdern, die nach dem frühen Tode ihres Vaters unter der Vormundschaft einer kränklichen, in blinder Vorliebe für ihren Erstgeborenen eingenommenen Mutter heranwuchsen, hatten von frühester Kindheit an sich zwar gutmütig und selbst weichherzig, dagegen aber auch wild, unbändig heftig und störrisch bewiesen. Jede Beschränkung seines Willens erschien ihm als eine unerträgliche Last, deren er sich durch den äußersten Widerstand, oder wenn sein Starrsinn auf unüberwindliche Hindernisse stieß, durch Verschlagenheit und List um jeden Preis zu entledigen bemüht war. Dazu kamen noch Anfälle wunderlicher Launen und ein unbezwinglicher Trieb nach dem Seltsamen und Abenteuerlichen, Eigentümlichkeiten, die ihm bei den Hausgenossen den in Italien geläufigen Beinamen eines mezzo matto erwarben und in Verbindung mit der Ungunst seiner häuslichen Verhältnisse zuletzt dahin führten, daß Ruggiero nach einem heftigen Streite mit seinem älteren Bruder und der für ihn Partei nehmenden Mutter, kaum fünfzehnjährig, heimlich dem Vaterhause entlief. Nachdem er sich jahrelang, erst mit einer Zigeunerbande, dann mit fahrenden Schülern, dienstlosen Söldnern und zuletzt in den Gebirgstälern Piemonts unter den Waldensern herumgetrieben hatte, wurde er zufällig von einem Waffenbruder seines Vaters erkannt, dem Elend und völliger Verwilderung entrissen und zum Eintritt in eine in spanischem Solde stehende Freischar bewogen. Der Fahne treu, zu der er geschworen, und durch Mut, Gewandtheit und Todesverachtung sich bald zu einem der gefürchtetsten Streifparteiführer des spanischen Heeres emporschwingend, focht er die Schlachten bei Marignano und Pavia mit, wohnte der Eroberung Roms bei, nahm später, durch seinen abenteuerlichen Sinn in die neue Welt verlockt, an dem Siegeszuge Pizarros nach Peru, bald aber wieder nach Europa zurückgekehrt, an den Kriegsfahrten Karls V. gegen Algier und Tunis teil und diente zuletzt als einer der geschätztesten Hauptleute des Herzogs von Alba im spanischen Heere in den Niederlanden. Über sechzig Jahre alt und, obwohl ein Graukopf, noch rüstig und geistesfrisch, bestimmte ihn zuletzt eine in der Schlacht bei S. Quentin empfangene schwere Wunde um so mehr, den Kriegsdienst zu verlassen, als zur selben Zeit der Tod seines älteren, unvermählt gebliebenen Bruders ihn zur Übernahme der Familiengüter in die Heimat berief.

Dies war der Mann, der, nach dem Antritte seines Erbes und einem flüchtigen Besuche auf den ihm zugefallenen Besitzungen, Venedig einstweilen zu seinem Aufenthalte erwählend, nunmehr ein willkommener Mieter, das Haus an der Veronabrücke bezog, ohne daß jedoch dessen weite dunkle Räume eben viel an Geräusch und Bewegung gewonnen hätten. Abgesehen von den Nachwehen der Beschwerden seiner Kriegszüge, die ihm mit zunehmendem Alter immer peinlicher fühlbar wurden, war es vor allem das unbehagliche Gefühl völliger Untätigkeit nach einem so vielfach bewegten Leben, was ihn um so mehr verstimmte, als seine Jahre und die immer sorgfältigere Pflege, die seine zerhackten Glieder erheischten, ihn verhinderten, sonst gewohnten Zerstreuungen so rücksichtslos wie früher nachzugehen. Unschlüssig zwischen der bisherigen wüsten Hagestolzenwirtschaft, die er nicht mehr durchführen, und der Alltagsordnung eines bürgerlichen Haushaltes, an die er sich nicht gewöhnen konnte, hin und her schwankend, war er kränklich und grämlich geworden, und da ihm überdies die Übernahme des reichen, aber nicht eben wohlgeordneten Nachlasses seines Bruders viel Kopfzerbrechen verursachte, so wurde es ihm erst zur Erholung, allgemach aber zum Bedürfnis, ab und zu eine Stunde in der Gesellschaft Ambrosias, seines »Hausmütterchens« oder auch seines »Püppchens«, wie er die Tochter seines alten Freundes Angelo zu nennen pflegte, hinzubringen und von der sicheren, ernstheiteren Haltung des jungen Mädchens halb angezogen, halb zu Neckereien aller Art angeregt, Verdruß und Ärger sich wegzuplaudern. Dabei lernte er Ambrosias hohe Vorzüge, ihre stille Heiterkeit, ihren klaren Verstand, den frischen Lebensmut, mit dem sie in alle Schwierigkeiten ihrer Lage sich zu finden wußte, täglich mehr erkennen und schätzen, und wenn er bedachte, wie er ohne Freunde einsam und allein im Leben stehe, und eigentlich keine andere Aufgabe habe, als die Besitzungen seiner Familie nicht sowohl zu genießen, als vielmehr nur zu verwalten, um sie dereinst dem einzigen Verwandten, den er noch habe, seinem Neffen Anselmo zu vererben, so konnte er sich nicht verhehlen, um wieviel besser er daran wäre, wenn er, statt wie ein im Wirbelumschwung gedrehter Kreisel ziellos in der Welt umherzuirren, in jungen Jahren geheiratet, sich Haus und Heimat begründet hätte, und nun etwa eine gute, schöne, mit jedem Reiz der Jugend und Anmut geschmückte Tochter besäße, wie Ambrosia. Ja, wenn er den Fortbestand seines Hauses, der nur auf ihm und seinem Neffen Anselmo beruhte, in Erwägung zog und die schwächliche Gesundheit dieses letzteren ins Auge faßte, der von seinem jüngeren Bruder auf seinem Sterbebette ihm zur Obhut und Pflege übergeben, zu jener Zeit zu Udine bei einem Verwandten seiner Mutter erzogen wurde, aber, nach dem Zeugnis seiner Pflegeeltern mehr dem Grabe als jugendkräftiger Entwicklung entgegenreifte, so wollte es ihm zuzeiten beinahe als Pflicht erscheinen, selbst jetzt noch in seinem vorgerückten Alter in den Stand der Ehe zu treten, und wenigstens alles, was an ihm läge, aufzubieten, damit das edle Geschlecht der Malgrati nicht erlösche und ihr Besitztum nicht an die verhaßte Seitenlinie der Diedi falle.

So waren Monate hingegangen, die Messer Ruggiero nicht ohne wechselnde Gemütsbewegungen und rasche Übergänge von Mißmut zu derber Fröhlichkeit, von jähem Aufbrausen in wildem Zorn zu gedankenvollem Trübsinn hinbrachte, als eines Tages der Pfarrherr von Santa Maria Zobenigo, der bewährte Freund der Eltern und der Gewissensrat ihres verwaisten Kindes, in Ambrosias Stübchen trat. Nach einer weltläufigen und salbungsreichen Auseinandersetzung: wie der Mensch bei jedem wichtigen und erfolgreichen Schritte auf seinem Lebenspfade nicht sowohl weltliche Rücksichten und irdische Vorteile, als vielmehr zunächst und vor allem sein Seelenheil in Betracht zu ziehen und hiernach seine Beschlüsse zu fassen habe, eröffnete er dem befreundeten Mädchen, Messer Ruggiero Malgrati, ihr Mietsmann, habe in ehrbarer, fromm christlicher Absicht sein Auge auf sie geworfen und wünsche, wenn er anders auf ihre Zustimmung rechnen könne, bei ihrem Vormund um ihre Hand zu werben. Als Ambrosia aber auf diese unerwartete und fast märchenhaft klingende Nachricht zwar sichtlich überrascht, aber ohne alle Verwirrung emporblickte und ihre großen Augen verwundert und halb ungläubig auf den Pfarrherrn heftete, beeilte sich dieser zuletzt hinzuzusetzen, er habe den Auftrag, ihre Willensmeinung zu ergründen, nicht ohne den ausdrücklichen Vorbehalt übernommen, ihr gleichzeitig beides, sowohl was für, als was gegen den Antrag spreche, gewissenhaft und ausführlich darlegen zu dürfen. Hierauf begann er denn auch alsbald, Vorzüge und Mängel wie auf die zwei Schalen einer Wage verteilend, auf der einen Seite die hohe Geburt Malgratis, sein bedeutendes Vermögen, den Kriegsruhm, den er sich erworben, sein gerades, biederes Wesen und die ihm angeborene Gutmütigkeit hervorzuheben, auf der anderen aber auf die dem alten Kriegsmanne zur Gewohnheit gewordene Rauheit und Derbheit, auf die Ungleichheit seiner oft seltsam wunderlichen Launen, auf seinen furchtbaren Starrsinn, auf seine durch beschwerlichen Kriegsdienst und zahlreiche Wunden erschütterte Gesundheit, vor allem aber auf das vorgerückte Alter des Freiers hinzuweisen, welches letztere den gerechten Ansprüchen ihrer eigenen Jugend so wenig Befriedigung verheiße, daß eine übereilte Zusage in späteren Jahren ihrem Herzen gefährliche Kämpfe bereiten, ihren Ruf gefährden, ja sie um ihr Seelenheil bringen könne. Ambrosia, die dieser Erörterung, langsam eine Rose zerpflückend, mit gesenkten Blicken schweigend zuhörte, erhob bei dieser letzten Wendung zwar hocherrötend, aber nichts weniger als verlegen und betroffen, ihr Haupt und erwiderte dem Pfarrherrn, sie zähle zwar nur wenig Lebensjahre, aber was Jugend sei, habe sie bis jetzt noch nicht erfahren, begehre auch nicht es zu wissen, noch weniger die ihr von dieser Seite her zustehenden Ansprüche geltend zu machen; der Anspruch, den das Leben an uns alle stelle, heiße Pflichterfüllung, und diesem Anspruch hoffe sie zu jeder Zeit gerecht zu werden; sie werde daher weder jetzt noch jemals unüberlegt eine Verpflichtung eingehen, weshalb sie denn auch ihre Entschließung über Messer Ruggieros Antrag erst nach dreitägiger Bedenkzeit zu fassen, dann aber ihrem Freier unmittelbar selbst mitzuteilen gedenke, womit sie den Pfarrherrn, nachdem sie sich zur gewissenhaften Erwägung seiner Mitteilung seinen Segen erfleht hatte, entließ und sich in ihr Schlafgemach zurückzog.

Als Messer Ruggiero, der die anberaumten drei Tage in kaum geringerer Aufregung verlebt hatte, als den Abend vor seiner ersten Schlacht, am Morgen des vierten vor Ambrosia erschien, trat ihm diese errötend, aber heiter lächelnd entgegen, und nachdem er in seinem gewohnten Lehnstuhl verwirrt und verlegen Platz genommen und mit fast schüchterner Beklommenheit seine Werbung erneuert hatte, erwiderte sie, sie habe alle Freuden, die andere Mädchen in ihrem Alter genössen, entbehren müssen und sich ohne Klage, ja ohne alles Bedauern diesem Schicksale unterworfen, nur das eine habe sie nie verwinden können, daß sie nicht der Eltern letzte Lebenstage durch ihre Pflege versüßend, ihnen ein sorgloses, fröhliches Alter bereiten, und in dem Bewußtsein, zu ihrem Glücke beigetragen zu haben, ihr eigenes höchstes Lebensglück habe finden dürfen. Seine Werbung eröffne ihr die Aussicht, dies liebste Ziel ihrer Wünsche erreichen und was der frühzeitige Tod ihrer Eltern an ihnen zu üben sie verhindert, an ihm, dem alten Freunde ihres Hauses, verwirklichen zu können. Geld und Gut besitze sie nicht, die Blüte ihrer Jugend sei vergänglich, aber wenn er sie würdig erachte, als seine Hausfrau durch treue Teilnahme seine Freuden zu mehren, sein Leid zu mindern, sein Alter zu pflegen und zur Erheiterung seines Lebens beizutragen, so fühle sie sich durch seine Wahl nicht nur geehrt, sondern hochbeglückt, denn nur den achte sie für glücklich, der nützen, lieben, beglücken könne. Mit diesen Worten reichte sie Messer Ruggiero die kleine Hand, die dieser bis zu Tränen gerührt mit Begierde ergriff und mit tausend Küssen bedeckte. Nach dieser Erklärung fand sich alles übrige von selbst und ehe drei Wochen ins Land gingen, war Ambrosia die Gemahlin Messer Ruggieros, der sie auf den Händen trug, sie mit Geschenken aller Art überhäufte und in dem Widerschein ihrer Jugend sich selbst zu verjüngen schien. Dabei hatte er jedoch, sei es, daß er das Gespötte der Welt scheute, sei es, daß er sein junges Glück so recht für sich allein genießen wollte, gleich bei seiner Vermählung beschlossen, die nächsten Jahre auf seinen Gütern zu verleben, und so rückte denn für Ambrosia bald die Stunde heran, in der sie dem alten Hause an der Veronabrücke, das nun nach der Befriedigung der Gläubiger ihrer Eltern erst ganz ihr eigen war, den Rücken zukehren sollte. Am Tage der Abreise durchwandelte sie noch einmal die wohlbekannten, für sie mit so vielen traurigen Erinnerungen erfüllten Räume, und in die Gemächer des Erdgeschosses gelangt, in denen ihre Mutter ihre letzten Leidensstunden verlebt hatte, fühlte sie sich von solcher Rührung überwältigt, daß sie nahe daran war, dem sie zärtlich besorgt in seine Arme schließenden Gatten das Geheimnis des verborgenen Ganges und des Verderbens, das er über ihre Lieben gebracht, mitzuteilen. Allein das Bedenken: ohne Not zu offenbaren, was sie einen Fehltritt ihrer Mutter nennen mußte, hielt sie davon ab, und Ruggiero, begierig den für Ambrosia so schmerzlichen Abschied von ihrem Vaterhause möglichst abzukürzen, zog sie hastig zu der Gondel fort, die mit vier Ruderern bemannt, sie raschen Fluges die Lagunen entlang nach Westen hinübertrug.

Es waren schöne, ungetrübt heitere Tage, die Messer Ruggiero damals auf seinem fürstlichen Landsitze an der Seite seiner jungen, blühenden Gemahlin im Vollgenuß und im Vollbewußtsein seines Glückes verlebte. Auch konnte es nicht fehlen, daß der Reiz und die Anmut Ambrosias, die heitere Würde ihrer Haltung, die ihrem Gatten das zwischen ihnen bestehende Mißverhältnis der Jahre niemals fühlbar werden ließ, daß vor allem die Hoheit ihres Geistes und die sanfte Milde ihres innersten Wesens einen äußerst wohltätigen Einfluß auf Ruggieros Gemüt ausübten; allein auch Ambrosia gewann mit jedem Tage mehr Neigung und Vertrauen zu ihrem greisen Gemahl, und wenn sie für ihn auch nie eine Neigung leidenschaftlicher Hingebung empfand, die überhaupt ihrem Wesen ganz fremd zu sein schien, so vergoldete sie doch seine Herbsttage mit dem milden Sonnenschein der ehrfurchtsvollen Zärtlichkeit einer Tochter und umgab sein graues Haupt mit allen Beweisen der aufopfernden Fürsorge und Treue einer Schwester. Die Hoffnung auf Kindersegen war in dieser ungleichen Ehe zwar unerfüllt geblieben; allein ihre Erfüllung erschien für die Fortpflanzung des edlen Stammes der Malgrati nicht mehr so unerläßlich, als dies noch vor kurzem der Fall gewesen, indem Anselmo, der kränkliche und scheinbar hoffnungslos hinwelkende Neffe Ruggieros, binnen Jahresfrist zu einem frischen, derben Burschen aufgeschossen war und in Fülle der Gesundheit und Kraft der Fortsetzung seiner Studien auf der Hochschule zu Padua oblag. So trübte von keiner Seite her auch nur ein Wölkchen die tiefinnere Befriedigung, in der Ruggiero seine Tage verlebte, und die, wie er selbst dankbar gestand, bei weitem alles übertreffend, was er bisher so genannt hatte, ihm keinen Wunsch, nur die Frage an das Schicksal übrig ließ: ob ein so reiches Glück auch Dauer und Bestand haben werde? eine Frage, die nur zu bald verneinend beantwortet werden sollte.


 << zurück weiter >>