Ida Gräfin Hahn-Hahn
Maria Regina. Erster Band
Ida Gräfin Hahn-Hahn

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Im Kristallpalast.

Im Sommer des Jahres 1851 machte Europa eine Wallfahrt zum Tempel der Göttin, die sich mit einer bis dahin unerhörten Geschmeidigkeit, Tätigkeit und Umsicht des ganzen Räderwerkes der revolutionsmüden Welt bemächtigte: der Göttin Industrie. Eine Ausstellung ihrer Erzeugnisse, auf dem ganzen civilisterten Erdball eingesammelt, fand in London statt, in dem eigens dazu erbauten Lokal, das sich unter den herrlichen Eichen und auf der grünen Wiesenflur von Hyde-Park wie ein Feenschloß im Märchen – aus Glas erhob. Die französische Republik lag in den letzten Zügen, ganz bereit, wie fünfzig Jahre zuvor, von einem zweiten Diktator sich in eine Knechtschaft bringen zu lassen, gegen welche die beiden letzten, durch Erneuten gestürzten Regierungen Frankreichs im hellsten Lichte der Freiheit aufleuchteten; ein Schicksal, das übrigens, wie die Weltgeschichte lehrt, nicht die französischen Republiksversuche allein, sondern alle diejenigen haben, die sich auf den Ruinen einer anderen durch Gewalt und Willkür zerstörten Regierungsform erheben. Der demokratische Geist, auf dem die moderne Republik beruhen soll, hat in sich etwas Zersetzendes und Zersplitterndes, weil jedes Individuum zum Mitherrscher in der äußeren Welt berufen wird. Er muß also mit hoher Tugend gepaart sein, um der Masse von Individuen die Charakterstärke und die sittliche Reinheit zu geben, welche jeden einzelnen über die Klippe des Wahnes und des Wunsches hinwegheben, Alleinherrscher zu sein oder zu werden. In unseren alten monarchischen – jetzt leider! vielfach bureaukratischen Staaten, in denen sich der demokratische Geist aber nur als Gegensatz zu denselben, ja eigentlich nur als Gegensatz zu ihren Schattenseiten entwickelt, mangelt ihm jede hohe, einfache Tugend, welche notwendig wäre, um seinen Deklamationen gegen Mißbräuche, Übergriffe und Untaten der Monarchien einige Würde zu verleihen und um seine belebten Worte von Volksbeglückung und Volksbildung in Taten zu verwandeln. In Europa hat er sich als unfähig zu dieser Aufgabe erwiesen, hat überall, wo er revolutionierend die Oberhand gewann, in England, in Frankreich, in Deutschland, die Völker in Verwirrung, Entsittlichung und Elend gestürzt; und hat sie zuletzt, stumpf und morsch, der Diktatur eines Cromwell, zweier Bonaparte's überliefert. Daß es in Deutschland nicht zu etwas Ähnlichem kam, hat man wahrlich dem demokratischen Geist nicht zu danken. Da nun dessen glänzendstes Produkt, die französische Republik, im Absterben begriffen war, so verschwand die Hydra Revolution mit ihren tausend Köpfen – aber nur aus der Öffentlichkeit, und nur auf dem Kontinent. In England und in Amerika züngelten und zischten die Schlangenzungen dieser tausend Köpfe nach wie vor in giftiger Frechheit; da man aber keine Barrikaden und keine beblousten Freiheitshelden unmittelbar vor Augen hatte, und einen in Revolutionsschwindel und Atheismus verkommenen Teil der Schweiz als zu gering für Ausbreitung giftiger geistiger Miasmen betrachtet, so frohlockte man in Europa, und mit einer Art von gieriger Wut warf man sich darauf, »die Segnungen des Friedens« auszubeuten und herauszustreichen. Diese Segnungen bestanden vorzugsweise in einem ungeheueren Aufschwung der Industrie, welcher durch die Ausstellung im Kristallpalast zu London eine Art von europäischer Bürgerkrone aufgesetzt wurde. So etwas hatte die Welt noch nicht erlebt: aus allen Himmelsgegenden über Land und Meer zu reisen, um allerhand Fabrikat in geschmackvoller Aufstellung anzusehen. Eine Art von Völkerwanderung begab sich auf den Zug nach London. Was jeder heimbrachte, war die Erinnerung an einen fabelhaft bunten Wust, aus dem, wie ein Wrack aus dem Weltmeer, irgend ein Lieblingsgegenstand auftauchte.

Wer sich eifrig an dieser Völkerwanderung beteiligte, war Graf Windeck. Im Grunde war ihm alles Fabrik-, Industrie- und Spekulationswesen äußerst gleichgültig, ja zuwider. Er hatte eine entschiedene Abneigung gegen alle Emporkömmlinge durch Reichtum, weil er in ihrer Stellung und ihren Verhältnissen keine Garantie des konservativen Elementes fand. Wer so plötzlich reich wurde, nur durch geschickte Benutzung günstiger Zeitumstände, könne durch deren Ungunst auch einmal ebenso plötzlich arm werden, und befände sich in einem beständigen Schaukelzustand, nie in einem zuverlässigen und stabilen, und zu einem solchen könne er kein Vertrauen haben – pflegte er zu sagen. Zu jeder anderen Zeit hätte er sich ungemein gewundert, daß man sich mit einer Industrie-Ausstellung so enorme Mühe gebe und so viel Geld und Teilnahme an sie verschwende; allein gegenwärtig erschien sie auch ihm als eine Blüte der Segnungen des Friedens, ja als deren Besiegelung; denn wie mußte sich eine Industrie, die es dahin gebracht hatte, im märchenhaften Kristallpalast überköniglich zu thronen – gegen die Erneute zur Wehr setzen, deren brutale Erdstöße ihre Feenbehausung samt ihrer Tätigkeit in Grund und Boden krachen würden.

»Das Ungeheuer Industrie,« hatte er im Frühling zu den Seinen gesagt, »hält das Ungeheuer rote Republik im Zaum. Ein Monstrum besiegt das andere! Wir wollen uns das siegende betrachten und nach England gehen,.« –

Die Verhältnisse in der Familie waren unverändert geblieben; auch die Gesinnungen. Regina war schöner denn je, denn es legte sich über ihre liebliche und edle Erscheinung ein Schmelz der Wehmut, wie sie aus einer tiefen ungestillten Sehnsucht, die nie in Klage ausbricht und nie von schmerzlicher Unruhe sich bewegen läßt – unwillkürlich entspringt; ein Nachtviolenduft der Seele, der dem Glanz der Schönheit einen unvergleichlichen Zauber gab. Neben ihr war Corona zu einem reizenden jungen Mädchen aufgeblüht, mit ein paar Augen so tief und so dunkel, wie das nächtliche Meer, das über ungeahnten Geheimnissen geheimnisvoll aufleuchtet. Corona war nicht mehr das spielende, allem Ernst abholde Kind, das einst ein Ordensgewand sogar als Maskenkleid mit Furcht und Abneigung betrachtete. Sie verstand jedes ernste Streben und jeden höheren Aufschwung, aber sie war nicht, wie Regina, durch und durch von einer weltentfremdeten Sehnsucht ergriffen, sondern sie wünschte ein Stückchen Welt in ihrem Herzen himmelwärts zu heben, oder ein Stückchen Himmel in die Welt zu verpflanzen; sie wußte selbst nicht recht wie! sie war eben sechszehn Jahre alt! und war als die Jüngste – auch der verzogene Liebling der ganzen Familie. Der Graf adorierte sie, als sie sich so schön und anmutig entwickelte. In Regina war ein Etwas, das ihm unwillkürlich einen gewissen Respekt einflößte, über den er sich im Stillen ärgerte. Überdies gab es Punkte, von denen sie, trotz aller Unterwürfigkeit, nicht abging; sie hatte nicht Coronas unbedingte Fügsamkeit.

Orest war im Kriegsdienst geblieben. Uriel hatte denselben nach Beendigung des lombardischen Krieges verlassen und war wieder in die diplomatische Laufbahn getreten, aber nicht nach Frankfurt zurückgekehrt. Die furchtbaren Ereignisse der Zeit, die bitteren Erfahrungen, an denen sie so überreich war, die Kriegs- und Schlachtenbilder, angeschaut in nächster Nähe und in voller Herbe – die auch den glorreichsten Siegen nicht fehlt; die Ungewißheit des eigenen Daseins und der eigenen Zukunft: alles stimmte ihn ernst, und er nahm sich vor, seine Tage nicht in träumerischer Anhänglichkeit an Liebesgedanken zu verschwenden, durch welche Regina nun einmal nicht zu gewinnen sei. Er war eine Zeit lang in London, dann in Wien, dann in Florenz. Dazwischen kam er aber immer wieder nach dem lieben heimatlichen Windeck, und wie bunt, bewegt und regsam sich auch die Welt mit ihren blendenden Farben, bestechenden Erscheinungen, interessanten Fragen und gewichtigen Tatsachen vor ihm entfalten und ihn zur Teilnahme auffordern mochte: Eines war gewiß – sein Herz blieb an Regina gefesselt, seine ganze Zukunft hatte nur insofern Reiz für ihn, als er hoffte, sie mit Regina zu teilen, und so oft er sie wiedersah, umso fester stand es in ihm, daß er ihresgleichen nicht in der Welt gefunden habe. Aber er schwieg und bat auch den Grafen zu schweigen, der jedesmal, wenn Uriel kam, Regina mit Vorstellungen zu bestürmen dachte, um sie zu einer günstigen Entscheidung hinzudrängen. Regina wußte ihm innigen Dank für diese Schonung, allein ihr Herz lag auf der Folter durch die Peinlichkeit dieses Verhältnisses. Sie wechselten in drei Jahren kein Wort, welches darauf Bezug hatte. Da – kurz vor Uriels Abreise von Windeck, als er zufällig allein mit ihr auf der Terrasse auf- und niederging – da blieb sie stehen, sah ihn sanft und ernst an und sagte mit ihrem innigen Sprachton:

»Uriel, Du kennst mich! Du kannst Dich verlassen auf mein Wort und Du weißt es. Nun wohlan, lieber Uriel: Warte nicht!«

»O Regina,« entgegnete Uriel ebenso sanft und ebenso bestimmt als sie, »von den festgesetzten zehn Jahren ist noch nicht die Hälfte verflossen und Du wirst schon ungeduldig, während ich geduldig warte! Wir sind noch lange nicht bei der letzten Entscheidung!«

Mit einem Ausdruck von unaussprechlichem Schmerz schloß Regina eine kleine Weile ihre Augen, als wolle sie vor Uriel verschleiern, wie weh er ihr tue; dann sagte sie gefaßt:

»Gottes Wille geschehe.«

»Ist er Dir noch immer nicht klar?« fragte er.

»Mir – vollkommen; aber leider nicht Dir,« sagte sie und setzte rasch hinzu mit einem schmerzlichen Lächeln: »Wie traurig, daß wir beide solche eigensinnige Köpfe haben, und wie gut Gott ist, sie gründlich zu brechen.«

Uriel war nicht so lebhaft von dieser Güte Gottes durchdrungen, Die Hauptabsicht Gottes in der Lenkung der Schicksale: die Erziehung des Menschen für das ewige Leben, entschwand sehr oft seinem inneren Auge. Für Regina war sie immer ganz klar, wie die Feuersäule, welche dem nächtlichen Zuge der Kinder Israels durch die Wüste vorleuchtete. –

Baron Stamberg war früher aus diesem Leben abgerufen, als seine Frau. Während sie sich von ihrem Schlaganfall erholte, begann er zu kränkeln, und vermochte sich nicht aufzureißen aus seinem Kummer über die verlorenen Jagdrechte. Die Tiefe der Ungerechtigkeit, welche einer solchen Maßregel zum Grunde lag, war es nicht, die ihn so heftig erschütterte, nur sein persönlicher Verlust. Er hatte sich während seines Lebens nie über die niedrigste Stufe der Selbstsucht erhoben und so starb er auch auf ihr. Die Baronin, immer kalten Herzens – und noch kälter durch das höhere Alter das nur dem himmelwärts gewendeten Sinn himmlische Innigkeit verleiht, aber die irdische absterben läßt – war höchst gefaßt bei diesem Ereignis und blieb nur ihrer alten Gewohnheit treu, sich als eine Verfolgte des Schicksals zu betrachten und zu beklagen. Indessen kam doch auch an sie die Mahnung, daß jedes Leben zu Ende gehe. Sie erkrankte an einem abzehrenden Leiden. Nun war Regina nicht länger zu halten. Sie bat ihren Vater so flehentlich und so wiederholt, die Pflege der Großmama übernehmen zu dürfen und stellte es ihm als eine so heilige Pflicht vor, daß er endlich einwilligen und sie nach Stamberg bringen mußte. Zum Glück konnte Corona jetzt vollkommen ihren Platz in Windeck ausfüllen, am Piano, am Billard, am Teetisch, bei dem Spazierritt; sonst hätte der Graf schwerlich dies Opfer gebracht. Was es Regina koste, sich von der lieben Kapelle zu trennen und am einsamen Krankenbett auf alle Tröstungen zu verzichten, die für die gläubige Seele aus der Nähe des Sanktissimums strömen – das ahnte der gute Graf freilich nicht. Er sagte zu Levin:

»Es ist merkwürdig, was das Mädchen für eine Passion hat, sich zu opfern! Was ihr schwer wird – gerade das sucht sie sich aus! Ich bezweifle sehr, daß die gute Mama ihr diesen Liebesbeweis danken wird.«

»Ich auch,« entgegnete Levin, »aber desto besser ist's für Regina. Es gibt noch immer Seelen hienieden, die das tun, was einst die heilige Katharina von Siena tat: als der göttliche Heiland ihr zur Auswahl einen Blumenkranz und eine Dornenkrone darbot, nahm sie die letztere, weil sie sicher war, unter den Dornen ihren gekreuzigten Gott zu finden – unter den Blumen nicht. Zu diesen Seelen gehört durch Gottes Gnade auch Regina.«

»Ja, es muß wohl Gottes Gnade und Ihr Beispiel sein, lieber Onkel! Ich muß mir das Zeugnis geben, nichts getan zu haben, wodurch Regina in die Nachfolge der Heiligen hatte geraten können,« sagte der Graf ehrlich.

»Es beweist zugleich, wie ernst und fest sie an ihrem Klosterberuf und Gelübde hält,« sagte Levin.

»Glauben Sie wirklich?« rief der Graf beängstigt. »Sie macht nie die leiseste Andeutung, und so hab' ich gehofft, die Sache werde allmählig einschlafen.«

»Regina – und einschlafen!« rief Levin. »Lieber Damian, kennst Du so wenig das kräftige Herz Deiner Tochter? Glaubst Du so wenig an die Gnadenwirkung in einer Seele, die nach Gott verlangt? Das ist richtig: sie schweigt. Aber was sollte sie auch noch weiter sagen? sie hat uns ja alles gesagt – und dabei bleibt sie. Ich habe die Überzeugung, daß Regina nicht »abfällt von ihrer ersten Liebe« – und daß diese Liebe die erste und die letzte und die einzige bleiben wird.«

»Entsetzliche Vorstellung!« seufzte der Graf; »und aufrichtig gestanden – es ist auch die meine! ich suche sie nur immer zu unterdrücken. Bemerkten Sie wohl, wie ihre Augen aufleuchteten, als kürzlich von Kloster Himmelspforten bei Würzburg gesprochen wurde, das früher aufgehoben und in eine gemeine Schenkwirtschaft verwandelt – nunmehr aber von einer Ordensgenossenschaft angekauft und ein Kloster von Karmelitessen sei? Wenn diese Illumination in ihre Augen tritt, dann hat sie eine grenzenlose innere Freude – das kenne ich an ihr! Gewiß hofft sie als Karmelitesse durch Himmelspforten in den Himmel einzuziehen.«

»Es ist mir sehr lieb, daß Du anfängst, Dich mit diesem Gedanken vertraut zu machen,« entgegnete Levin.

»Ja, wenn Uriel sich nur statt in Regina – in Corona verlieben wollte,« versetzte der Graf, »so würde ich mich allenfalls darin ergeben! Aber er ist leider! gar kein Mensch mit einem beweglichen Herzen.«

»Welch Unglück Du mit Deinen Kindern hast!« sagte Levin mit gutmütigem Spott. –

Regina richtete sich einstweilen auf Starnberg ein und wurde von der Baronin, die ihr Zimmer nicht mehr verlassen konnte, freundlicher behandelt, als man es zu Windeck erwartete. Nicht als ob der Liebesbeweis sie rühre; sondern weil sie sehr bald in Regina eine Eigenschaft erkannte, die sie höher als jede andere schätzte: Regina war im Stande, die Führung der Geschäfte unter ihrer Leitung zu übernehmen, Geschäftsbriefe zu schreiben, Rechnungen durchzusehen, Kostenüberschläge nachzurechnen und die Ordnung des Hauses geradeso aufrecht zu halten, wie die Baronin es seit fünfzig Jahren zu Windeck erst und dann zu Stamberg getan hatte. Da Regina immer ganz bei ihrer Pflichterfüllung war, in welcher sie den Willen Gottes freudig erkannte und vollzog, so war sie aufmerksam bei den Anweisungen, welche die Großmama ihr gab und äußerst pünktlich in deren Vollziehung, so daß die Baronin ihr jedesmal glänzendes Lob spendete, wenn der Graf bald allein, bald mit Corona und der Baronin Isabelle nach Stamberg kam. Hatte Regina aber gehofft, durch ihre Liebe und Ergebenheit die Großmutter zum Urquell aller Liebe – zu Gott hinzuweisen, so irrte sie sich gründlich. Das religiöse Leben hatte bei derselben während siebenzig Jahren unter dem Gefrierpunkt gestanden; sie hatte zu keiner Zeit, nicht in der Kindheit, nicht in der Jugend, nicht in guten und nicht in schlimmen Tagen die beseligenden Lehren des Christentums, die Wonne der Erlösung, die Gnaden der Sakramente in sich aufgenommen, sondern stets auf ein fremdes kühles Wissen vom Christentum sich beschränkt und mit großer Selbstgefälligkeit darin ein Genügen gefunden. Überdies war sie immer höchst tugendhaft gewesen, nämlich so, wie die Welt es versteht. Der heilige Gregor von Ryssa, welcher sagt: »Tugend ist die praktische Liebe zu Gott« – würde vermutlich Julianens Tugend minder hoch geschätzt haben, als sie selbst es tat. Aber von den Heiligen, deren Leben und Lehren die Ausübung des Evangeliums sind, wußte Juliane nichts; sie begnügte sich mit ihren Ideen von Gott und Unsterblichkeit und erwähnte zuweilen mit einer bei ihr höchst seltenen Anwandlung von Ehrfurcht zweier Schriftsteller, aus denen sie hauptsächlich jene Ideen geschöpft habe: das waren Herder und Jean Paul. Sie vertraute sogar Reginen an, daß sie, obzwar eine abgesagte Feindin aller Schwärmerei, dennoch ein wenig für Jean Pauls Romane geschwärmt habe und bis zur Stunde nichts Rührenderes und Ergreifenderes kenne, als in dessen »Hesperus« Lord Horions Grabschrift. Regina fragte ganz erwartungsvoll, wie diese laute? Juliane erwiderte:

»Eine weiße Marmortafel mit einem blutroten Herzen in der Mitte bildete den Grabstein, und unter dem Herzen standen nur die zwei Worte »Es ruht.«

»Ich würde es noch schöner finden, liebe Großmama,« sagte Regina, »wenn zwei Worte hinzukämen und wenn es hieße: »Es ruht in Gott.«

»Nein,« entgegnete die Baronin, »gerade dieser Ausdruck der vollkommenen Einsamkeit in stiller Grabesruhe ist erhaben. Aber freilich! das verstehen nur wenige! Ich erzählte dies einmal meinem seligen Mann, Deinem Großvater, und er gab mir lachend zur Antwort: »Ich wünsche nicht ein solches Coer-Aß als Grabstein zu haben.«

Regina schwieg; aber heimlich stimmte sie dem Großvater bei. Fünf Monate brachte sie auf Stamberg und im Krankenzimmer zu, ohne andere Erholung als die, jeden Sonntag Morgen zum Gottesdienst nach der nächsten katholischen Kirche zu fahren und sich dort durch den Empfang der heiligen Sakramente der Buße und des Altars zu stärken. Dann schied die Baronin vom Leben und verhauchte still ihre letzten Atemzüge in Reginas Armen. Hätte Regina nicht ihrem brechenden Auge das Kruzifix vorgehalten und nicht die Gebete der Sterbenden neben ihr gebetet: so würde niemand geahnt haben, daß dies das Sterbelager einer Christin sei.

Der Graf war in höchster Spannung wegen des Testamentes seiner Mutter und in grenzenloser Überraschung, als es geöffnet wurde. Es war in den letzten Monaten und zwar zu Gunsten Uriels gemacht. Warum Orest nicht Universalerbe – wie das früher ihre Absicht war; ob sie ein anderes Testament vernichtet hatte; ob sie ihr Vermögen Reginen zuwenden wollte und in der Voraussetzung, daß diese Uriel heiraten werde, es ihm vermachte; ob sie nur bis zuletzt zeigen wollte, sie sei unumschränkte Herrin ihres Vermögens: das alles blieben Fragen ohne Antwort, und nur die Tatsache bestand: Uriel war Herr auf Stamberg.

Dies trug sich im Frühling zu, und im Sommer ging Graf Windeck mit seinen Töchtern nach England. Er fand Zerstreuung und veränderte Luft ganz notwendig für Regina. Der Anhauch von zarter Schwermut, der sich wie ein leichter Schleier über ihre Schönheit legte, erschien ihm als Kränklichkeit, als Nervenschwäche. Aber Regina sagte zu Levin:

»Lieber Onkel, ich bin nicht krank und fünf Wintermonate an einem teuren Kranken- und Sterbebett erschüttern meine Nerven nicht. Allein dies Leben und dies Scheiden vom Leben in tiefer Gottentfremdung, wie ich es bei meiner armen Großmutter vor Augen hatte – sieh! das hat mir Herzweh gemacht.«

Levin war immer bemüht, Regina in der Tugend der Heiligen, in der Demut, zu, üben und lächelnd fragte er:

»Ah, Du hofftest wohl, Deine arme Großmutter im Laufe einiger Monate für die katholische Wahrheit zu gewinnen? O mein liebes Kind, soll Dir so etwas gelingen, so lerne zuvor leiden. Wer Seelen retten will, vereinige sich mit Christus in seinem Martertum für die Seelen und teile mit ihm – wenn nicht die blutige Passion auf dem Kalvarienberge, so doch die stille Passion des Herzens am Oelberg. Du mußt mystischerweise in Dein Herzblut Deine Gebete für Seelen eintauchen, wenn Gott sie erhören soll. Wie unaussprechlich haben die Heiligen, die große und zahlreiche Bekehrungen bewirkten, unausgesetzt gelitten! Ihre Liebe und ihre Vollkommenheit haben wir nicht; umso mehr wollen wir uns bemühen, ihnen im Leiden ähnlich zu werden. Du hast Herzweh um Deine arme Großmutter? O Kind, das glaub' ich Dir! aber das Leiden darf kein Zustand – es muß eine Tugend sein, indem Liebe zum Leiden es zum Opfer macht und die Seele in ein tägliches Holocaust verwandelt.«

Mit einem Ausbruch der tiefsten Sehnsucht rief Regina:

»Ist es nicht auch vermessen, lieber Onkel, wenn ich beteure: das – gerade das, nur das begehre ich!«

»Nun, wenn Du das wirklich begehrst – das kannst Du haben, unter allen Verhältnissen und zu jeder Stunde,« entgegnete Levin.

»Aber so recht doch erst unter dem strikten Gehorsam des Ordenslebens, das zu jeder Stunde den eigenen Willen, die eigenen Absichten, die eigenen Wünsche abtötet.«

»Ich sage nicht Nein; aber ich sage: zur vollkommenen Hingebung an den Willen Gottes brauchst Du das Ordensleben nicht. Dieses übt die Hingebung auf einer höheren Stufe des inneren Lebens, weil es nach den evangelischen Räten geordnet ist. Übe Du Dich einstweilen in der Hingebung Deines Willens, die auf den Geboten Gottes ruht; dann machst Du Dich vielleicht der Gnade würdig, jene höhere Stufe betreten zu dürfen.« –

Auch ihn hatte Julianens Tod sehr ergriffen. Sie war seine Zeitgenossin, wenig älter als er; viele Jahre – und vielleicht die schmerzlichsten seines Lebens, hatte er neben ihr auf Windeck verlebt und tief die Lähmung empfunden, die von ihr ausging und auf der höheren Entwicklung ihres Mannes und ihrer Söhne lastete. Aber immer hatte er es als seine Schuld, als ein Zeichen seiner Unvollkommenheit betrachtet, daß das wundervolle Licht des katholischen Glaubens, mit dem Juliane in so häufige Berührung kam, ihr dennoch verschleiert blieb. Er wendete auf sich selbst an, was der heilige Karl Borromäus einst zu seinen Provinzialbischöfen auf einer Synode sagte: »Möchte das göttliche »Licht, das in dem Herzen der Bischöfe leuchtet, nie »verdunkelt werden von der Finsternis ihrer sündigen »Natur.« Das gilt für uns alle, dachte er bei sich selbst; das göttliche Licht und die göttliche Liebe sind ja immer bereit, unser Herz zu entzünden; doch jenes stirbt in der Finsternis – und diese in der Kälte unserer sündigen Natur – und da Juliane sie nicht in mir, dem Priester, aufstrahlen sieht, so müssen sie ihr freilich verborgen bleiben. Alles wurde ihm ein willkommener Anlaß, um sich zu verdemütigen. Nun war sie tot, die arme Juliane! nun war sie eingetreten in die Welt, die von der ewigen Wahrheit schleierlos durchleuchtet wird! War diese ihr aufgegangen als ein sengender Blitzstrahl oder als eine überirdische Sonne? – –

Niemand war im ersten Augenblick so betroffen und im zweiten so gefaßt über Julianens Testament, als der, den es am meisten anging: Orest. Er hatte sich von Kindheit auf daran gewöhnt, sich als den künftigen Herrn auf Stamberg zu betrachten; plötzlich war das vorbei! eine sehr unangenehme Überraschung allerdings; doch nicht heftig genug, um ihn aus seinem Gleichgewicht zu bringen. Mit der größten Gemütsruhe beschloß er auf der Stelle, seinen Etat, den er im Hinblick auf die glänzende Erbschaft gemacht hatte, nicht im geringsten zu beschränken und Uriel dafür sorgen zu lassen, daß er denselben durchführen könne. Orest war ganz der Alte: der Ausdruck des genußsüchtigen Egoismus. Da aber kein Mensch unverrückbar auf einer und derselben Stelle in seiner Richtung stehen bleibt, sondern entweder mit starker Willensfreiheit aufwärts geht, oder sich von den Windstößen der Neigungen, der Leidenschaften, der Triebe beherrschen läßt und unter ihrem Einfluß mehr und mehr abwärts sinkt: so hatten sich denn auch in Orest die Grundzüge seines Charakters und seiner Richtung beträchtlich entfaltet und ihn nicht aufwärts geführt. Sein Losungswort hieß: Lebensgenuß, der ununterbrochen angeregt und ebenfalls ununterbrochen befriedigt werden mußte. Wie er sich das Herz verwüstete und den Kopf verödete, wie alle höheren Fähigkeiten seiner Seele nach und nach, aus Mangel an Nahrung absterben, aus Mangel an Übung Verkommen mußten, das wurde er nicht gewahr, weil sein Leben sich eben auf der sinnlichen Oberfläche, nicht in der sittlichen Tiefe bewegte. In den lombardischen und ungarischen Feldzügen war er der bravste, unermüdlichste Soldat gewesen, immer munter, immer herzhaft, pünktlich im Dienst, tapfer in der Schlacht, kühn in der Gefahr. Er wurde auch sehr bald Rittmeister; seine Chefs hatten ihn gern, seine Mannschaft liebte ihn. Dies war Orests glänzende Seite. Das kriegerische Leben mit seiner Gefahr, seiner Mühseligkeit, seiner Anstrengung, seiner Beweglichkeit – war das Element, in welchem sich Orest mit Wonne bewegte; da fühlte er sich immer angeregt und immer beschäftigt; da konnte er entbehren und sogar großmütig sein, für andere sorgen, denken, wachen, denn dies war eben die Richtung und die Gabe seiner Natur. Aber über seine natürlichen Anlagen reichte seine gute Seite nicht hinaus. Da, wo jene aufhörten, hörten seine Vorzüge auf. Unter blutigen Wunden gegen den Feind kämpfen – mit Freuden! Kanonendonner, Waffengeklirr, Pulverdampf, wehende Fahnen, Hörnersignale, Trommelgerassel, das unnennbare betäubende Getöse der Schlacht versetzte ihn in eine, Art von Jubelrausch. Aber die geringste Selbstüberwindung auf sittlichem Gebiete, der leiseste Kampf gegen die Laune und die Stimmung des Augenblickes – nein! das war zu viel! das durfte man ihm nicht zumuten!

Nach beendigten Feldzügen kam sein Regiment nach Mailand, Er war außerordentlich mit dieser Garnison zufrieden: herrliche Oper, zahlreiches corps de ballet, die ganze lombardische Ebene, um ein paar Dutzend Pferde darauf tot zu jagen, und die Tiroler Alpen nahe genug, um im Sommer den Urlaub für die Gemsjagd zu benutzen. Was brauchte er mehr? – Geld vollauf – das verstand sich von selbst! daran hatte es Graf Damian bis jetzt nicht fehlen lassen – nur reichte es immer noch nicht für Orests allernotwendigste Bedürfnisse, wie er behauptete, aus. Machte Uriel jetzt die Zuschüsse, woran er keinen Augenblick zweifelte, so lag ihm nichts an dem Besitz des einsamen Schlosses im Odenwald; denn ein solcher Besitz zieht gewisse Verpflichtungen nach sich und Verpflichtungen setzen Schranken. Orest aber wollte keine anderen gelten lassen, als Barrieren – und diese nur, um beim Wettrennen oder auf der Steeple chase über sie hinwegzusetzen.

Er kam nach Windeck, um sich mit der neuen Ordnung der Dinge bekannt zu machen und um seine Verhältnisse durch Uriel regulieren zu lassen; nebenbei auch, um all' die Seinen einmal wiederzusehen, denn Uriel war auch dort eingetroffen, bevor er seinen Wohnsitz auf Stamberg nahm. Hätte Uriel die Aussicht gehabt, Regina als Herrin dort einzuführen, so wäre er sehr glücklich gewesen. Ihm sagte das Landleben mit seinen ruhigen Beschäftigungen und mit dem abgeschlossenen Kreise seiner Wirksamkeit zu. Der Reiz der Neuheit, den die große Welt für die Jugend hat, war ihm schnell entflohen, weil er mehr begehrte, als sie geben kann – vielleicht auch deshalb, weil seine Liebe für Regina ihn zu ausschließlich einnahm, um ihn von anderer Seite dauernd befriedigende Eindrücke zukommen zu lassen. So lange es Krieg gab, war er gern Soldat gewesen; aber nicht, wie Orest, um Soldat zu sein, sondern um unter Österreichs Fahnen für Recht und Ehre gegen die Revolution zu kämpfen. In die diplomatische Laufbahn trat er, wie überhaupt seine Standesgenossen, um durch sie in die Gesellschaft eingeführt zu werden und in dem jugendlichen Wahn, Einblick und Einfluß in die Geschicke der Völker und Staaten zu erhalten; ein Wahn, der allerdings nur durch die Unerfahrenheit der Jugend erzeugt und entschuldigt werden kann, da in unseren Tagen, die freilich überall einen traurigen Mangel an Genie kund geben, kaum eines seltener ist, als das diplomatische Genie – und da die Depeschenschreiberei in's bureaukratische Fach gehört, von welchem die Gestaltung der großen Weltverhältnisse nun einmal nicht ausgeht. Uriel war hierüber auch bereits so vollkommen im Klaren, daß er ganz gern seine diplomatische Karriere aufgab, als das Testament seiner Großmutter ihm Erbe und Herrschaft zuwendete. Orest's Wünschen entsprach er bereitwillig und großmütig; nur bat er ihn, bei dem Festgesetzten zu bleiben, und Orest, dem ein Versprechen gar nichts lastete, weil er sich immer fest vornahm, es zu halten – so lange es eben möglich sei, versprach es froh. Es herrschte die größte Eintracht unter den Brüdern, denn Hyazinth war mit seinem Pflichtteil vollkommen zufrieden.

»Und er kann es auch sein!« sagte der Graf; »seine persönlichen Bedürfnisse sind unglaublich gering, und hat er sich ein paar Bücher angeschafft, so wandert sein Geld zu den Armen.«

»Das meine auch, nur im größeren Maßstab,« versicherte Orest.

»Das hätte ich Dir nicht zugetraut,« sagte der Graf.

»Wie!« rief Orest, »sind Schuster, Schneider und Handschuhmacher, sind Traiteur, Cigarrenfabrikant und Pferdehändler, sind Theaterunternehmer und Kaffeewirt nicht auch arme Leute, die leben wollen? und muß man denn durchaus mit der Unterstützung warten, bis sie sämtlich zu Bettlern werden und dem Almosen verfallen? Treib' ich's nicht viel grandioser, indem ich sie vor der tiefsten Stufe bewahre?«

»Es ist merkwürdig,« bemerkte Levin lächelnd, »welch blendende Scheingründe dem Weltsinn zu Gebote stehen.«

»Onkelchen, Du tust mir himmelschreiendes Unrecht mit deinen Scheingründen!« behauptete Orest. »Es ist ja sonnenklar, daß ich drei Fliegen mit einer Kappe schlage: ich unterstütze die Industrie, ich befördere die Civilisation, ich wehre dem Proletariat– und bewirke das alles, indem ich in der arbeitenden Klasse, welche zugleich die arme ist, Geld in Umlauf bringe. Bin ich da nicht ganz in der vernünftigen Idee des Jahrhunderts – von der natürlich der Kommunismus auszunehmen ist?«

»Ja freilich. Du ächter Sohn Deines Jahrhunderts, Du bist in dessen Idee!« sagte Levin und klopfte ihn freundlich auf die Achsel; »Viel der Bedürfnisse haben, soll – besonders wenn man sie prompt bezahlt, für Tugend gelten! Aber so wenig wie das eine Tugend ist, ebensowenig wird das allgemeine Wohl durch sie gefördert. Dein Cigarrenfabrikant mag ein Millionär werden, aber seine Arbeiter verkümmern in Armut und Elend an Leib und Seele, während er und Du, Ihr beide, Euch etwas darauf zu gut tut, in Euren Genüssen. Eurem Überfluß, Eurem Luxus zu schwelgen – weil Ihr Geld unter die Leute bringt. Glaubst Du wirklich, daß hierin Ähnlichkeit mit der christlichen Barmherzigkeit ist, die Hyazinth übt, indem er seine Bedürfnisse auf das knappste Maß einschränkt – nicht um Deinen Cigarrenfabrikanten reicher zu machen, sondern um dessen dürftige Arbeiter zu unterstützen, die bei ihrem kargen Tagelohn halb verhungern und, wenn sie krank werden, ganz hilflos sind!«

»Nein, lieber Onkel, das glaub' ich keineswegs; aber es war anfangs auch gar nicht die Rede von christlicher Barmherzigkeit,« antwortete Orest, der immer gleich nachgab, wenn ihm eine Sache zu ernst wurde. –

Der Graf schlug ihm vor, die Reise nach England mitzumachen und um Verlängerung seines Urlaubs zu bitten. Orest besann sich etwas. Er wußte nicht genau, ob die Reise auch gehörig unterhaltend ausfallen werde. Endlich sagte er zum Grafen:

»Ich will's nur gestehen, Papachen – ich fürchte, unser Reisegeschmack geht weit auseinander! was willst Du denn eigentlich in England sehen?«

»Alle Merk- und Sehenswürdigkeiten der drei Königreiche: Natur und Kunst, Fabriken und Parks, Kathedralen und Kottages, Kriegsschiffe, Kristallpalast und alle anderen Kuriositäten – ausgenommen die Gesellschaft in London, weil wir noch in Trauer sind und auch keine Neugier spüren, einen Schwarm von langlockigen Ladies und weißkravattierten Gentlemen beisammen zu sehen.«

»Nun, das alles ist mir recht! aber ich muß einige Zusätze zu Deinem Register machen und mir meine freien Allüren für dieselben ausbedingen, und zwar zuerst Epsom, Askot, Tattersal.«

»Nicht mehr wie billig! dabei bin ich auch.«

»Dann – die Oper, überhaupt Theater.«

»Ganz richtig! Etwas davon werd' auch ich in Augenschein nehmen. Aber die Mädchen sind nicht dazu zu bewegen, d. h, Regina nicht. Corona allein hätte vielleicht Lust dazu; aber ohne Regina tut sie es nicht und die geht nun einmal nicht in's Theater.«

»Originell das! Die ganze elegante und gebildete Welt strömt ja in's Theater, kann ohne Loge so wenig existieren wie ohne Dach und Fach, hat nichts zu sprechen und nichts zu denken, wenn sie kein Schauspiel zu sehen hat! Ich spreche nicht von uns – denn das versteht sich von selbst; sondern auch von den Damen. Was sagt sie denn eigentlich dagegen – diese sonderbare Regina?«

»Sie sagt, alle Geistesmänner und Lehrer des innern Lebens erklärten einstimmig den Theaterbesuch für gefährlich und verderblich, weil das Schauspiel gefährliche Leidenschaften mit allem Zauber der Kunst und allem Blendwerk der Phantasie ausstatte und darstelle.«

»Na hat sie wahrhaftig ganz Recht! aber eben darin besteht der ungeheure Reiz der Bühne: sie idealisiert dermaßen das Verbotene, daß es unwiderstehlich erscheint.«

»Solche Behauptung würde Regina Sünde nennen, und umsomehr bei ihrer Weigerung beharren. Sie ist nun einmal aus ganz besonderem Stoff! Weil ein alter Erzbischof, der Johannes Chrysostomus hieß und vor fünfzehnhundert Jahren in Konstantinopel lebte, gesagt hat: das Schauspiel sei ein Überrest des entsittlichten Heidentums und wütende Schaulust verrate heidnische Gesinnung; so nimmt sie das auf, wie das Evangelium. Im Grunde hat sie Recht! Das Theater ist nichts für junge Mädchen – nicht einmal die sogenannten klassischen Stücke, wie z. B. Emilia Galotti. Regina würde es empörend für Vernunft und Herz finden, daß sich die Heldin von ihrem Vater erdolchen läßt, um nicht in Liebesschlingen zu geraten; und, beim Licht besehen, muß ich wieder sagen: sie hat Recht.«

»Ja,« sagte Orest, »das ist mir nicht auffallend, denn Regina ist klug und so kann sie wohl das Richtige leicht erkennen; daß sie aber nun auch felsenfest danach handelt, während sie rings umher sieht, daß die ganze Welt es anders macht – darüber muß ich staunen. In mir ist nun einmal die heidnische Gesinnung stark entwickelt, nach der Ansicht des alten Johannes – wie hieß er weiter? und ich bin ein rasender Liebhaber der Bühnenwelt, verspreche mir auch Brillantes von ihr während einer Season in London.«

»Sei versichert,« sagte der Graf, »daß ich Dich durchaus nicht in Deinem Vergnügen stören werde.« –

Und so war die Sache abgemacht; man ging im hohen heißen Sommer nach London, wo der Graf in demjenigen Teil des Westendes, der Belgravia genannt wird, und der fast ganz für Fremde eingerichtet ist, ein komfortables Haus nach englischer Sitte einnahm und allein bewohnte – eine Sitte, die allerdings etwas kostspielig, aber ungemein bequem ist. Man ist zu Hause, lebt ruhig und ungestört ohne Gasthofstumult, ohne lästige Zimmernachbarn, ohne das wilde Heer halbtotgehetzter Kellner, und richtet sich ein, wie man es gewohnt ist. Orest hatte sich nicht umsonst seine »freien Allüren« ausgebeten. Er fand in London einen ganzen Schwarm von Bekannten und guten Freunden, mit denen er sich vortrefflich unterhielt, ohne an »der Besichtigungskampagne aller Merkwüdigkeiten« – wie er sich ausdrückte, Anteil zu nehmen.

»Solchen Strapazen für nichts und wieder nichts bin ich nicht gewachsen!« versicherte er. »Ich kann viel aushalten – aber dies ewige Stehen und Stehen und zwei Schritte gehen und wieder Halt machen, nein! das macht mich kaput. Und wenn ich nun im Tower die Kronjuwelen, wie wilde Tiere hinter Eisengitter – und in der Münze die Prägung eines Sovereigns, der nicht mir gehört, gesehen habe– was hab' ich davon? mein Herz bleibt leer.«

Corona lachte und sagte in dem scherzenden Ton, den Orest mit seinen Cousinen beibehielt:

»Da erfährt man ja plötzlich, daß Du ein Herz hast.«

»Und was für eins!« rief er. »Schau', Krönchen, könnte ich die englischen Kronjuwelen auf Deiner schönen Stirn sehen, so würden sie mir außerordentlich gefallen: solch ein Herz hab' ich!«

»Dies ist nur ein Beweis gegen Deinen Anspruch,« entgegnete Corona; »das Herz sagt keine Fadaisen.«

»Was weißt denn Du von der Sprache des Herzens!« rief Orest mit komischem Erstaunen. »Erst sechszehn Jahr und schon darin bewandert!«

»Ja gerade deshalb!« nahm Regina das Wort. »Sie betrachtet das Herz als den Ausdruck des unverfälschten Gefühls. Je jünger man ist, desto leichter kann man wohl dies Zutrauen haben.«

»Königin und Krone, beide gegen mich,« sagte Orest mit Anspielung auf ihre Namen; »dann muß ich freilich die Segel streichen! aber dem Krönchen vergeß' ich nicht den Zweifel an meinem Herzen.« –

Es fiel Orest nicht im Traume ein, sich anders mit seinen Cousinen zu beschäftigen, als in dieser munteren Weise. Die Orests bringen ihre Huldigungen entweder den verheirateten Frauen dar, oder sie begeben sich in eine Sphäre hinab, wohin man ihnen nicht folgen mag. Seiner erklärten Liebhaberei für die Bühnenwelt getreu, hatte er sich auch nicht damit begnügt, dem Syrenengesang der Prima Donna der italienischen Oper von der Loge aus sein Entzücken kund zu geben, sondern sich mit einem halben Dutzend seiner guten Freunde durch ein anderes halbes Dutzend ihr vorstellen lassen.

Einst begleitete er, wider seine Gewohnheit, den Grafen und dessen Damen in den Kristallpalast, um in einer für London frühen Stunde dessen Schätze mit einiger Muße betrachten zu können. Als sie sich nach langer Wanderung dem Platz der Spitzen näherten, welche für alle Damen eine gewisse magnetische Anziehungskraft hatten, standen zwei sehr elegante Damen bewundernd vor diesen köstlichen Geweben, und obgleich sie den Ankommenden den Rücken zugewendet hatten, erkannte Orest sie dennoch und ging auf sie zu. Regina würde dies nicht weiter beachtet haben, wenn ihr nicht die Stimme bekannt in's Ohr gefallen wäre, womit die eine Dame Orest's Verwunderungausruf beantwortete:

»Wir sind hier noch zu große Neulinge, um Geschmack zu finden an dem Gedränge, welches die obligate Freudenerhöhung des Londoner Vergnügens ist.«

Indem sie das sagte, wendete sie sich und ging weiter. Orest blieb ihr zur Seite und Regina flüsterte dem Grafen zu:

»Das ist die schöne Judith Miranes mit ihrer Mutter.«

»Wie kommt denn die aus Brasilien her? und wie kommt Orest zu ihr?« sagte der Graf, der sie nicht bemerkt hatte.

»Sie war es und schöner denn je,« setzte die Baronin Isabelle hinzu.

»Orest soll uns Auskunft geben,« sagte der Graf.

Aber Orest kam nicht wieder. Man war daran gewöhnt und kehrte ohne ihn zurück. Als er sich gegen Abend zu einem verabredeten Spazierritt einstellte, rief ihm der Graf entgegen:

»Woher stammt denn Deine Bekanntschaft mit der schönen Dame im Kristallpalast?«

»Wo denn anders her, als von der italienischen Oper, wo Du sie fast täglich sehen könntest,« sagte Orest.

»Da bewundere ich ihre Nerven beinahe noch mehr als ihre Schönheit!« rief der Graf. »Tag für Tag gegen Mitternacht italienische Oper – das prästiere ich nicht!«

»Du bist auch keine Primadonna mit einem horrenden Gehalt für die Dauer der Season.«

»Ist sie die Primadonna der italienischen Oper?« rief Regina. »Sie – Judith Miranes!«

»Ob sie Judith Miranes heißt, weiß ich nicht,« erwiderte Orest: »aber hier ist sie schwarz auf weiß zu lesen.«

Er suchte das Tagesblatt, in welchem die verschiedenen Schauspiele angezeigt waren, und las:

»Also heute Othello, der Mohr von Venedig. Da ist sie! Desdemona – gesperrt gedruckt: Signora Giuditta. Eine göttlichere Desdemona gab es wohl nie. Die und die Norma sind ihre Hauptrollen. Nun, Regina, warum siehst denn Du so betrübt aus? war sie etwa Deine Pensionatsfreundin im Sacré Coeur

Regina schwieg mit beklommenem Herzen, und der Graf erzählte, was er von Judith und ihren Eltern wußte.

»Menschenschicksal!« versetzte Orest äußerst gleichgiltig.

»Jetzt gehe ich aber gewiß in die italienische Oper!« rief der Graf. »Wollt Ihr nicht alle mitgehen?«

»Ich gewiß nicht,« sagte Regina traurig.

»Ach geht doch alle mit,« bat Orest, »Ihr werdet entzückt sein.«

»Ist denn diese Oper so besonders schön?« fragte Corona mit leiser Neugier.

»Versteht sich! das Libretto ist nach der Tragödie von Shakespeare bearbeitet.«

»Ach erzähle doch etwas, lieber Orest, bitte!«

»Die Sache ist in Kürze so: Die Republik Venedig hat einen heroischen Feldherrn, der Othello heißt und ein Mohr ist. Die Dogentochter Desdemona faßt eine so heftige Leidenschaft für ihn, daß sie über den Fluch ihres Vaters, der keinen schwarzen Schwiegersohn haben will, sich hinwegsetzt und Othello heiratet. Der Mohr liebt nun seine schöne Desdemona auf gut afrikanisch, d. h. mit einer tüchtigen Dosis Eifersucht gemischt; und als er den falschen Verdacht auf sie wirft, daß sie einen andern liebe, läßt er sich vom Satan blenden und ermordet die unschuldige Desdemona. Es ist furchtbar ergreifend, wie sie zuerst den Fluch des Vaters und dann den Dolch des Gemahls von sich abzuwehren sucht!«

»Nein!« rief Corona, »solche Entsetzlichkeiten mag ich nicht sehen. Ich würde mich halbtot ängstigen und halbtot weinen und die schauderhaften Szenen gar nicht aus dem Gedächtnis bringen. Wie kann man an solchen Vorstellungen Vergnügen finden.«

»Wohlan, Papa, so gehen wir allein und bewundern allein die Vereinigung der dreifachen Kunst Shakespeare's, Rossini's und Giuditta's – eine Vereinigung, welche meine sublimen Cousinen doch zu Ehren der heiligen Dreifaltigkeit gelten lassen sollten.«

»Lieber Orest,« entgegnete Regina mit ihrem schönen Lächeln, »Du bist zu gut erzogen, um nicht zu wissen, daß sich solche Späße in unserem Kreise nicht schicken. Mäßige also den Ausdruck Deiner extatischen Bewunderung.«

»Liebenswürdigste Königin,« rief Orest entzückt und glitt graziös auf ein Knie vor ihr; »Du bist immer perfekt! Wenn alle Damen einen dummen Spaß so beantworteten, wie Du, bei Gott! wir würden keinen zweiten machen. Gewöhnen wir uns dergleichen an, so ist das wahrhaftig Eure Schuld, denn Ihr könnt es uns abgewöhnen. Wie beneidenswert ist Uriel, unter ein solches Pantöffelchen von Sammt und Perlen zu kommen.«

»O,« sagte Regina unbefangen, »Uriel ist selbst so perfekt, daß er das gar nicht nötig hat.«

»Aber nun hört auch meine Neuigkeit!« sagte Orest. »Ihr habt im Kristallpalast eine Salonbekannte als Opernsängerin wiedergefunden; aber wem bin ich begegnet? ratet.«

»Nein,« sagte die Baronin Isabelle, »da könnte man die halbe Welt der Bekannten durchraten! Sag' es uns.«

»Ich begleitete also die Giuditta und ihre Mama auf ihrer Wanderung und machte dabei die schmeichelhafte Bemerkung, daß das Töchterlein etwas weniger wortkarg als gewöhnlich war.«

»Ist sie das noch immer?« fragte teilnehmend Regina.

»In einer Weise, die noch nicht da gewesen ist!« versicherte Orest. »Deinem charmanten Cousin gelang es aber, ihr einige zusammenhängende Worte zu entlocken.«

»Mein charmanter Cousin,« erwiderte Regina lachend, »ist wirklich recht bescheiden – für einen fat!« –

»Nun, wem bist Du begegnet?« fragte ungeduldig der Graf.

»So geleitete ich sie zum Wagen. Als eben der Schlag geschlossen wird und ich mit vieler Grazie meinen letzten Kratzfuß mache, schlüpft eine Gestalt an mir vorüber, die ich sogleich erkenne und die auch mich erkennt – denn sie wendet ihr Gesicht ab und drängt sich in einen Menschenknäuel hinein, der sich dem Eingang zuwälzt. Ich springe vom Wagen zurück und mitten unter die Menschen und schreie aus Leibeskräften: Halt! halt! Alles stäubt entsetzt auseinander, man denkt, ich setze einem Taschendiebe nach. Eine Miß mit ellenlangen blonden Locken machte Miene, sich in Ohnmacht vor Schreck legen zu wollen. Mir einerlei! Wie ein Tiger auf seine Beute springe ich auf die Gestalt zu, die sich trotz des Tumults rund umher gar nicht umschaut und nur vorwärts eilt. Aber ich nach, und halte sie beim Kragen! – und wen halte ich – Florentin!«

Alle waren überrascht und riefen durcheinander Fragen aller Art. Der Graf sagte:

»Warum hast Du ihn nicht mitgebracht? hat er seine Revolutionsgrillen noch immer nicht satt? ich dächte, er könnte nun endlich zur Vernunft gekommen sein und in guter Ruhe mit uns heimkehren. Ich würde ihm alles verzeihen, Barrikaden, Freischaaren – alles! denn im Jahr 1848 haben ganz andere Köpfe, als der seine, sich verdrehen lassen. Es waren revolutionäre Miasmen in der Welt, die das Gehirn in ein Delirium versetzten. Wie spricht er denn jetzt?

»Gerade wie vor vier Jahren, als er zum letzten Mal in Windeck war.«

»Wie? er hat sich gar nicht gebessert?«

»Im Gegenteil! grimmig ist er geworden und hat sich, wie man zu sagen pflegt, in seine Idee verbissen. Ich nahm ihn ohne Umstände unter den Arm, führte ihn aus dem Kristallpalast hinaus und in Hyde-Park umher. Da mußte er denn erzählen. Wär's nicht alles im Satansdienste der Revolution bis zur roten Republik gewesen, so könnte man ihn beneiden um sein bewegtes Leben. Er sagte, als Wien für die Revolution verloren gegangen und wieder kaiserlich geworden sei, da habe er geahnt, daß alles in Deutschland schief gehen werde. So lange man nicht Österreich, dies Bollwerk der Stabilität, diese Grundfeste der konservativen Ideen und des historischen Rechts« ... –

»Also das erkennt er alles an?« fragte der Graf.

»Freilich! und darum haßt er es und nennt es weiter: eine Bastille der Freiheit, die man entweder aus Deutschland herausbeißen, oder es so lange revolutionär bearbeiten und unterminieren müsse, bis es in sich selbst zusammen und in so viel Brocken auseinander falle, als es Völker verschiedener Zunge in seinen Ketten schmachten lasse. Kurz, die erhabenen Ideen der Demokratie sind, nach Florentin's Meinung, nicht durchzuführen im deutschen Vaterlande, so lange es mit Oesterreich behaftet ist, und da die Stunde der Vernichtung noch nicht für dasselbe geschlagen habe, so machte Florentin sich nach Italien auf. In Rom ging es ja herrlich her! Der Papst war landflüchtig, Mazzini's Republik oben auf. Er war bei den Opfern zugegen, die Mazzini nach altrömischer, d. h. heidnischer Weise, im Kapital den alten Göttern darbrachte und somit die katholische Kirche absetzte, wie denn auch des Papstes weltliches Regiment abgesetzt war. Aber, o Jammer! auch im Kirchenstaat war man noch nicht reif für die rote Republik, und sogar verschiedene, wohl applizierte Dolchstöße, vulgo Meuchelmorde, wollten nicht die gehörige Überredungskunst üben. Rom war eingeschüchtert – was sich begreifen läßt! – gewonnen nicht. Die Banditenwirtschaft, wie wir auf gut deutsch sagen, ging zu Ende, die Banditenhäuptlinge Mazzini und Garibaldi suchten das Weite; der Papst kam wieder, die Kardinäle kamen wieder, die katholische Kirche brauchte nicht wieder zu kommen, denn es zeigte sich, daß sie, trotz der gräßlichsten Mißhandlung der Geistlichen, immer dagewesen war – und mein Florentin ging nach Amerika.«

»Möge er da bleiben!« rief die Baronin Isabelle aufgeregt. »Ich hoffe, lieber Schwager, Sie nehmen diesen verwilderten Menschen nicht zu Gnaden an.«

»Hat er Dir das alles wirklich eingestanden?« fragte der Graf.

»Eingestanden?« rief Orest; »o keinegswegs! Geprahlt hat er mit den Großtaten der heroischen Republikaner! geprahlt mit der Hingebung an die Befreiung der Völker in politischer und religiöser Beziehung! geprahlt mit dem Haß gegen Kirche und Priestertum!«

»Auch geprahlt mit dem Meuchelmord?« fragte Regina.

»Mit jener Kälte davon gesprochen, wie andere Deutsche seiner Farbe im Fahre 1848 von dem Morde Lichnowsky's, Auerswald's, Lamberg's, Zichy's etc. etc. sprachen. Solche kleine Zufälle haben ja nicht das mindeste bei dem erhabenen Gange der Revolution, zu bedeuten! Was tut's, wenn ein Paar armselige Reaktionäre, die, als solche, Verräter an der Sache des Volkes und der Freiheit sind, mit einem Stilett bei Seite geschafft werden! Was tut's, daß die halbe Welt untergeht, wenn nur die andere Hälfte als rote Republik floriert! so redet Florentin und die Florentine –, das kennt man zur Genüge!«

»Was machte er denn in Amerika?« fragte der Graf.

»Da gefiel es ihm durchaus nicht,« erwiderte Orest. »Ich fragte ihn, ob er sich dort nicht recht gut als Arzt habe durchbringen können? Er behauptet Nein! – Ein Arzt, der zu Fuß seine Patienten besuche – bekäme keine Praxis. Wer Vermögen habe, oder wer sich auf Handels- und Spekulationsgeschäfte gut verstände, der könne in Amerika Seide spinnen. Auch der Urwäldler. Aber Geld und Arbeitskräfte müsse man tüchtig mitbringen. Übrigens habe er gar nicht den Beruf, im freien Amerika zu leben.«

»Das glaub' ich!« sagte der Graf; »auf Windeck lebt sich's anders! Nun, was ist denn sein Beruf?«

»Europa zur Freiheit zu verhelfen! Jetzt sitzt er hier und wartet auf seine Zeit – schwört aber darauf, daß sie kommen müsse.«

»Wovon lebt er denn?«

»Darüber rückte er nicht mit der Sprache heraus! Ob sie eine Bundeskasse haben, welche von den Reichen der Partei genährt wird, ob sie kommunistisch leben, ob er Mitarbeiter an einem Journal ist, ob er Unterricht in der deutschen Sprache gibt, ob das alles zusammen? ich kann's nicht behaupten! Auch England schien ihm nicht sehr zu behagen. Er machte wütende Ausfalle gegen die Wucht, womit die Klasse der Besitzenden, sowohl in der Aristokratie, als in der Industrie und der Bank, auf der Klasse der Nichtbesitzenden drücke.«

»Er muß sich in eine Geßner'sche Schäferwelt begeben,« sagte die Baronin, »wo die ganze Gesellschaft mit weißen Kleidern mit rosenfarbenen Schleifen zarte Lämmer an himmelblauen Bändern spazieren führt! denn die ganze wirkliche Welt ist ja zu schlecht für seine erhabene Persönlichkeit.«

»Einstweilen wünschte er nach Geßner's Heimat zu gehen, nach der Schweiz. In Ermanglung jener Idylle findet er dort Gesinnungsgenossen. Auch ist er dort näher an Deutschland, und darauf hat er nun einmal zärtlichst sein Augenmerk geworfen.«

»Nun, und wie kamt Ihr auseinander?« fragte der Graf.

»Hat er sich gar nicht nach Papa und Onkel Levin erkundigt?« fragte Corona.

»Doch! nach der ganzen Familie.«

»Gott sei Dank! das ist doch wenigstens menschliches Gefühl!« seufzte die Baronin aus tiefer Brust.

»Als ich ihm sagte, Onkel Levin sei heiligmäßig wie sonst, der Papa aristokratisch wie sonst, Hyazinth ultramontan wie sonst, Uriel Gentleman wie sonst, die Damen fromm und andächtig wie sonst, und ich Bruder Lustig wie sonst: da gab er mir zur Antwort: Ja, ihr seid und bleibt Windecker! – Versteht sich! rief ich: ächte Windecker! Keine untergeschobenen Wechselbälge! – Nein, sagte er darauf, kein einziger ist von dem Stoff, dem die Zukunft gehört. Ich wollte ihn herbringen; aber durchaus nicht! Unsere Wege sind geschieden – wiederholte er.«

»Wenn es so mit ihm steht, hat er recht!« sagte der Graf. »Das ist der Dank, den Florentin Hauptmann für die Windecker hat!«

»Und wie trenntet Ihr Euch?« fragte die Baronin.

»Er schrieb mir seine Adresse in mein Notizenbuch,« sagte Orest, »und ich gab ihm eine Hundertpfundnote.«

»Was! bist Du rasend!« rief der Graf.

»Lieber Onkel, ich sagte ja, daß er gern nach Geßners Heimat wollte, entgegnete Orest gelassen.

»Was Geßner! was Heimat! er ist ein Revolutionär und geht nach der Schweiz, um von dort aus das Gift seiner Prinzipien bequemer zu uns herüberzuspritzen – und das erleichterst Du ihm! Er würde uns allen ganz getrost das Fell über die Ohren ziehen – und Du fütterst ihn dazu auf!«

»Ja, Onkelchen! so unterscheidet sich Orest Windeck von Florentin Hauptmann! er hat mir als Kind das Leben gerettet: dafür bleib' ich ihm dankbar, so lange ich lebe. Windecker Art knausert nicht um ein Paar Gulden!«

»Paar Gulden!« brummte der Graf; »eine Hundertpfundnote sind zwölfhundert Gulden!«

»Corpo di Bacco! zwölfhundert Gulden!« rief Orest höchst verwundert. »Das ist stark! – hätte ich das gewußt! – Aber bei dem unendlichen, Ideenreichtum meines Kopfes kann ich unmöglich das Verhältnis der fremden Geldsorten zu den unseren immer gegenwärtig haben. Nun, hin ist hin! – Morgen will ich aber den Florentin besuchen. Vielleicht treffe ich eine ganze rote Bande beisammen.«

»Nimm Dich in acht!« rief Corona ängstlich; »sie könnten Dich auch erdolchen!«

»Ich bin für diese Ehre zu gering,« erwiderte Orest lachend. »Aber wo wohnt er denn – der Florentin? im Westende schwerlich!«

Orest zog sein kleines Notizenbuch hervor und durchblätterte es vorwärts und rückwärts. Plötzlich rief er:

»Schau! der Florentin! statt seine Adresse einzuschreiben, hat er ganz leise ein Blatt herausgerissen. Mein, Besuch war ihm also nicht angenehm. Servus! die Sache ist abgemacht. – Jetzt, Königin und Krone, verwandelt Euch in Amazonen! es wird einen herrlichen Ritt geben in der Abendkühle unter den Eichen von Hyde-Park.« –

»Welch eine konfuse Welt!« sprach Regina heimlich zu sich selbst, als sie später mit Hunderten von Reitern und Reiterinnen auf dem smaragdgrünen Rasen und unter den kräftigen Eichen von Hyde-Park ihr Pferd tummelte, während in unabsehbarer Reihe die elegantesten Wagen hinter einander fuhren, lauter ächtes Equipagen-Vollblut, nirgends unterbrochen durch den gemeinen Eindringling Fiakre, dessen Räder noch nie Hyde-Parks aristokratischen Boden entweiht haben. Über diese hochfahrende Herrlichkeit glitt Regina's gedankenvolles Auge hinweg und sah im Geiste die rote Republik, die dahinter lauert, und den Abgrund, der daneben gähnt, und in den dieser ganze Weltprunk hineinprasselt, wenn ein Ruck die künstlich empor geschraubte Maschinerie der modernen Civilisation in ihrer schwindelnden Steigerung aufhält. Sie dachte an Florentin und an Judith. Was war aus dem Pflegesohn ihrer Eltern, aus dem brüderlichen Gefährten ihrer Kindheit geworden – und was konnte noch aus ihm werden? Was war aus dem jungen Mädchen geworden, das mit ihr gleichberechtigt in der Gesellschaft aufgetreten war und jetzt, außerhalb derselben auf der Bühne stand? Florentin lebte und webte in Haß und Groll gegen diese goldübertünchte Civilisation; Judith lebte und webte durch sie und von ihr. Er – ein Revolutionär; sie – eine Opernsängerin; beide – durch Zufall zusammengeführt mit den Windeckern im Tempel dieser Civilisation: im Kristallpalast! – O heiliger Karmel! eröffne mir deine Einsamkeit, deine Armut, deine Stille, seufzte Regina aus tiefster Brust. Öffne mir deine ascetischen Zellen! ich verlange nach ihnen, nicht als nach Zaubergrotten voll überirdischer Freudenfeste, sondern als nach den Katakomben, in denen die ersten Christen die Welt besiegten.


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