Ida Gräfin Hahn-Hahn
Maria Regina. Erster Band
Ida Gräfin Hahn-Hahn

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Revolution.

Die Nachrichten waren ganz richtig, und die revolutionäre Mine, welche am 24. Februar 1848 in Paris Explosion machte, setzte nach und nach alle Minen voll lange angesammeltem Zündstoff in ganz Europa in Feuer. Wie weit die Flamme um sich greifen werde, wußte niemand, und noch viel weniger, wie sie zu löschen sei. Die gesunde Vernunft ließ sich in einer Weise teils überrumpeln, teils hinter das Licht führen, teils terrorisieren, die vielleicht ohne Beispiel in der Weltgeschichte ist. Der Geist, der die Geschicke der Menschheit regiert, ließ das zu, um warnend zu zeigen, wohin die Worte Fortschritt und Freiheit führen, wenn man sie ihres wahren Sinnes, ihres Zusammenhanges mit dem Christentum beraubt und die edelsten und heiligsten Aspirationen des Menschenherzens, zu denen die Sehnsucht nach Freiheit und das Streben nach Fortschritt gehören, durch materialistische Auffassung und egoistische Deutung verfälscht und mißbraucht. Die wahre Freiheit und der wahre Fortschritt des Menschen führen ihn zu seiner Heiligung, und da es seine Bestimmung ist, hienieden an seiner Heiligung zu arbeiten, und da zwischen seiner Bestimmung und seiner Sehnsucht ein geheimer Zusammenhang besteht, so gibt es wohl wenig Herzen, die bei den Worten: Fortschritt, Freiheit kalt und gleichgiltig blieben. Aber, wenn nur auf irdischem Gebiet und mit irdischen Kräften und Mitteln jener sich schrankenlos fortbewegen, diese sich unbegrenzt entfalten soll; wenn der Begriff der Freiheit zur willkürlichen Ungebundenheit herabsinkt und der des Fortschrittes ausartet in ein tolles Rennen für materielle Zwecke ohne übernatürliches Ziel; wenn diese beiden Triebe des Menschen, die dazu bestimmt sind, ihn zu adeln, indem er sie der Leitung der ewigen Wahrheit und dem Dienste eines höheren Willens unterwirft, statt dessen von blinder Leidenschaft irregeführt, in das Netz der Lüge ihn verwickeln: dann gibt es wenig Waffen, welche dem Geist der Finsternis willkommener wäre, um mit ihnen seinen uralten Krieg gegen das Licht fortzusetzen, als die falsche Freiheit und der falsche Fortschritt, d. h. Willkür und Zügellosigkeit auf religiösem, sittlichem und politischem Gebiet. Dadurch wird die Welt in Barbarei gestürzt, in Nichtachtung fremden Rechtes und eigener Pflicht, in einen Individualismus, der das Gegenteil von aller Civilisation ist, weil er jeden einzelnen in einen Ismaël verwandelt, »dessen Hand gegen alle und aller Hand gegen ihn« sich erhebt.

Civilisation ist die Bildung der Menschheit nach christlichen Prinzipien. Das Christentum allein ist bildend, weil sein Lebenskern das Opfer ist, weil allein es opferwillig macht und die Achtung fremden Rechtes, die Erfüllung eigener Pflicht und die heilige Notwendigkeit lehrt, den Individualismus zu beschränken, um die Einheit herbeizuführen, die einst wilde Horden samt ihren Häuptlingen, und Sklavenvölker samt ihren Neronen in christliche Staaten umgestaltete. Das Christentum allein erfaßt die Freiheit als eine freiwillige Unterwerfung von gottentstammter Autorität, und den Fortschritt als eine freiwillige Bewegung in die Richtung auf christlich-sittliche Vollkommenheit. Dieser übernatürliche Gehorsam, verbunden mit dieser übernatürlichen Strebsamkeit, entwickelt eine solche Kraft des Geistes und einen solchen Adel der Seele, daß eine Menschheit, die von diesen beiden Begriffen durchdrungen und belebt wäre, in die höchsten Bahnen der Civilisation, der harmonischen Entfaltung und Anwendung aller guten, sittlichen und geistigen Kräfte einlenken, und ihre politischen, bürgerlichen und sozialen Institutionen zu einem ihnen entsprechenden Ausdruck machen würde. Da nun ein solches Ideal wohl angestrebt, aber, vermöge der Unvollkommenheit, die allem, was Mensch ist, durch die Sünde anklebt – in allen Einzelheiten nicht verwirklicht werden kann: so sucht der gefallene unruhige Menschengeist den Grund dieser Unvollkommenheit nicht in der eigenen Schwäche und der eigenen Neigung zum Bösen, nicht in seinem Hochmute und in seiner Sinnlichkeit, welche die edelsten Institutionen entkräftigen und unwirksam machen, sondern in den bestehenden Institutionen selbst; und da diese in ihren Grundzügen aus dem Christentum hervorgegangen sind und der gefallene Menschengeist wesentlich antichristlich ist: so ist es ihm bei Abschaffung verhaßter Institutionen im letzten Grund um Abschaffung des verhaßten Christentums zu tun, was ohne Revolution, d. h. ohne völligen Umsturz aller bestehenden Verhältnisse unmöglich ist. Die Worte, die das Christentum so erhaben deutet und durch sie auf die Bahn des Heiles hinweist und hinzieht, behält er bei, der gefallene Menschengeist, ja er macht sie recht zu seinen Losungsworten, weil die Herzen gewöhnt sind, für sie zu entbrennen; nur aber verfälscht er ihren Begriff dergestalt, daß sie förmlich in ihren Gegensatz umschlagen, daß Fortschritt genannt wird, was eine unmäßige Steigerung der niederen Fähigkeiten und Tätigkeiten auf Kosten des höheren ist; und Freiheit, was der Rausch eines Sklaven, der gekettet an subjektive Ansichten und selbstsüchtige Leidenschaften ist, und Civilisation, was Versumpfung der Seelen in die Materie ist.

Dies alles, sophistisch dargestellt, mit halben Wahrheiten vermischt, mit verwegener Berufung auf große Namen geharnischt, deren Träger sich freilich gegen diesen Mißbrauch ihres gewichtigen Zeugnisses empören würden, wenn sie noch unter den Sterblichen wandelten; dies alles wird durch Trugschlüsse einleuchtend gemacht, durch Schlagworte scheinbar zu unantastbarer Wahrheit erhoben, und der Menschengeist, der gleich verdunkelt ist, so wie er aus dem Licht des Glaubens heraustritt, geht auf die Täuschung ein, die ihm blendend und schmeichelnd entgegenkommt. Es lebt kein Mensch auf Erden, der nicht irgendwo Last und Druck, irgendwie Entbehrung und Mangel spürte und in dem sich nicht ein Etwas regte, um sich davon zu befreien. Aber dies Etwas wird wachgerufen – entweder durch die Lockung der alten Schlange, die ihm ihr altes Lied vorzischt: Wie Götter werdet ihr sein, wenn ihr euch aufbäumt gegen Gott; oder durch den Mund der ewigen Wahrheit, die unablässig zu ihm spricht: Nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach. Je nachdem der Mensch so viel Selbsterkenntnis hat oder nicht hat, um den Grund dieser Regungen in sich wahrzunehmen, und so viel Selbstverleugnung, um seine Last als einen Splitter vom Kreuz zu betrachten oder nicht – wird er den Weg der Empörung einschlagen, das Kreuz verwerfen und durch den Umsturz des Gesetzes zur Barbarei und übertünchten Sklaverei gelangen – oder den Weg der göttlichen Gebote wandeln und die Freiheit finden und geben, von welcher der Apostel Paulus sagt: »Wo der Geist des Herrn, da ist Freiheit.« Der Geist des Herrn aber ist Liebe zum Kreuz in solchem Maße, daß dadurch das Kreuz zum Symbol der höchsten Liebe geworden ist.

Freilich richtet sich die Revolution öffentlich nicht zuerst gegen das Kreuz, welches eins und dasselbe mit Christentum ist; denn das würde vielen Wohlmeinenden, deren Zustimmung, wenigstens der passiven, die Revolution in ihrem Beginn sehr nötig hat, die Augen öffnen; sondern sie erhebt ihr Feldgeschrei gegen Absolutismus und Obskurantismus für Menschenrechte, oder Aufklärung, oder Volksvertretung, oder Preßfreiheit, oder Grundrechte, oder wie immer die Parole heißt, die aus einem wahren oder eingebildeten Bedürfnis der Zeit entspringt, dem die Wohlmeinenden gern beistimmen; die aber allmählig gesteigert und übertrieben durch die Reibung der Massen, die Erhitzung der Leidenschaften und die sündige Verblendung der Anführer zu etwas Ungeheuerlichem aufschwillt, das kein Recht und Gesetz über oder auch nur neben sich dulden will, so daß sich dann, etwas zu spät, die Wohlmeinenden ernüchtert und verstört die Augen reiben und sagen: Das haben wir nicht gedacht und dahin nicht gewollt! Lange bevor die Revolution öffentlich, gleichviel mit welchem Schlachtruf und gegen welche Institutionen auflebt, hat sie aber ihre Empörung gegen das Kreuz betrieben, und auch da wieder große, gangbare Worte gebraucht, deren Begriff sie fälschte. Geist, Wissenschaft, Forschung, Humanität – alles dies, so gewichtig für die wahre Bildung der Menschheit, so berechtigt in einer richtigen Anwendung – mußte jener Empörung zur Maske dienen und zur Waffe werden. Der Kalvarienberg ist der Mittelpunkt und der Schlußstein der Weltgeschichte. Welch ein Hindernis für diejenigen, welche die Weltgeschichte mit sich beginnen und die Weltordnung nach ihrem Kopf konstruieren möchten! Um die Freiheit und den Fortschritt auf ihre Irrbahn zu reißen, müssen diese das Kreuz aus den Augen verlieren, muß der Kalvarienberg so gut wie jeder andere Berg, der im Wege liegt, mit einem Tunnel durchsprengt werden, damit die Menschheit durch diesen dunkeln Schacht hindurch irdischen Seligkeiten entgegen rase, deren Horizont nichts abschließt, als die krankhaft und leidenschaftlich gesteigerte Entwicklung des Individuums, und deren Schranke nichts ist als der Tod, dem Glaube und Hoffnung fehlen auf das ewige Leben, weil diese Tradition, die vom Kalvarienberg herabklingt, mit ihm vom Fortschritt überflügelt ist. Der Abfall der Geister von der ewigen Wahrheit geht dem Ausbruch einer politischen Revolution, die er herbeiführt, lange vorher, und äußert sich jedesmal durch die neue Phase eines Lichtes der Aufklärung, das nicht vom »Vater des Lichtes« stammt.

So ging der große Abfall von der Kirche im sechzehnten Jahrhundert der englischen Revolution vorher, die König Karl I. auf das Schaffot brachte. So war die materialistische Philosophie der Engländer und die atheistische Literatur der Franzosen im vorigen Jahrhundert Vorläuferin der Revolution von 1789. So bereitete Deutschlands pantheistische Philosophie, verbunden mit seiner eigenen und mit Frankreichs Literatur des Kommunismus und Sozialismus, den neuesten Revolutionen die Wege. Wissenschaftliche und belletristische Werke, Journale, Gedichte, Flugschriften, Zeitungen, Lehrvorträge, Theater, öffentliche Vorlesungen: Alles atmete, bewußt oder unbewußt, den Geist der Empörung gegen politische, oder soziale, oder kirchliche Zustände aus. In der Theorie war längst die Revolution da. Die geheimen Gesellschaften, gleichviel welchen Namen sie führen, sind die Laboratorien, wo das Gift dieser Theorien am gründlichsten destiliert und am begierigsten eingesogen wird. Alles Geheime hat seinen Reiz, besonders für die Unerfahrenen und für Menschen, deren Leidenschaften in der gesetzlichen Ordnung nicht den begehrten Spielraum finden. Unerfahren und in Gährung der Leidenschaften ist hauptsächlich die Jugend. Die Verpflichtungen, welche die christliche Religion ihr auferlegt, finden diejenigen drückend, die nicht guten Willens sind, die Leidenschaften zu beherrschen. In den geheimen Gesellschaften werden sie belehrt, daß die christliche Religion ein schmählicher Aberglaube und nur erfunden sei, um die große Mehrzahl zum Besten einer geringen Minderzahl zu knechten, und es werden die Mittel ersonnen, um die Sache umzukehren und um ohne Religion die bisher Geknechteten zu befreien und die bisher Bevorzugten in Sklaverei zu bringen oder zu vertilgen. Das Hauptmittel besteht immer darin, Thron und Kirche zu stürzen und Fürsten und Priester aus der Welt zu schaffen. Das ist das letzte Wort aller geheimen Gesellschaften und aller Revolutionen.

Der in tausend Sekten zerfallene Protestantismus mit seinen letzten erbärmlichen Ausläufern, den sogenannten Lichtfreunden, zu denen sich Freunde desselben Lichtes, abgesetzte und abgefallene Priester der heiligen katholischen Kirche voll Sympathie neigen, führen ihre Anhänger, die keine Befriedigung in der dürren Öde und den ängstlichen Schwankungen der Sektiererei finden, und die nicht um Rettung vor der Pforte der Gnade flehen, schnurstracks in die finsteren Abgründe der geheimen Gesellschaften, bei denen sie das finden, was der Mensch so sehr bedarf: Gemeinsamkeit, Vereinigung der Kräfte; aber zum Faktionsgeist, diesem blinden und wilden Zerstörer aller Ordnung, aller Gesetzlichkeit, alles Friedens, aller Freiheit, aller Kultur, der mehr als jeder Mißstand die gedeihliche Entwickelung der Staaten hemmt, indem er eine permanente Widersetzlichkeit hervorruft und dadurch die Herrschaft gesetzlicher Ordnung unmöglich macht. Die übernatürliche Einheit der Menschheit in Christus, welche die katholische Kirche vermittelt und darstellt, wird von dem Faktionsgeist mit blindem Grimm angefallen, wirklich verzerrt und dann wird diese Verzerrung mit unerhörter Frechheit für eine wahre Gestalt ausgegeben, die kein vernünftiger Mensch bezweifeln könne. Dann wird alles begeifert! Der großartige Associationsgeist, der dem triebkräftigen Boden des Christentums entwächst, durch die Kirche geheiligt wird und während anderthalb Jahrtausenden Wunder der Sittigung, der Bildung, der harmonischen Entfaltung aller Kräfte, der selbstständigen Bewegung auf allen Gebieten des Lebens geleistet hat und immer und überall leistet, wo man ihm Spielraum gönnt – wird entweder als böser Mißbrauch gehässig gemacht, oder mit verächtlichem Achselzucken kurzweg abgefertigt als: finsteres Mittelalter! oder man drückt seinen Formen irgend ein beliebiges Brandmal auf. Das Ordenswesen befördert den Müßiggang, so wird behauptet; die Bruderschaften verbindet der Aberglaube; das Zunftwesen raubt die persönliche Freiheit: folglich sind es hassenswerte Institutionen, was zur Genüge dadurch bezeugt wird, daß sie in der christlichen Kirche wurzeln, welche die Anstifterin alles Unheils auf Erden ist.

Bewiesen werden solche Behauptungen gar nicht: sie werden nur so lange und so laut wiederholt, daß sie in jedes Ohr dröhnen. Laster und Mißbräuche gab es freilich zu allen Zeiten; Missetaten wurden in allen Epochen begangen; aber zwischen den Frevlern in Tagen des Glaubens und des Unglaubens besteht sogar noch ein ungeheuerer Unterschied zum Vorteil der Ersteren: sie haben nicht selten die Kraft, ihre Missetaten durch Reue und Buße zu sühnen. Auf ihrer Seite stehen die großen Bekehrungen, während sich auf der Seite des Unglaubens das Zeichen der äußersten sittlichen Verkommenheit, der Selbstmord, gräßlich häuft. Da es nun nichts Christlicheres gibt für den gefallenen Menschen, als die Buße, und nichts Unchristlicheres, als die Judastat des Selbstmordes: so wird jene aufs äußerste verhöhnt vom Antichristentum, damit sich nur niemand einfallen lasse, auf dieser Notbrücke sich zu retten, wenn ihm die steigende Flut des bösen Gewissens an's Herz geht. Dem Selbstmord hingegen, als dem Höhepunkt des Abfalles von Gott, hat die Apotheose nicht gefehlt. Bis zur letzten Masche wird das Netz ausgewebt, worin die alte Schlange alle diejenigen zu fangen sucht, denen es lockender klingt »wie Götter« – als »Kinder Gottes und Mitbürger der Heiligen« zu sein.

Bei diesem Werk hat sie alle bösen Neigungen und verderblichen Leidenschaften der ganzen Menschheit zu Bundesgenossen. Darum darf sich Keiner von der Mitschuld freisprechen, wenn ein solcher Krater zum Ausbruche kommt. Es gibt Stufen in der Mitschuld; es gibt Sandkörner und Felsblöcke im Reiche des Bösen; aber jeder klopfe an seine Brust und spreche sein »mea culpa«; denn in ihrem innersten Wesen sind Revolutionen nie etwas anderes, als sittliche Erkrankungen der Menschheit in Folge der Sünde – und dazu hat jeder in seiner Weise beigetragen, sei es ein Atom, sei es auch nur negativ, oder durch Gleichgültigkeit gegen Wahrheit und Recht, oder durch unbedachtsamen Beifall für das blendendgeschmückte Böse, oder durch passives Gewährenlassen desselben, das man Toleranz nennt und das doch nur ein Mangel an Entschiedenheit für das Gute ist.

Im heimlichen Bewußtsein dieser allgemeinen Mitschuld erbebte die Welt, vom Thron bis zur Hütte, und alle Fundamente, die man schon solange aus ihren Fugen zu sprengen suchte, schienen wirklich auseinander zu fallen und einen Schutt- und Trümmerhaufen nach sich zu ziehen, als die Revolution im Jahre 1848 Europa in Brand steckte. Der Augenblick der Emanzipation aller von allem schien gekommen zu sein, denn diejenigen, welche nicht in den Schwindel einstimmten, wurden als Minorität betrachtet und für die, welche ihm entgegentraten, wurde das Wort »Reaktionär« erfunden, wodurch sie als Verbrecher gegen das erhabene Werk der Revolution gestempelt und den Folgen einer blindrasenden Aufregung in den unteren Volksschichten preisgegeben wurden. Die Revolte ging bis in die Kinderstuben herab: Schulknaben empörten sich gegen mißliebige Lehrer. Die Fürsten aber ließen sich einschüchtern durch Studenten, Literaten, Advokaten, Journalisten und deren Anhang, flohen oder unterwarfen sich – und die Revolution regierte.

Niemand sog ihren Rausch mit volleren Zügen ein, als Florentin! Endlich war die Ära angebrochen, nach welcher sein vom Stachel des Ehrgeizes in ein beständiges Wundfieber versetztes Herz so brennend verlangte! Endlich sollte eine großartige Demokratie die Ketten Europa's brechen und die befreite Menschheit aus den widernatürlichen Zuständen erlösen, unter denen sie schmachtete! Endlich sollte das Individuum zu seiner wahren Geltung kommen und die ungeheuere Geistes- und Charaktergröße offenbaren, welche die revolutionäre Gesinnung in ihren Anhängern entwickelt! Er schwelgte in diesen Voraussetzungen. Zu welcher Höhe er selbst sich erschwingen werde – ob zu einem Cajus Gracchus, ob zu einem Brutus, oder Cromwell, oder Washington, oder Danton – das war ihm freilich nicht klar; das hing ab von Umständen und Verhältnissen. Es galt nur, sie zu ergreifen und zu benutzen: dann war ihm die Größe gewiß. Vor der Hand galt es, mit den großen Schlagworten Emeute zu machen und zum Schutz derselben Barrikaden zu bauen. Florentin hätte sich verhundertfachen mögen, um überall dies hochherzige Werk des Barrikadenbaues zu fördern, woran »die vertierte Soldateska,« welche so niedrig dachte, ihren Fahneneid zu halten, scheitern sollte.

Als ein eifriges Mitglied geheimer Bünde wußte er, daß die Revolution in ganz Europa organisiert sei. Er wollte daher seine Kräfte der Befreiung Deutschlands widmen – so sehr ihn auch das Verlangen zog, nach Paris, dem großen Babylon der Revolution, zu eilen – oder nach Rom, um diese wichtigste Citadelle der Völkerknechtschaft und der Geistesverfinsterung stürmen zu helfen. Im deutschen Vaterlande gab es ja aber eine ganze Kette solcher Citadellen zu sprengen! Florentin verließ Würzburg und seine Studien. Dort war nicht mehr die Stätte und das Feld seiner Tätigkeit. Nicht der leiseste Gedanke an Windeck erschwerte seinen Entschluß. Wie hätte das sein können? Hatte nicht Brutus den Cäsar umgebracht? Gab es Größeres als die Taten der alten Römer? War die aristokratische Usurpation minder fluchwürdig, als imperatorische Kronengelüste? Nicht Dank war er dem Windecker Grafen schuldig für seine Erziehung, Bildung und Erhaltung; denn das alles war ihm ja nur infolge einer Laune der bigotten Gräfin Kunigunde zu Teil geworden, die nichts Höheres kannte, als den Ultramontanismus zu verbreiten. Wie leicht hätte er demselben verfallen können gleich dem armseligen Hyacinth! Nein! sein Dank gebührte den großen Männern, deren wissenschaftliche Forschungen auf dem Gebiete der Natur- und Geschichtskunde herausgestellt hatten, daß die Natur die ewig aus sich selbst gebärende Allmutter und Schöpferin – der Geist des Menschen ein Produkt seines Gehirns – Religion die Erfindung und Politik schlauer Priester – göttliche Offenbarung ein widersinniges Märchen – ein außerweltlicher persönlicher Gott etwas Undenkbares – das Leben ein Tummelplatz für alle Gelüste – der Tod der Eintritt in das Nichts sei. Sein Dank gebührte den freien Denkern, die nicht nur gänzlich absahen vom Katholizismus, der ja, seit dreihundert Jahren schon tot, nur noch als Gespenst mit den Nachteulen und Wehrwölfen zu mitternächtiger Stunde umherschleiche, und nur von kleinen Kindern und alten Weibern wahrgenommen werde; sondern auch vom Protestantismus, der ja nichts weiter sei, als eine Kritik des Katholizismus, viel weniger innere Triebkraft und schöpferische Befähigung habe, als dieser, um einen Fortschritt der Menschheit zur Verbrüderung zu erzielen, und allenfalls nur zu dulden sei, weil seine tausend Sekten ebenso viel Tore öffneten, durch die man dem Christentum entfliehen könne.Edgar Quinet. – Nein, dem Windecker Grafen gebührte kein Dank! Aber mit unaussprechlichem Wohlbehagen stellte sich Florentin die Möglichkeit vor, daß er in irgend einem, für die Windecker recht gefährlichen und recht demütigenden Augenblick als ihr Beschützer vor ihnen auftreten und ihnen beweisen könne, welch' edles Herz in einer demokratischen Brust schlage.

So, ohne einen Funken von religiöser Denk- und Willensrichtung, die gänzlich erloschen war in dem eisigen Egoismus seines Hochmutes und Ehrgeizes, machte sich Florentin an die Neugestaltung der menschlichen Verhältnisse. In erfahrungsloser Kurzsichtigkeit und ohne richtige Kenntnis des Menschen und der Geschichte der Völker brachte er den Mangel an jener Richtung gar nicht in Anschlag. Er dachte: nur niedergerissen! nur tabula rasa gemacht! dann findet sich der Aufbau von selbst! Aber nur die religiöse Denk- und Willensrichtung hat Trieb- und Bildkraft, denn nur sie hat einen Lebensgrund in der Liebe zu Gott und zum Nächsten, die verbindend wirkt und aus der sie schöpft. Diese übernatürliche Liebe ist in der Menschheit, was im einzelnen Menschen seine Seele: sie hält den ganzen Organismus zusammen. Ohne sie – tritt der Tod ein, die Auflösung, und Totengebein wird zu Staub, wenn nicht, wie in jener Vision des Propheten Ezechiel, der Geist Gottes es neu belebt. Florentin wähnte mit sozialistischen Ideen das Nämliche leisten zu können. –

Auf Windeck war freilich mit der Rückkehr der Familie auch etwas von der schwülen Stimmung und Spannung der Zeit eingekehrt; aber sie hatte auch ihr Gegengewicht. Der Graf hegte große Besorgnis vor der Gefährdung des Besitzes, der infolge der Gefährdung des historischen Rechtes allerdings sehr bedroht war, und mit unaussprechlicher Geringschätzung betrachtete er die Leute, die plötzlich durch die Wogen der Revolution von unten nach oben gebracht, in ihrer Weise zu herrschen und ihre Ordnung einzuführen suchten. Die Baronin Isabelle stand Todesangst aus vor den Forderungen des Landvolkes und den Zusammenrottungen allerhand Gesindels. Sie hätte sich selbst und ganz Windeck unsichtbar machen mögen, um nur ja keine scheelen Blicke auf dies Aristokratennest zu lenken. So wie der Graf aus Frankfurt zurückkam, ließ er, wie immer, wenn er anwesend war, über dem Schloß seine Fahne aufziehen. Nicht genug, daß dies stolze Banner äußerst aristokratisch da wehte und den Schloßherrn verkündete, so waren die Windecker Wappenfarben auch noch zum Unglück die Farben Österreichs: schwarz und gelb. Wenn es ein mildes Weiß und Blau, oder ein freundliches Rot und Weiß gewesen wäre, das hätte doch nicht so finster, so drohend, so unheilverkündend ausgesehen! Mit Tränen flehte sie ihren Schwager an, diese entsetzliche Trauerfahne mit österreichischen Färbungen bei den gegenwärtigen Verhältnissen einzuziehen; sie walle ganz zwecklos über den Zinnen, denn willkommene Gäste dürfe man in den betrübten Zeitläuften doch nicht erwarten, und der Heimsuchung durch unwillkommene wünsche man ja sehnlichst zu entgehen. Aber stolz wies der Graf dies Gesuch ab mit dem Bescheid, sein alter Brauch habe nichts zu lernen von revolutionärer Insolenz.

Uriel und Orest waren beide in österreichische Kriegsdienste gegangen. Die ganze Jugend war kampfesdurstig und bereit, an der allgemeinen Aufregung tätigen Anteil zu nehmen: die einen im revolutionären Sinn, die anderen im konservativen. Obgleich Oesterreich für den Augenblick vielleicht mehr gefährdet war, als irgend ein anderer Staat, da innere und äußere Feinde zugleich ihn anfielen: so stand dennoch das alte traditionelle Vertrauen zu seiner Lebenskraft, die sich in den vielfachen Stürmen von mehr als einem halben Jahrtausend entwickelt und bewährt hatte, in allen denjenigen fest, welche nicht gesonnen waren, mit der Revolution zu gehen und sich ohne Schwertstreich vor ihr zu beugen. Als man sah, welche Wendung die Dinge in Deutschland nahmen, erklärte Uriel gleich:

»Ich gehe nach Oesterreich in den italienischen Krieg! Welche Wonne, gegen einen äußeren Feind die Kräfte zu brauchen, die sich in der Untätigkeit fieberhaft steigern, und die zu edel sind, um sie gegen deutsche Freischaren anzuwenden.«

Orest verließ sogleich seine Jagden und seine Berliner Oper- und Balletfreuden, deren Zauber vor den Barrikaden schwand, und eilte nach Windeck, um mit Uriel nach der Lombardei zu gehen. Er hatte an Florentin geschrieben und ihn nach Windeck beschieden, um zu hören, was Florentin jetzt beginnen werde. Allein von diesem kam weder eine Antwort noch er selbst. Orest ging nach Würzburg, um ihn zu suchen und bei Hyazinth, der dort im geistlichen Seminar studierte, Erkundigungen über ihn einzuziehen. Aber er war fort und niemand wußte, ob nach Wien, ob nach Frankfurt, ob nach Paris oder wohin sonst. Während des ganzen Winters hatte Hyazinth ihn ein einzigesmal gesprochen und ihn aufgeregter, bitterer denn je gefunden.

»Also einen Revolutionär habe ich unter meinem Dache großgezogen und mit aller Liebe und Sorgfalt einen Basilisken ausgebrütet,« sagte der Graf, als Orest mit diesen Nachrichten zurückkam.

»Wir wollen Gott danken, daß es von vieren – nur einer ist,« sagte Levin.

»Und kein Windecker!« setzte der Graf hinzu.

Levin ruhte mehr denn je am Herzen Gottes. Sein Friede konnte durch den Unfrieden in der Welt nicht getrübt werden. Seine lange Erfahrung zeigte ihm in dem immer wiederkehrenden Ausbruch solcher Ungewitter die tiefe Störung im geistigen Leben der Menschheit, die aus ihrem Gleichgewicht gekommen war, weil sie in sich dem Niederen die Macht über das Höhere gegeben hatte, und die nun, taumelnd und berauscht, in Orgien verfiel, welche, den einen Untergang, den anderen aber Ernüchterung bringen mußten. Lange Friedenszeiten, die der Entwicklung des materiellen Wohlstandes günstig find, führen die Menschheit leicht zur Überschätzung ihrer Kräfte, ja, zu einer Vergötterung derselben. Brechen dann große geschichtliche Katastrophen wie Orkane ein, so knicken alle die überschätzten und angebeteten Kräfte zusammen, zeigen sich in ihrem Nichts, ja, werden zum Rohr, das zersplitternd die Hand verwundet, die sich darauf stützt und bringen durch das Bewußtsein tiefer Hilflosigkeit die Menschheit zur Besinnung über die lange verschmähte Liebe Gottes, die während des Idolendienstes nicht zur Geltung kam. Dies ist nun freilich nie die Absicht derjenigen, welche die Katastrophen zum Ausbruch bringen; denn Liebhaber des Kreuzes machen keine Revolution; aber so ist der Gang der Weltgeschichte! Dem freien Willen des Menschen ist aller Spielraum gelassen, bis zu einem gewissen Punkt, den niemand kennt, als Gott allein. Ist die Sündflut bis zu dem Ararat gestiegen, so sinken die Wasser der Trübsal und mancher Noe richtet den Altar auf, um Gott ein Dankopfer darzubringen. Je größer und allgemeiner die Überschätzung des Niederen und die Mißachtung des Höchsten in der Welt ist, umso größer müssen die Katastrophen sein, die aus einer solchen Verletzung der göttlichen Ordnung hervorgehen; umso lauter muß der Warnungsruf erklingen, der die Berauschten aus ihren Orgien wecken soll. Das alles hatte Levin schon in den gesamten Weltereignissen, und häufiger noch in den Schicksalen einzelner erlebt. Er war daher ganz ruhig und suchte auch andere zu beruhigen, namentlich das Landvolk, das durch glänzende Vorspiegelungen geblendet wurde und auf die Revolution eingehen sollte. Eine so lange, lange Reihe von Jahren hatte Levin hier gelebt, seine zärtlichste Sorgfalt gerade dem gemeinen Manne zugewendet, zwischen denen er, wie sein göttlicher Meister, »wohltuend umherging«, kannte auf den Windecker Besitzungen alle Leute, die Alten – als seine Zeitgenossen und so abwärts bis zu den Kindern herab, deren Eltern er schon als Kinder gekannt. Da war kaum einer, dem er nicht irgendwie einen Dienst geleistet, einen Gefallen getan, einen Rat erteilt – und da waren sehr viele, denen er hilfreich die Hand gereicht hatte in mannigfachen Nöten und Drangsalen.

In ruhigen Tagen waren auch alle fest überzeugt, daß niemand es besser mit ihnen meine und bereitwilliger sei, ihnen mit Rat und Tat zu dienen, als der hochwürdige Herr; aber durch die feindlichen Aufstachelungen und bösartigen Verdächtigungen, welche die Umsturzpartei überall ausstreute, um Mißtrauen an die Stelle des Vertrauens zu bringen, kam es denn doch dahin, daß dies Vertrauen sehr geschwächt und dadurch Levins Einfluß sehr geschmälert wurde. Es wurde den guten Leuten vorgestellt, er sei zu alt, um auf die neuen Zeiten eingehen zu können; er hänge deshalb zu fest an den Vorurteilen, welche die Welt beherrschten, halte zu viel auf die Vorrechte einiger und zu wenig auf die Rechte aller – und könne daher für die Gegenwart kein guter Ratgeber sein. Die Gegenwart habe nichts im Auge, als den Vorteil des Volkes. Es sei schwer, ja kaum möglich, daß einer vom Adel, der noch dazu Priester, als zwiefach beteiligt sei, das Volk in Unmündigkeit und Abhängigkeit zu erhalten, um es materiell und geistig zu beherrschen, seine und seines Standes Vorrechte fallen lasse, und sich aufrichtig mit dem Volk verbrüdere. Es möge sich also nicht blind leiten lassen von irgend einem Herrn; denn ein solcher werde es immer und immer wieder zur Ruhe, Ordnung, Gesetzlichkeit auffordern und somit um die Vorteile bringen, die es eben jetzt durch entschiedene Forderungen sich erringen müsse. – Wer ist taub gegen die Lockungen persönlicher Vorteile? und wem muß man leichter verzeihen, wenn er es nicht ist, als dem gemeinen Mann, dessen mühseliges Leben so arbeits- und sorgenvoll ist! Das Licht des Glaubens muß mit voller Klarheit auf ein solches Leben fallen, und dessen Verdienste in der Vereinigung mit dem verborgenen Leben recht hervorheben, welches der Sohn Gottes in der armen Hütte des geringen Zimmermanns führte, um in solchen Verhältnissen gegen die Vorspiegelungen von großen rechtmäßigen Vorteilen taub und blind zu machen. Levin empfing sein volles Maß von Bitterkeit durch die Kälte und das Mißtrauen, die vielfach seiner warmen Treue begegneten; aber er ließ sich nicht erbittern! Lebenslang hatte ja sein göttlicher Meister nichts so reichlich mit ihm geteilt, als die Myrrhen. Je heftiger der Zorn des Grafen aufbrauste, wenn die neu erfundenen »Grundrechte« eine Bresche nach der anderen in der Mauer des historischen Rechtes und einen Raubzug nach dem anderen auf fremden Gebiet machten, desto milder wurde Levin, so daß der Graf zuweilen auch ihm zürnte und ihm vorwarf, im Bunde mit der Revolution zu sein. Aber er blieb ruhig bei seiner Behauptung:

»Das Volk ist betört, berauscht und irregeleitet durch das Geschrei der falschen Freiheitspropheten, die ihm goldene Berge der Zukunft vorschwindeln.«

»Aber diese Schwindelei bringt uns in Wirklichkeit um Hab und Gut,« rief der Graf aufgeregt; »und was viel mehr ist, bringt uns um unser uraltes Recht, ja sogar um unsere Ehre, indem wir gezwungen werden, die Erfindungen der revolutionären Schreier als Gesetze gelten zu lassen – gezwungen durch offenbare Feindseligkeit und Aufhetzerei des Volkes gegen uns, so daß man eines Tages, man weiß nicht wie! den roten Hahn auf dem Dach hat. Ebenso gut könnte man einer Räuberbande gehorchen.«

»Dahin kommt es mit einer Menschheit, die aus dem Geleise des wohlgeordneten Gehorsams gewichen ist,« sagte Levin ernst. Der Menschengeist hat sich in jedem Einzelnen von Gott emanzipieren und der ewigen Weisheit den Gehorsam verweigern wollen: dafür wird er jetzt ein durch Furcht vor Gewalttaten verschüchterter Sklave menschlicher Verkehrtheit. Der himmlischen Liebe hat er nicht dienen wollen in edler Freiheit seines Willens, so gehorche er jetzt, furchtgeknechtet, sündiger Torheit und Bosheit.«

»Welch ein Trost!« murrte der Graf.

»Ein großer, lieber Damian, denn damit schlägt man den Weg der Buße ein. Nimm hin die Trübsal als heilsame Arznei und bringe die geforderten Opfer nicht der Revolution, nicht den sogenannten Rechten des Volkes, die sich nicht urplötzlich dekretieren lassen, sondern bringe sie Gott dar, dessen Hand unsichtbarer Weise in dieser Revolution die Menschen prüft und wägt, und denjenigen fallen läßt, den er zu leicht befindet.« –

Der Graf hatte Frankfurt viel früher verlassen, als er es ursprünglich beabsichtigte. Daher war das Gemälde, welches Ernest von seinen Töchtern malte, noch lange nicht vollendet. Der Graf lud Ernest ein, es auf Windeck fertig zu machen, da auch ihm der Aufenthalt in Frankfurt und überhaupt in jeder Stadt gegenwärtig nicht angenehm sein könne. Freudig nahm Ernest die Einladung an. Ihm gefielen die Windecker sehr gut, für Regina hatte er eine andächtige Zärtlichkeit, und da sein Aufbruch von einem Ort keine große Anstalten erheischte, so vollendete er noch einige Porträts und begab sich dann nach Windeck, wo ihm die Baronin ein kleines passendes Atelier eingerichtet hatte. Er war allen willkommen. Der Graf, gastfrei wie ein ächter grand seigneur, hatte gern viele Menschen unter seinem Dach, und freute sich, wenn sie sich behaglich fühlten und ungeniert bewegten. Belästigen und stören durfte man ihn nicht; dafür ließ er aber auch jeden gewähren. An Ernests heiterem Sinn fand er großes Gefallen in der trüben Zeit. Die Baronin sah in jedem männlichen Wesen einen Beschützer gegen etwaige Attentate. Sie hätte das große Schloß voll Gäste haben mögen, um aus ihnen gleichsam eine Leibwache sich zu bilden. Regina und Corona fühlten sich mit der Sorglosigkeit der Jugend und dem kindlichen Gottvertrauen der frommen Seelen persönlich nicht beängstigt durch die Zeitverhältnisse. Ja, Regina hätte sich freuen mögen, weil sie Uriels Entfernung veranlagten. Aber was in den öffentlichen Ereignissen sie betrübte, das waren die vielfachen Gottesbeleidigungen, die sich bei dieser Auflösung von Zucht und Ordnung kund gaben, und der bittere Haß gegen die Kirche, welcher der Revolution gleichsam aus allen Poren drang. Das sah sie ein: eine so furchtbare Mißstimmung unter den Menschen, eine so klägliche Verwirrung aller Begriffe über Recht und Pflicht mußte ihren eigentlichen Grund und Ursprung in der Zerfallenheit der Menschen mit Gott haben, woraus denn die Zerfallenheit des Menschen mit sich selbst und mit dem Nächsten hervorgeht, und verwirrend und verfinsternd auf alle Verhältnisse wirkt. »Lieber Onkel,« sagte sie einmal traurig und beklommen zu Levin, »sieh', wie die einen so wild fordern und so blind niederreißen und mit Gewalt ihr Ziel zu erreichen suchen – und wie die andern so ungern geben und nachgeben, und dennoch so schwach sich verteidigen, als zweifelten sie an ihrem Recht, der Willkür entgegentreten zu dürfen! Ach, wo ist da der heilige Geist geblieben, der jener Erstlingsgemeinde der Christen zu Jerusalem »ein Herz und eine Seele« gab und einen himmlischen Kommunismus hervorrief!«

»Der heilige Geist ist da, wo er immer ist,« sagte Levin, »im Herzen derer, die ihn auf sich wirken lassen, und die man nicht im Tumult der Faktionen und im Zank und Streit der Parteisucht suchen darf. Er wirkt in der Stille und bereitet sich in der Verborgenheit seine Werkzeuge und scheidet die guten Elemente in dem großen Schmelztiegel der Gegenwart von den bösen ab, und wie die Saaten gut gedeihen bei Ungewittern, so werden auch die Blitze und Donnerwolken der Zeit den Keimen und Pflanzungen nicht schaden, die der heilige Geist gerade jetzt und ohne daß wir wahrnehmen können, wie – ausstreut und pflegt. Du aber, Kind, fürchte nicht, daß er, wie ein entthronter König, vor Barrikaden und Freischaren ans seinem Reich fliehe, und nimmst Du wahr, daß die Weltkinder ihm ihre Herzen verschließen, so lichte und reinige Du mehr und mehr das Deine, damit er gern bei Dir seine Einkehr nehme. Dann lebst Du ja in dem himmlischen Kommunismus des mystischen Leibes Christi, den die heilige Kirche darstellt, und hast mit allen ihren lebendigen Gliedern, ihren gläubigen Kindern, die seelenernährende Gemeinschaft der heiligen Sakramente und die herzstärkende Gemeinschaft des Gebetes.«

»Und dennoch, lieber Onkel,« sagte Regina lächelnd, »Hab' ich eine große Neigung für den äußeren Kommunismus der ersten Christen, der gewissermaßen ein natürlicher Ausdruck für ihre übernatürliche Gemeinschaft war und ein warmes Zeugnis von ihrer Christusliebe ablegte. Die Arme und Geringen, die Verlassenen und Elenden nahmen um Christi willen teil an Hab und Gut der Reichen und Großen, und die schreckliche Kluft wurde ausgefüllt, welche zwischen Not und Wohlbehagen besteht und welche mir wie eine tiefe blutige Wunde am Leibe der Menschheit vorkommt. Ach, war das nicht schön?«

»Wohl war es schön!« entgegnete Levin, »Wohl war es ein glänzendes Zeugnis für die Christusliebe, die in den Bekehrten der ersten Jahrhunderte flammte, wenn sie den Sieg, den das Christentum in ihren Herzen über heidnische Wertschätzung des Irdischen und über heidnische Genußsucht davongetragen hatte, dadurch feierten, daß sie freiwillig den Mitteln entsagten, durch die das irdische Dasein behaglich gepflegt wird und zu einer verkehrten Geltung kommt – und in die freiwillige Armut eingingen, die um Christi willen die Genüsse der Sinnlichkeit, die Triumphe des Hochmutes verschmäht. Wunderschön war es, wenn diese stolzen Patrizier, diese königlich reichen Senatoren, diese mächtigen Statthalter, die über weite Provinzen geboten, plötzlich ergriffen von dem wunderbaren Glauben an einen freiwillig leidenden Gott, sich ihrer Glücksgüter, ihrer Weltherrlichkeit schämten, weil dieselben einen schneidenden Gegensatz zu Golgatha bildeten, und ihre Schätze mit ihren armen und bis dahin verachteten Brüdern teilten. Aber das Schöne in diesem Opfer ist eben dessen Freiwilligkeit. Niemand wurde bei den ersten Christen gezwungen, es zu bringen. Weder die Apostel noch die Armen in der Gemeinde forderten so etwas. Christus hatte nur einfach gesagt: »Willst du vollkommen sein, so verkaufe, was du hast, und gib es den Armen« – und hatte es nur als Rat gesagt, nicht als Gebot. Es war also ein himmlischer Antrieb, aus dem jene Gemeinschaft hervorging: die Liebe Gottes entzündete edle Herzen zur innigsten Nächstenliebe. Der Kommunismus kam von oben herab und ist der schlagendste Gegensatz zu dem modernen, unchristlichen, der durch Zwang und von kommunistischen Gesetzgebern eingeführt werden soll. Übrigens gab es schon im zweiten Jahrhundert Häretiker,Epiphanes, ein Gnostiker, drang auf Gemeinschaft der Güter und Frauen. welche neben ihrer Irrlehre auch irrige soziale Verhältnisse und namentlich die allgemeine Gütergemeinschaft predigten, und bei einigen häretischen Sekten des Mittelalters tauchte sie ebenfalls auf. Es ist also an dieser Erscheinung in unserer Zeit nichts neu, als der Name: Kommunismus. Er gibt ihr einen gewissen pedantischen Anstrich, als sei die Sache im System versteinert, bevor sie sich im Leben als praktisch bewährt hat, und sie gehört auch zu denjenigen Theorien, welche der Unglaube ausbrütet, um das Christentum, wie er wähnt, zu überflügeln.«

»Ja,« sagte Ernest, »der brutale Bursche Kommunismus rächt die Verbannung der himmlischen Charitas! Wie manche Staaten wähnten sich in der selbstgefälligen Vorstellung von ihrer Omnipoten beeinträchtigt, weil die Charitas reiche, frische, kräftige Blüten auf dem Boden der Kirche trieb. Die katholische Liebe mit ihren unzähligen Anstalten der Barmherzigkeit nicht unter Verwaltung des Staates zu sehen, war dieser krankhaften Sucht nach Regiererei unerträglich. Diese Anstalten wurden eingezogen, zusammengeschmolzen, umgestaltet, unter ein Heer von Beamten gestellt, die über jeden Kreuzer eine weitläufige Rechnung, über jedes Stück Brot eine genaue Kontrolle führen mußten und deren Besoldung einen beträchtlichen Teil der Habe der Armen verschlang. Nun war man doch sicher, daß nichts verschleudert wurde! Nun hatte man doch der Kirche diese großen Geldmittel entrissen, vermöge welcher es ihr so leicht wurde, das geringe Volk für sich zu gewinnen und ungescheut Übergriffe in die Rechte des Staates zu machen und ihren Obskurantismus zu verbreiten – während nun hinter den Bollwerken der Bureaukratie der Staat geschirmt und gesichert für ewige Zeiten war und die Aufklärung ihre Siege feierte! – Alle engen Herzen und beschränkten Köpfe stießen in die Jubelposaune über solche Maßregeln von Seiten der Regierungen. Aber siehe da! die Zuflüsse stockten! vor dem Rauschen der Schreibfedern in ungeheueren Registern floh die verschüchterte Charitas, die an den Verkehr mit armen Ordensbrüdern, stillen Nönnchen und einfachen Priestern gewöhnt war, auf vertrautem Fuß mit ihnen lebte, sie als Verwalter und Ausspender der Gaben Gottes kannte und deshalb keine ängstlich genaue Rechnungsablage von ihnen begehrte. An die Stelle jener ungeheueren freiwilligen Liebesgaben, welches das christliche Europa mit Anstalten der Barmherzigkeit erfüllten, die im bedürftigen Nächsten Christus den Herrn sieht und ihn demgemäß behandelt wissen will – trat der Staat mit seiner Verwaltung, seinen Besoldungen, seiner Armentaxe, seiner Armensteuer, seinem Geschäftsgang, und machte die leidenden Glieder Christi zu Objekten, für die man fast ebenso gut zu sorgen habe, als dafür, daß keine Motten in die Montierungskammern kommen. Dies fühlen die Armen sehr gut; es mißfällt ihnen ungemein – was ihnen auch nicht zu verdenken ist – und Dankbarkeit kann durch diese Sorte von Wohltätigkeit nicht geweckt werden. Im Gegenteil! vom Staat erwartet jeder vor allem Gerechtigkeit. Nimmt der Staat also die Sorge für die Armen in die Hand, so möge er doch – folgern die Armen – etwas mehr für sie tun und sie nicht so kläglich unterstützen, da es ihm ja doch nie, in ihren Augen, an Mitteln fehlt. In ruhigen Zeiten läßt sich ihr Murren überhören als bedeutungslos: aber in unruhigen kann sehr leicht ihr Mißvergnügen benutzt und dem Staat gefährlich werden. Er hat die Charitas unter Vormundschaft seiner Bureaukratie stellen wollen – wie es hieß, zum Vorteil der Armen; jetzt tritt der grobe Kommunismus auf und sucht zu beweisen, deren wahrer Vorteil beginne mit ihm, und da man jetzt dem Fortschritt vor allem und in allem huldige und auf des Volkes Wohl zuerst und zuletzt bedacht sei: so müsse man nunmehr dem Kommunismus huldigen. Der Staat hat das uralte, heilige Recht der Kirche überflügelt zu Gunsten seiner Omnipotenz: der Kommunismus überflügelt diese zu Gunsten der seinigen, die durch einen furchtbaren Mechanismus im Gesamtgang des Lebens jede frische Blüte und jede edle Kraft in demselben unterdrückt.« »Wie trostreich,« sagte Levin, »nimmt sich neben diesen, so ganz aus dem Erdgeist hervorgegangenen Bestrebungen das Walten des heiligen Geistes in der Kirche aus, der nichts untergehen läßt, was zum Leben in ewiger Wahrheit berechtigt ist. Ein ächter Ableger christlicher Gütergemeinschaft wächst fort und fort durch die Jahrhunderte und beweist, daß es, wie in den ersten Tagen des Christentums, so auch in der Gegenwart, Seelen gibt, welchen es ein heiliges und durch die Christusliebe gerechtfertigtes Bedürfnis ist, in jener zu leben. Der Ordensstand bringt die Gütergemeinschaft mit sich.«

»Eigentlich die Armutsgemeinschaft,« sagte Ernest.

»Allerdings – und das ist denn freilich etwas so Schönes, daß sich der natürliche Mensch nicht zu dieser Höhe zu erheben vermag. Der natürliche Kommunismus schreit von unten nach oben: Ihr Reichen, wir sind eure Brüder, wir wollen mit euch von dem Euren genießen und schwelgen! – Der übernatürliche spricht von oben herab: Ihr Armen, meine Brüder in Christus, ich will mit euch arm sein.«

»O Gott!« rief Ernest, »wenn das nur von oben herab gesagt würde! Das ist das Elend in unserer Zeit, daß die Glaubenskälte, wie ein Gletscher, von den Höhen in die Täler hinabwächst! Damit stand es sonst anders! Da hatte das Volk wirklich strahlende, erwärmende Bilder heiliger Liebe und frommen Glaubens vor Augen. Da sah es einen König Ludwig von Frankreich täglich in seinem Palast eine Anzahl Armer nicht bloß speisen, sondern bei der Mahlzeit bedienen; einen König Stephan von Ungarn, nicht zufrieden mit diesem Akt der Demut, die Armen in ihren Hütten aufsuchen – oft zur Nachtzeit, weil sein Tag übervoll an Geschäften war – und ihnen milde Gaben bringen: eine Isabelle von Portugal die Aussätzigen waschen und kleiden; eine Elisabeth von Thüringen im Spital die Kranken pflegen. Da sah es Kaiserstöchter und Königswitwen herabsteigen von ihren goldenen Stühlen und in die strengen Orden der heil. Klara, der heil. Theresia eintreten, deren Mitglieder armseliger leben, als die Allerärmsten, elend gekleidet, dürftig genährt, Leib und Leben in frommer Buße und heiliger Andacht verzehren. Das Volk liebt alle armen Orden. Es ist ihm ein Trost, daß andere freiwillig jene Entbehrungen übernehmen, die es oft nur widerwillig selbst erträgt. Es wird unwillkürlich zu dem Gedanken hingedrängt, ohne Glücksgüter und ohne Lebensgenüsse auf Erden zu wandeln, müsse doch nicht so ganz unerträglich sein, da ja diese alle darauf verzichteten. Es lernt ahnen, daß es eine Liebe gebe, welche mächtiger und süßer sei, als alle Lieben der Welt; die Liebe zum Leiden, in der Nachfolge des dornengekrönten, geißelzerrissenen, nägeldurchwundeten, gekreuzigten Gottes. Gewahrt es nun, daß diese Liebe in den Großen der Erde mächtig genug ist, um sie in ein freudiges Schlacht- und Brandopfer der vollkommenen Entsagung zu verwandeln: so faßt es umsomehr Vertrauen zu solchen starken, zärtlichen, kreuztragenden Seelen, als die irdische Höhe, von der sie herabgestiegen, blendender ist. Ein Fürstenkind bei den Karmelitessen oder Klarissen versöhnt tausend Arme mit den Nöten ihres Daseins, denn sie sehen, daß die irdische Größe sich gläubig und liebend in ein Dasein voll tausend Nöten versenkt. Es ist eine wundersame und gar nicht genug geschätzte Gnade, welch ein Segen auf dem guten Beispiel eines frommen Glaubens von oben herab liegt; es wirkt heilsam in die weitesten Kreise! O wenn doch recht bald nach alter Sitte aus jedem katholischen Fürstenhause zwei oder drei Töchter in ein Kloster strengen Ordens treten wollten! An diese zwei bis drei Prinzessinnen – fuhr Ernest zu Regina gewendet fort – würden sich dann zwei bis drei Dutzend hochadelige Fräulein anschließen und diese wiederum zwei- bis dreihundert Jungfrauen bürgerlichen Standes« ... –

»Halt, Halt! Herr Ernest, Sie entvölkern die Welt!« rief die Baronin ängstlich.

»Ja, von Proletariern, gnädige Frau,« entgegnete er gelassen; »und das wäre in der Tat äußerst wünschenswert, denn es gibt auch ein fürstliches und adeliges Proletariat, seitdem man sich in diesen Regionen nicht mehr dem geistlichen und dem Ordensstande widmet.«

»Man nennt das aber nicht so!« bemerkte sie mit leisem Vorwurfe im Tone.

»Ach, gnädige Baronin,« rief Ernest, und sah sie freundlich mit seinem treuherzigen klugen Auge an; mir steckt der unverbesserliche Bauernbube im Blut, so alt ich auch bin, und Sie werden immer große Verdienste sich zu sammeln haben durch Ihre Nachsicht mit mir. Aber hier darf ich doch wahrlich ohne Scheu von jenem Proletariat sprechen, das – man möge es so nennen oder nicht – leider in der Welt ist; denn die Windecker sind davon unberührt. Hier haben wir den hochwürdigen Herrn, und Graf Hyacinth tritt in dessen Fußtapfen ein.«

»Ja, die Liebe zum Leiden!« sagte Levin sinnend. »Diese himmlische Blüte entsproßt dem Baum des Glaubens nur, wenn er in voller Kraft steht! Nur da, wo er ganz tiefe Wurzeln in das Erdreich des Menschenherzens hineintreibt, wachsen seine Äste so stark und so hoch hinauf, daß sie sich von den irdischen Stürmen nicht mehr erschüttern lassen; und nur in dieser stillen Höhe entfaltet sich des Christentums mystische Passionsblume, die zeitweise in früheren Jahrhunderten zu so prachtvoller Entwicklung kam: die Liebe Zum Leiden.«

»Die ist allerdings heutzutage nicht Mode,« sagte Ernest; »im Gegenteil! Jedermann hat eine entschiedene Liebe zum Nichtleiden in einem solchen Grade, daß man sich gar keine Mühe mehr gibt, diese Übermacht des Erdgeistes in der eigenen Brust zu bekämpfen. Und das ist sehr erklärlich! Man muß anbetend vor dem Kreuze knien, um es liebend mit all seiner Herbe umfassen zu können. Aber wovor kniet die Welt? Ein Teil, der pantheistische, vor dem Gott, der sich im All offenbart und dessen Offenbarung nirgends herrlicher zu Tage kommt, als in dem Individuum A oder Z. Da beten denn Z oder A sich selbst an und beanspruchen für diese Gottheit in ihrer Brust die Glückseligkeitsfülle, die der Allmacht eigen ist. Ja, ja, Gräfin Regina, sehen Sie mich nur an mit Ihren Augen voll seraphischem Erstaunen! ich fable nicht! solcher Wahnwitz existiert nicht bloß in den wilden Phantasien hindostanischer Religionssysteme, die ihn erfanden, sondern auch in Köpfen, die von christlichem Taufwasser berührt sind – und er heißt Pantheismus. Es werden freilich viele schöne Phrasen und Floskeln drum und dran gehängt, um zu blenden und zu betäuben; aber die lasse ich bei Seite und gebe Ihnen »des Pudels Kern« – um mit Doktor Faust zu sprechen.«

»Also das sind die Pantheisten,« sagte Regina. »Nun und was betet die übrige Welt an, die nicht pantheistisch gesinnt ist, aber auch vom Kreuze nichts wissen mag?«

»Fetische, Gräfin Regina! – Der Fetisch ist, wie bekannt, jedes beliebige Ding oder Unding, Die alten Egypter beteten unter Anderen, nebst Krokodil und Katze, auch die Zwiebel an, weil sie gern dieselbe speisten. Wenden Sie das auf die Welt an! Der größte Fetischdienst wird aber unstreitig mit Papierschnitzeln getrieben.«

»Da muß ich auch zuhören!« rief Corona, und legte ihren Bleistift nieder, mit dem sie bis dahin fleißig gezeichnet hatte. »Das ist ja über allemaßen merkwürdig! – Also, Herr Ernest, Papierschnitzel!«

»Ja, Komteßchen, mit Zahlen bedruckte. Steht eine Eins darauf, so ist die Anbetung gering! Zehn – zehnmal höher! Hundert – hundertmal höher! Tausend – nun dann ist sie enorm! Ein Päckchen solcher mit der Zahl Tausend bedruckter Papierschnitzel – ja, wenn das da drüben zu Engelberg auf der Stelle läge, wo die heilige Mutter Gottes steht – und es hieße: Derjenige bekommt es, der zuerst auf Händen und Füßen den Berg erklimmt – o mein liebes Komteßchen, welch' eine Jagd würden wir erleben! Kein Glatteis, kein Regen, kein Schnee, keine dreißig Grad Hitze – nichts hielte diese Adoranten zurück, sich auf allen Vieren an die Eroberung ihres gebenedeiten Fetisches zu machen. Knieend die Wallfahrtstreppe zu ersteigen, andächtig dabei den Rosenkranz zu beten und sich in dieser kindlichen Weise vor dem göttlichen Kindlein Jesu zu demütigen: das ist in den Augen dieser Fetischdiener der höchste Grad des Lächerlichen und Törichten. Aber eine Promenade auf allen Vieren wäre höchst weise, respektabel und durchaus notwendig, wenn es sich um jene Papierschnitzel handelte; denn das sind Bankzettel, die Geldeswert haben – oder haben sollen.«

»Bankzettel!« sagte Corona im Tone getäuschter Erwartung. »Ich dachte Wunder, was das sein würde!«

»Sie sind gar nicht auf der Höhe des Jahrhunderts, wenn das Wort Sie nicht elektrisiert zu brennendem Verlangen. Ja, Bankzettel sind die Idole der Welt, denn sie verhelfen zum Genuß ihrer Herrlichkeit und darin besteht, nach vorherrschender Meinung, das Glück und die Würde des Menschengeschlechtes.«

»O,« rief Regina, »wie notwendig ist es, daß gegen diesen niedrigen Zug, der durch die Menschheit geht und sie entadelt, ein energischer Protest eingelegt werde und ein Zug nach dem himmlischen mit Entschiedenheit sich kund gebe! Je mehr die einen nach den Freuden der Erde schreien und rennen, desto mehr müsse die anderen ihre Verachtung dieser Nichtigkeiten an den Tag legen und nach übernatürlichen Gütern seufzen und streben.«

»Diesen himmlischen und ganz unausrottbaren Zug in der Menschheit, der durch ihre dunkelsten Epochen wie Sternenlicht schimmert, vertritt eben der Ordensstand,« sagte Levin. »Sein Dasein ist der energische Protest einer Menschheit, die nach dem Bilde Gottes sich geschaffen und für ein ewiges Leben bestimmt weiß; die sich als verbannt aus dem Paradiese führt und sich dahin zurücksehnt; die, voll geheiligter Willenskraft bewogen, eben so entschieden erlaubtem Erdenglück entsagt, wodurch sie, – wie Atalante durch die goldenen Äpfel – in ihrem Lauf gehemmt werden konnte, als man sich auf der anderen Seite, von brutalen Leidenschaften blind getrieben, gierig im Unerlaubten ergeht. Der Ordensstand ist der entschieden und in bestimmtester, gleichsam handgreiflicher Form ausgeprägte Protest der Kinder Gottes gegen das Gebühren der Kinder Belials. Daher der unaussprechliche Grimm dieser gegen jene! sie fühlen sich gleichsam bei Leibesleben schon verdammt durch die lichte Richtung, welche ihre finstere doppelt dunkel erscheinen läßt. Haben sie die Oberhand in den Angelegenheiten der Welt, so ist es regelmäßig ihre erste Großtat, das Klöster ausgehoben und Ordensleute verjagt werden. Dies sage nicht ich, dies sagt seit mehr als dreihundert Jahren die Geschichte. Jede Verbindung in der menschlichen Gesellschaft, welche irgend einem Zweige des Baalsdienstes huldigt, darf bestehen. Verbinden sich aber einige Männer oder Frauen, um gemeinsam dem göttlichen Heiland durch Gebet und Liebeswerke zu dienen, so wird irgend ein beliebiges Zetergeschrei so hartnäckig und so betäubend von ihren Widersachern angestimmt, als führten sie den Untergang der Welt herbei. Fahndet man aber auf die Singvögel wie auf Habicht und Geier, so wird der Wald stumm und öde und der liebliche Gesang verhallt, der dem Wandersmann das Herz frisch und fröhlich machte und ihn zuweilen veranlaßte einzustimmen in die friedlichen Hymnen. So sind denn auch wir gar arm jetzt an Klöstern und daher auch bitterarm an Gebet. Das Kloster ist so recht dessen Heimat. In der Welt bereiten ihm wohl auch fromme Seelen eine Stätte, allein es ist dort eine Ausnahme; im Kloster ist es die Regel. Dem Gebetsleben sich widmen: das war in den ersten christlichen Jahrhunderten der bezeichnende Ausdruck für das klösterliche Leben; er zeigte an, daß jede Arbeit, jede Beschäftigung, jedes Werk, jede Handlung durch das Gebet in der Vereinigung mit der Anbetung der Engel geschehen sollte. Das gemeinschaftliche Chorgebet, das durch Tage und Nächte zu festgesetzter Stunde anhub – die andächtige stille Betrachtung der heiligen Geheimnisse des Glaubens – die Anbetung des Sanktissimums, worin sich ununterbrochen, Stunde um Stunde, in gewissen Klöstern die Ordensleute abwechselten – das höhere, beschauliche Gebet, das sich versenkt in das Leben, Leiden und Sterben des Gottessohnes – das alles ist mit den Klöstern verschwunden. Dazu hat in der Welt niemand Zeit, niemand Lust, auch niemand Anleitung. Die Weltgeistlichkeit ist in viel zu geringer Zahl, um sogar den notwendigsten Anforderungen der Seelsorge zu genügen; wie sollte sie höhere Bedürfnisse des Seelenlebens pflegen können! Je mehr sie sich notgedrungen vielfachem Verkehr mit der Welt und deren Gesinnungen und Verhältnissen hingeben muß – desto heilsamer wär' es auch ihr, wenn sie die weltfremde Richtung des Ordenslebens vor Augen hätte und zu heiligem Wetteifer angespornt würde.«

»Es gab auch viele Mißbräuche in den Klöstern, viel Trägheit, Schwelgerei und Müßiggang,« bemerkte die Baronin, um Regina herabzustimmen, deren leuchtende Augen immer heller leuchteten, je länger der Onkel sprach. »Die Zahl der Klöster war zu groß, als daß der Beruf sie hätte bevölkern können; sie wurden ein Exil, wohin Eltern unliebsame Kinder schickten, oder ein Zufluchtsort für Taugenichtse, die dort ihr Behagen fanden.«

»Das mag alles stattgefunden und der liebe Gott den Klostersturm deshalb zugelassen haben,« entgegnete Levin. »Wir wissen ja sämtlich, daß der Mensch alles Gute mißbrauchen und jede Gnade in ihr Gegenteil verwandeln kann. Läßt er sich von Selbstsucht und Eigenliebe bestimmen und leiten, so ist er inner- wie außerhalb der Klostermauern ein Kind Belials. Überdies hat das Kloster, als solches, kein Privilegium, wodurch es hermetisch gegen die allgemein menschliche Schwäche verschlossen wäre. Jeder Bewohner desselben bringt sein Stückchen Schwachheit mit und der Reichtum einiger Klöster ist ihnen zum Verderben geworden.«

»Nun,« sagte Ernest, »diesen Stein des Anstoßes hat man ja mit zarter väterlicher Sorgfalt fast überall hinweg geräumt.«

»Wir wollen auch nicht darüber klagen,« entgegnete Levin. »Arm sein ist für alle Menschen ohne Ausnahme besser, als reich sein, weil die Armut auf Sinnlichkeit und Hochmut drückt, Reichtum sie nährt. Wer sich der Nachfolge Christi widmet, freut sich der Armut und nennt sie, wie St. Franziskus Seraphicus, seine geliebte Braut. Daß wir keine gefürsteten Äbte und Äbtissinnen haben, wollen wir verschmerzen – ohne doch das Recht anzuerkennen, welches sie von ihren Stühlen warf. Aber daß man die Engherzigkeit und Kurzsicht so weit treibt, um dem lieben Gott zu mißgönnen, daß ihm einige stille Seelen in demütiger Zurückgezogenheit, durch geistliche und leibliche Werke der Barmherzigkeit dienen – das ist wohl sehr schmerzlich. Nie gab es mehr Leid hienieden, als in unserer Zeit, weil seit achtzehnhundert Jahren noch nie die Begier nach Genüssen und Freuden und Wohlleben so allgemein verbreitet, so rasend gesteigert war, und weil sie noch nie einen solchen Schein von Zugänglichkeit für alle und jeden hatten, als eben jetzt vermöge der vielfach gesteigerten Mittel der Bildung, der Spekulation, der Tätigkeit, der Verbindung für kommerzielle Zwecke. Da wähnen denn alle und jeder, sie müßten ihren Sitz haben bei dem Festgelage des Lebens und sind mißvergnügt, wenn sie ihn nicht einnehmen. Diese massenweise getäuschten Erwartungen der Eitelkeit, des Dünkels, der Hoffart, der Lüsternheit machen die Menschen unsäglich elend, und sie wird nicht eher zu ihrem Frieden kommen, als bis sie das gefunden hat, was keine Revolution, wohl aber die Religion ihr geben kann: Liebe zum Leiden. Daß eine solche Liebe existiere, würde sie gewahr werden durch die armen Klöster, und wenn durch deren Beispiel, Anregung und Gebet auch nur hundert Herzen vom Dienste des Baal abgelöst würden – oder fünfzig, oder nur zehn – welch ein Gewinn für die Ewigkeit!«

»Wie würden die aber als Reaktionäre verschrien werden!« rief Ernest lächelnd.

»Gerade so wie in der französischen Revolution des vorigen Jahrhunderts diejenigen als Aristokraten verschrieen wurden, die sich nicht wollten guillotinieren lassen. Sie waren Reaktionäre gegen die Guillotine, die das letzte Mittel aller Vergewaltigung durch Revolution ist.«

»Es ist in der Tat kein übles Monopol, welches sich die revolutionäre Partei vindiziert, daß nur ihr Tun und Treiben als berechtigte Bewegung und Handlung gelten soll,« sagte Ernest. »Jede andere Bewegung empfängt das Stigma »Reaktion«! was die Bedeutung von Hochverrat gegen die Majestät dieser Partei haben soll, und was die gedankenlose und verschüchterte Menge ihr nachlallt. Übrigens gefällt es mir, daß die Demokraten sich somit als Aktionäre der Revolution bezeichnen; nämlich als solche, die auf dieselbe zum Vorteil ihrer Aufgeblasenheit spekulieren.«

»Mir ist das Wort »ultramontan« noch widerwärtiger!« seufzte die Baronin.

»Es ist auch – wo möglich – noch hämischer,« sagte Levin. »Jeder Katholik, der schlecht und recht seinen Katechismus glaubt und demgemäß spricht und handelt, soll ein »Ultramontaner« sein. Dies Wort, das nur einen geographischen Sinn hat, wird von der Revolutionspartei angewendet, um jemand zu bezeichnen, der Verrat am Vaterlande durch sein Glaubensbekenntnis begehen, während der »Reaktionär« diesen Verrat durch politische Institutionen treiben soll. Der Ultramontane ist selbstverständlich immer reaktionär; aber der Reaktionär – und wenn er der strengste Calviner oder Altlutheraner wäre – muß es sich auch gefallen lassen, »ultramontaner Tendenzen« beschuldigt zu werden, sei sein Abscheu vor der römisch-katholischen Kirche auch noch so heftig.«

»Wir Windecker,« sagte Korona, »sind Alle ultramontan und reaktionär; bei Onkel Levin angefangen und bei mir geendet.«

»Das wolle Gott!« sagte Levin.

»Ist das schwer, lieber Onkel?« fragte sie.

»Die Revolution zu hassen und zu bekämpfen ist für jemand, der Herz und Ehrgefühl hat, nicht schwer; allein der äußere Krieg gegen das Reich der alten Schlange genügt nicht; er muß auch innerlich gegen die Revolten der Selbstsucht geführt werden – und das ist schwer; das ist die ächte, wahre, heilige Reaktion gegen das Böse, die das Fundament jeder anderen sein müßte. Und ultramontan bist Du noch nicht, weil Du Deinen Katechismus auswendig weißt. O nein! Nur wer ein in Glauben und Werken lebendiges Glied ist des mystischen Leibes Christi, der sein sichtbares Haupt zu Rom im Stellvertreter Gottes, dem heiligen Vater, hat – und wer sich bestrebt zu leben, wie es sich ziemt für ein Kind des Reiches Gottes: der nur darf sich die Benennung ultramontan als einen Ehrennamen ausbitten. Dazu aber brauchen wir recht sehr den Gnadenbeistand Gottes.«

Corona küßte errötend des Onkels Hand und gestand sich heimlich, daß ein solcher Ultramontanismus seine Schwierigkeiten habe. Levin schlug einen Spaziergang vor. Der Graf war nach der Besitzung gefahren, wo früher Gratian gelebt hatte; man wollte ihm entgegen gehen. Die Sonne stand schon zum Untergang, aber die Hitze war den Tag über so drückend gewesen, daß man sich nicht im Freien hatte aufhalten können und daß man sich gegen die Einwendung der Baronin, welche nicht für Spaziergänge auf der Landstraße in der Dämmerung war, einstimmig aussprach. Sie ging nicht mit; Levin, Ernest, Regina und Corona machten sich auf den Weg und freuten sich des lieblichen Abends, der sich recht wie eine Gabe Gottes, mit seinem heiteren Frieden und stillen Segen über die Welt legte und all' deren Aufregungen und Leidenschaften für ein paar Stunden zur nächtlichen Ruhe brachte. Dann schlafen sie alle, die armen Menschen! dann sind sie alle hilflos, gebunden, still, auf gleicher Stufe, in gleicher Unfähigkeit, ohnmächtig hingesunken in die Hand Gottes, die ihnen die Erquickung des Schlafes spendet und sie dann erweckt für einen neuen Tag, der ihnen neue Gnaden bringt und in den sie ihren Unfrieden, ihren Haß, ihre Unruhe, ihren Hader bringen.

Aber diese friedvollen Seelen dachten an keinen Hader! Ernest mußte erzählen von seinen Reisen, von seinem Aufenthalt in fremden Ländern, von der wilden Schönheit des Hochgebirges und den zauberischen Reizen der südlichen Natur. Regina wollte wissen, ob wohl ein Punkt auf der Erde so schön sei, daß man darüber die Sehnsucht nach dem Himmel vergessen könne. Corona versicherte, sie fasse nicht, daß es irgendwo schöner sein könne als gerade hier um das liebe Windeck herum, hier – wo man Wasser und Berge, Fluren und Wälder beisammen habe.

»Wasser und Berge schön und gar freundlich gemischt,« entgegnete Ernest. »Indessen muß ich doch bekennen. Komteßchen, daß mir die mit Kaktus, Aloe und Myrthen umsäumten Felsenküsten der leuchtenden Meere des Südens – und die Granit- und Gletscherpyramiden des Hochgebirges mit ihren pyrenäischen Tälern und ihren Schweizerseen – großartiger, mannigfaltiger und malerischer erscheinen, als der kleine Main und als die Ausläufer des Odenwaldes hüben und des Spessarts drüben. Im Ganzen genommen haben Sie aber gar nicht unrecht! die Elemente der Naturschönheit sind überall dieselben, und das, was sie erst recht schön macht, die wundervolle Weisheit und Allmacht des Schöpfers, strahlt auch überall aus ihnen hervor.«

»So bin ich denn ganz gerechtfertigt in meiner Vorliebe für mein Windeck!« sagte Corona. »Ich weiß nun, daß es gewissermaßen alle Schönheit in sich faßt.« – Sie ging vor den übrigen her und zwar rückwärts nach Kinderart, um alle ansehen zu können, mit denen sie sprach. Plötzlich stieß sie einen kurzen Schrei aus, denn sie sah einen Stein von der Seite durch die Luft fliegen, und in demselben Augenblick sank Levin mit dem dumpfen Seufzer Jesus Maria! zu Boden. Sie hielten ihn für tot und knieten mit grenzenlosem Schmerz und Entsetzen neben ihm nieder. Der Stein hatte ihn dicht über der Schläfe verletzt und hätte leicht die gefährliche Stelle treffen können, da er, nach seiner Gewohnheit, den Hut abgenommen hatte und in der Hand trug. Das Blut strömte aus der Wunde. Regina suchte es mit Taschentüchern zu stillen, Corona unterstützte das Haupt des lieben Onkels Levin; beide zerschmolzen in Tränen. Ernest hatte auch Tränen in den Augen. Er hätte gern nach dem Frevler umhergespürt, aber er konnte die jungen Mädchen nicht verlassen und es dämmerte stark.

»Was fangen wir an?« wehklagte Corona.

»Wir warten auf den Vater, der ja bald kommen muß,« sagte Regina, »da er nie die Teestunde versäumt und es nicht weit von neun Uhr sein kann.«

Da schlug Levin die Augen auf und sagte:

»Ach, es ist nichts, liebe Kinder! Wir wollen Tücher um den Kopf binden und heimgehen.«

Er stand auf. Indem ließ sich das dumpfe Rollen hören, das auf einer Chaussee die Ankunft eines Wagens schon in großer Entfernung anzeigt.

»Gott Dank! da kommt der Graf!« rief Ernest. »Nun werd' ich ausschauen, wer diese Untat verübt hat.«

»Nicht doch, Herr Ernest,« sagte Levin, »das war ein Zufall! seien Sie ganz ruhig!«

»Ja, ein Zufall – der nur »Ultramontane« trifft!« rief Ernest empört.

»Genug, es bleibt bei dem Zufall!« entgegnete Levin.

Der Wagen kam näher. Ernest eilte ihm entgegen und erkannte bald mit unbeschreiblicher Freude die offene Kalesche des Grafen. Er winkte dem Kutscher Halt zu und des Grafen Erstaunen über Ernests unerwartete Erscheinung ging in zornige Bestürzung über, als er die ruchlose Tat erfuhr. Die Kalesche mußte die ganze Gesellschaft aufnehmen und langsam, jede Erschütterung vermeidend, fuhr der Kutscher heim.

Im Schloßhof empfing sie neue Bestürzung. Es war eben eine Staffette aus Stamberg mit einem Brief an den Grafen angelangt, schwerlich eine gute Nachricht bringend. Die Spannung der Baronin und der Dienerschaft löste sich in Jammern auf, als man den verwundeten Onkel Levin und Regina und Corona in blutbefleckten Kleidern sah. Die arme Baronin war ganz fassungslos. Ernest mußte ihr zwei- dreimal das Attentat erzählen, bis sie es verstand. Es wurden inzwischen Eisumschläge über die Wunde gemacht und Arzt und Wundarzt herbeigeholt. Regina besorgte alles mit Ruhe und Pünktlichkeit und ließ es sich nicht nehmen, die Nacht bei dem lieben Kranken zu wachen, der fortwährend versicherte, die Wunde sei unbedeutend, obschon der starke Blutverlust und der brennende Schmerz ihn sehr abmatteten. Die Staffette hatte einige Zeilen von Baron Stamberg gebracht: ein Schaganfall bedrohte das Leben der Baronin, doch war sie bei Besinnung und ihr Zustand noch nicht ganz hoffnungslos. Die vielfachen Gemütsbewegungen der letzten Zeit erschütterten ihr Nervensystem aufs heftigste. Als eine Erkältung dazu kam, trat der Anfall ein. Der Graf machte sich reisefertig. Er wollte nur abwarten, wie der Kranke die Nacht hinbringe und den Ausspruch des Arztes – und dann in der Morgenfrühe aufbrechen. Er sagte zu Ernest, der bei dem Verwundeten ab und zu ging und die Eisumschläge bereiten half:

»Welch eine Beruhigung für mich, daß Sie in diesem Augenblick hier sind, wo ich meine Töchter auf zwei bis drei Tage verlassen muß! Ich würde sie am liebsten mitnehmen, aber Regina trennt sich nicht von dem Krankenbett des guten Onkels.«

»Darf ich fragen, Herr Graf, weshalb Sie plötzlich so besorgt sind?«

»Man sagte mir in Jochhausen, es hätten sich dort gesindelhafte Figuren mit großen Bärten und Schlapphüten gezeigt. Das Attentat auf den Onkel beglaubigt ihre Nähe. Daß ich ein Reaktionär bin, versteht sich von selbst – und was ein solcher zu erwarten hat, auch wenn er sich fern von jeder politischen Demonstration hält, haben wir gesehen bei der Brandstiftung des Schlosses Waldenburg in Sachsen. Auf dergleichen muß unsereiner jetzt gefaßt sein.«

»Gott verhüt' es! kommen Sie nur recht bald wieder!«

»Mir brennt der Boden unter den Füßen, um fortzuziehen und heimzukehren, das glauben Sie mir! Aber ich muß meine arme Mutter noch einmal sehen. Als ich sie im Winter von Frankfurt aus besuchte, merkte man ihr nicht im Entferntesten ihre siebenundsechzig Jahre an – und jetzt! ja, solche Zeiten machen die kräftigsten Menschen kaput, weil man so tatlos dasitzen und von dieser Legion von Schwätzern sich tyrannisieren lassen muß. Hätte ich nicht die beiden Kinder, so ginge ich zu meinen Buben nach der Lombardei, wo man doch im Kampfe mit Ehren leben kann!«

Der Arzt traf in Begleitung eines Wundarztes ein und beide erklärten die Verwundung für schwer, aber nicht für gefährlich, vorausgesetzt, daß sich das Wundfieber nicht steigere; deshalb müsse die äußerste Ruhe und Stille den Kranken umgeben. Sie legten ihm einen regelrechten Verband an, lobten die Eisumschläge und empfahlen sich. Levin sagte lächelnd:

»Nun habt Ihr es von den Sachkundigen gehört: es hat gar nichts zu bedeuten. Eine Dornenwunde ist es vom Dornenkranz unseres Heilandes.«

»Das glaub' ich auch,« entgegnete Ernest gerührt.

Der Graf teilte nun die Erkrankung seiner Mutter dem Onkel mit, nahm Abschied von allen, versprach möglichst schnelle Heimkehr und reiste ab. Kaum war er fort, so ließ die Baronin Isabelle in aller Stille das Banner einziehen. Als es von den Zinnen sank fiel ihr ein Stein vom Herzen. Der Tag verstrich wie jeder andere und mit Levins Befinden ging es gut. Regina saß mit ihrer Arbeit in seinem Vorzimmer, während er still im Schlafzimmer ruhte. Zu bestimmten Stunden gab sie ihm Arznei oder einen kühlenden Trank und in der Zwischenzeit stand sie zuweilen auf, ging auf den Fußspitzen zur Türe des Schlafzimmers, schaute hinein und nickte zärtlich dem lieben Onkel Levin zu. Die Baronin, Corona und Ernest kamen und gingen; zuweilen auch Brigitte, Regina's Kammermädchen.

Es war gegen Abend, als diese geisterbleich und bebend eintrat und mit gebrochener Stimme flüsterte: »Unsere Leute, die von draußen kommen, sagen, es sei eine Rotte im Anmarsch, welche den Herrn Grafen um seine Gewehre bitten wolle. O liebster Heiland, was wird das für eine Bitte sein!«

Leise öffnete Ernest die Türe des Vorzimmers und winkte Regina zu kommen. Sie sagte zu Brigitte:

»Bleiben Sie ruhig hier und fürchten Sie sich nicht. Wir sind ja alle sicher in Gottes Hand. Ich will selbst mit unseren Leuten reden.«

Brigitte sank zitternd in einen Sessel und sah im Geiste schon eine Mordbrennerbande vor das Schloß rücken. Regina ging hinaus und fragte Ernest:

»Was ist denn Wahres an dieser Geschichte?«

»Ein Reitknecht, der Pferde frisch beschlagen ließ, begegnete auf dem Heimritt von der Schmiede zwei Männern, die ihn fragten, wie viel Gewehre der Windecker Graf wohl in seiner Gewehrkammer habe. Der Reitknecht gab zur Antwort, das wisse er nicht, und ritt von dannen. Er und die übrigen Leute sagen aber, es munkele schon seit ein paar Tagen von einem ungebetenen Besuch auf Windeck und Ihr Herr Vater schien gestern in Jochhausen Ähnliches gehört zu haben – nach seiner eigenen Äußerung zu schließen und nach denen des Kutschers und des Bedienten, die ihn begleiteten.«

Während er so sprach, gingen sie die Treppe hinab.

Unten in der Halle standen der Portier, der Koch, zwei Bedienten und ein paar Stubenmädchen und unterhielten sich eifrigst von den Dingen, die da kommen sollten.

»Was geht hier vor?« fragte Regina ernst. Aber ehe jemand antwortete, flog die Türe des Salons auf und die Baronin Isabelle stürzte, von ihrem Kammermädchen und von Corona begleitet, in die Halle und umfing mit krampfhaftem Weinen Regina. Nun sprach die ganze Dienerschaft auf einmal, was man alles tun müsse: das Hoftor und die Fensterladen schließen; die äußeren Türen verrammeln; Geld, Silberzeug und sonstige Kostbarkeiten zusammenpacken und dann übersetzen nach Engelberg; die Gewehre aber sämtlich vor dem Hof niederlegen, damit jeder Vorwand zum Einbruch in das Schloß entfernt sei.

»Welche Feigheit!« rief Regina.

»Ach Gott, ja! nach Engelberg!« seufzte die Baronin.

»Und Onkel Levin?« sagte Regina. »Nein! ich bleibe – und ich denke, wir bleiben alle, ruhig jeder bei seinem Geschäft und mit geöffneten Fenstern und Türen– ganz wie gewöhnlich. Kommt irgend jemand mit irgend einer Anfrage, so rufe man mich.«

»Regina!« rief die Baronin, »Du wolltest Dich weiß der Himmel welchen Beleidigungen aussetzen? O nimmermehr leid' ich das!«

»Liebe Tante, ich bin die älteste Tochter des Hauses und muß in meines Vaters Abwesenheit dessen Stelle vertreten. Ich tue meine Pflicht, Gott ist mit mir, und es wird keinem Menschen einfallen mich zu beleidigen,« sagte Regina sanft und fest.

»Kind,« sagte die Baronin in grenzenloser Aufregung, »Kaiser und Könige sind vor diesen Männern der Volkssouveränetät gewichen und haben ihnen ihre Rechte abgetreten – und Du willst ihnen ein paar Gewehre verweigern: das ist unerhört kühn.«

»Wollen Kaiser und Könige ihre Arsenale von dem souveränen Volk erstürmen lassen: so ist das ihre Sache; allein in dem unseren hat es nichts zu tun. Überdies find' ich, daß wir gerade so gut zum souveränen Volk gehören, wie irgend ein Blousenmann.«

Regina sagte dies alles so einfach und heiter, daß sich die allgemeine Aufregung etwas legte – nur nicht bei der Baronin. Sie rang die Hände und rief klagend:

»Was fangen wir an, wenn sie mit dem einbrechenden Dunkel kommen?«

»Halten Sie Windlichter bereit,« sagte Regina zu den Dienern. »Die werden ganz festlich die Audienz beleuchten, welche wir den Herren von der Blouse auf dem Perron geben werden, wenn sie heute kommen; was ja ganz ungewiß ist.«

»Gewiß kommen sie heute,« jammerte die Baronin; »gewiß benutzen sie des Vaters Abwesenheit.«

»Sollten sie davon unterrichtet sein?« fragte Regina.

»Versteht sich! ich ließ sogleich die Fahne einziehen.«

Regina lächelte und sagte zu den Dienern:

»Also wenn jemand in den Hof kommt, so rufe man mich; aber bei Zeiten, denn draußen will ich mit dem souveränen Volk sprechen – nicht hier in der Halle. Und Niemand zeige den ungebetenen Gästen Unruhe oder Mißtrauen.«

»Liebste Regina, ich fasse gar nicht Deine übermenschliche Verwegenheit,« sagte die Baronin. »Die Leute kommen vielleicht, um das Schloß an allen vier Ecken anzuzünden und Du willst mit ihnen Gespräche führen!« Regina nahm die Baronin unter den Arm, führte sie in den Salon zurück und sagte:

»Wer soll denn sonst mit ihnen sprechen, liebe Tante? man muß ihnen doch Bescheid geben und unsere Leute könnten sich verwirren lassen.«

»Daß der Rentmeister auch gerade jetzt auf vierzehn Tage Urlaub nahm! der ist redefertig und dreist!« seufzte die Baronin.

Regina erwiderte nichts, sondern ging in das Zimmer ihres Vaters, das zur Rechten neben dem Salon lag. Es war sein Schreibzimmer; sie ging hindurch; auch durch sein Schlafzimmer. Die dritte Türe, welche sie öffnete, war die der sogenannten Gewehrkammer, ein sehr geschmackvoll eingerichtetes kleines Arsenal, die Wände mit Eichenholz getäfelt und die verschiedensten Arten von Waffen trophäenmäßig darin aufgehängt. Eine Sammlung von Pistolen und eine andere von Dolchen enthielt alte, seltene und manche sehr kostbare Exemplare, welche sich der Graf mit vieler Mühe und großen Kosten verschafft hatte. Seine Gewehrkammer war seine Liebhaberei und noch weit mehr die seiner Söhne, die, wie alle junge Männer, eine wahre Leidenschaft für Waffen hatten. Und dies sollt' ich plündern lassen? Nimmermehr! sprach Regina bei sich selbst. Sie verschloß die Türe, nahm den Schlüssel, ging in den Salon zurück und sagte:

»Jetzt bekommen die Goldfische im Basin einen eisernen Kameraden.«

Die Baronin starrte sie an ohne sie zu sehen und fragte ganz stumpf, als Regina auf die Terrasse ging, zu Ernest gewendet:

»Was sagt sie?« was will sie?«

»Sie wirft den Schlüssel der Gewehrkammer in das Bassin,« entgegnete Ernest, der mit größter Freude Regina beobachtete.

»Ist Ihnen je ein junges Mädchen von solcher Löwenkühnheit vorgekommen, mit einem Trupp Blousenmänner es aufnehmen zu wollen!« flüsterte die Baronin mit versagender Stimme:

»Gräfin Regina hört alle Tage in heiliger Messe beten: Adjutorium nostrum in nomine Domini,« erwiderte Ernest. »Da sie glaubt, was sie hört und was sie mitbetet, so ist sie mutig. Die gnädige Baronin sollten sich darüber freuen und auch etwas Mut fassen.«

Regina kam aus dem Garten zurück und sagte:

»Ich gehe jetzt wieder zu Onkel Levin. Werd' ich aber abgerufen, so bitte ich Sie, Herr Ernest, mich bei ihm zu ersetzen und dafür zu sorgen, daß er sich weder erschrecke noch ängstige. Welch Glück, daß er gartenwärts wohnt.«

»Nein!« rief die Baronin sich ermannend; »dann gehe ich zu ihm und Herr Ernest bleibt an Deiner Seite.«

»Wenn Du mir versprichst, Onkel Levin nicht zu beunruhigen, liebe Tante,« wendete Regina ein und verließ den Salon. Sie ging zuerst in die Kapelle, um sich daran zu erinnern, wer unter dem Dach ihres Vaterhauses weile. Du bist es, o göttlicher Heiland, flüsterte sie vor dem Tabernakel niederkniend; und Du hast gesagt: »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.« Aber verwilderte, abtrünnige, ungläubige Menschen nehmen die Rechte, die den Fürsten gehören, und daß Du, gnadenreicher Herr, noch ganz andere Rechte habest – und daß sie diese mit Füßen treten: darauf sind sie stolz. Und solchen Menschen soll man aus Furcht nachgeben? Nimmermehr! Ich fürchte mich nicht »vor Denen, die nur den Leib töten können,« wenn ich »im Schatten Deiner Flügel wandele.«

Als Regina die Kapelle verließ, war es fast ganz dunkel, umsomehr, als sich ein schweres Gewitter über den westlichen Himmel und den Sonnenuntergang gelagert hatte. Sie wollte die Treppe hinauf steigen – da trat ein Diener rasch von Außen in die Halle und meldete, unten im Hof sei eine Truppe von Männern, die den Grafen oder sonst jemand im Schloß zu sprechen begehrten.

»Gut,« sagte Regina, »lassen Sie sie nur kommen; ich werde ihnen auf dem Perron entgegen gehen.«

Sie eilte in den Salon und rief: »Nun, liebe Tante, auf Deinen Platz! zu Onkel Levin.«

Die Baronin und Corona flogen beide auf sie zu und umschlangen sie, um sie festzuhalten.

»Zu Onkel Levin!« sagte Regina dringend und suchte sich los zu machen.

»Nein, nein, nein!« stammelte die Baronin wie besinnungslos vor Angst.

»So wollen wir in die Kapelle gehen,« sagte Regina, und zog beide rasch dahin. Als sie aber eingetreten waren, floh Regina mit einer schnellen Wendung hinaus und schloß die Türen von außen zu. Das alles ging blitzgeschwind vor sich. In der Halle stand Brigitte und warf eine Mantille um Regina's Schultern.

»Wer ist bei Onkel Levin?« fragte Regina.

»Herr Ernest.«

»Ah, das ist gut!« sagte sie und ging durch die Halle auf den Perron, wo sie stehen blieb, während eine Truppe von zwölf bis fünfzehn Männern durch den Hof auf den Perron zuschritt. Sie trugen das beliebte Kostüm des Tages, Blousen, wilde Bärte, Schlapphüte und hatten rohe, gemeine Gesichter. Vor dem Perron machten sie Halt, denn Regina trat ihnen entgegen und sagte:

»Sie haben meinen Vater sprechen wollen; er ist verreist. Was wünschen Sie von ihm?«

»Wir wollen nach Holstein ziehen,« sagte der eine.

»Und nach Baden!« rief der andere.

»Nein, nach Holstein!«

»Ich bitte allen Lärm zu vermeiden,« sagte Regina, »und möglichst kurz zu sagen, was Sie von meinem Vater wünschen. Wir haben einen Schwerverwundeten im Hause, der nicht beunruhigt werden darf und den ich nicht gern verlasse.«

»Wir wollen also für die Einheit und Freiheit des deutschen Volkes überall kämpfen, wo sie bedroht wird. Dazu brauchen wir Waffen, Flinten, Säbel, Pistolen – und da sich hier ein förmliches Waffendepot befindet, so kann es zu gar keinem besseren Zweck verwendet werden, als zur Volksverteidigung.«

»Sie sind im Irrtum über ein Waffendepot. Mein Vater besitzt nur Jagdgewehre, und eine Sammlung von altertümlichen, seltenen, für den Krieg ganz unbrauchbaren Waffen.«

»Mit denen aber doch auf das Volk eingehauen und geschossen werden kann!«

»Mein Vater schießt auf Wild, nicht auf Menschen.«

»Da jetzt die Grundrechte dem Volk die Jagd frei gegeben haben: so wird er seine Gewehre nicht mehr nötig haben und andere können sie besser brauchen – vorzüglich in den edlen Freiheitskämpfen.«

»Ich bedauere, Ihrem Wunsche nicht entsprechen zu können, indem mir nicht das Recht zusteht, über den Besitz meines Vaters zu verfügen – was Sie ganz in der Ordnung finden werden. Ich darf nichts fortgeben, was mir nicht gehört.«

»Sie brauchen es auch gar nicht zu geben,« rief derjenige, welcher den Freischarenzug nach Baden statt nach Holstein führen wollte, und schlug mit der Faust seinen Hut tiefer auf die Stirn. Wir borgen es!«

»Auch dazu hab' ich kein Recht.«

»So nehmen wir es!« schrie der Mensch.

»Dazu haben Sie kein Recht,« sagte Regina mit unverändert gelassenem Tone, wendete sich dann wieder zu dem Wortführer und setzte hinzu: »Sie sehen also, daß ich nicht im Stande bin, Ihren Wunsch zu erfüllen. Da nun die Nacht einbricht, das Gewitter heraufzieht und unser Kranker mich vermißt ....« –

»Der alte Pfaff!« rief der badische Freischärler.

»Woher wissen Sie, daß mein Onkel der Kranke ist?« fragte Regina lebhaft.

»Wir werden wiederkommen!« rief der Wortführer hastig. »In den nächsten Tagen kommen wir und zählen darauf, daß die Verteidiger der deutschen Einheit und Freiheit die notwendige Unterstützung finden werden.«

»Behüt' Sie Gott!« sagte Regina.

Statt ihren Gruß zu erwidern, stimmte er mit rauher Kehle an: »Schleswig-Holstein meerumschlungen« und seine Gefährten fielen ein.

Schade, daß Ernest nicht da war! er hätte ein recht malerisches »lebendes Bild« zu sehen bekommen, einen Gherardo della notte mit seinen Lichteffekten in der Finsternis. Die Halle und einzelne Fenster des Schlosses waren, wie gewöhnlich, beleuchtet und warfen ihren Schein in einzelnen Lichtstreifen auf den Hof und auf die Männergruppe, deren Figuren, je nachdem die Beleuchtung sie traf, bald aus dem Dunkel auftauchten, bald darin verschwanden, und im Ganzen eine, finstere, gestaltlose, unheimliche Masse bildeten. Ihnen gegenüber und durch die Höhe des Perrons, zu dem sechs breite Stufen hinanführten, über sie erhoben und von ihnen getrennt, stand Regina. Die Windlichter, ihr zur Seite von den Dienern gehalten, ließen sie ganz hell erscheinen und ihr weißes Kleid, ihre hellblaue Taftmantille umflossen sie mit sanftem Glanz. Wie Psyche in der Unterwelt stand sie da, ein himmlischer seliger Fremdling, zwischen den dunkeln, verzerrten, traurigen Gebilden des Orkus.


»Schleswig-Holstein stammverwandt!« brüllte die Bande, machte kehrt und zog ab. Regina blieb auf dem Perron, bis sie vom Hof herunter waren, das Gittertor im Rücken hatten und durch die Lindenallee der Chaussee zugingen. Nur einer von ihnen, der ein besonderer Liebhaber des Steinwerfens war, kehrte sich um und schleuderte mit kräftiger Faust einen Stein gegen einen der Löwen, die in Sandstein gehauen auf den beiden Pfeilern des Gittertores lagen, das den Hof schloß. Der ruhende Löwe, schwarz im goldenen Felde, war das Wappen der Windecker.


Als die wüsten Stimmen sich mehr und mehr entfernten, trat Regina in die Halle zurück und sagte zu dem einen Bedienten: »Der Portier soll das Gitter nicht früher schließen als gewöhnlich.«

Dann eilte sie zur Kapelle, schloß auf, kniete einen Augenblick vor dem Tabernakel nieder, nickte freundlich der Baronin Isabelle zu, die halbohnmächtig auf einem Betstuhl kniete – und ging schnell die kleine Treppe hinauf durch ihr Zimmer zum Onkel Levin, bei dem sie Ernest und Corona fand.

»Lieber Onkel,« sagte sie zärtlich, »wie befindest Du Dich? Hast Du mich auch nicht vermißt? – ich mußte ein kleines Geschäft besorgen.«

Sie kniete neben seinem Bett nieder und küßte seine Hand. Er sah sie mit unbeschreiblicher Liebe an, legte die Hand auf ihr schönes Haupt und sagte:

»Sieh', wie die heilige Mutter Gottes Dich lieb hat!«

»Die Herren Volkssouveränler,« nahm Ernest das Wort, »haben nicht Ihren schwebenden Schritt, Gräfin Regina, sondern treten auf mit dem vollen Gewicht selbstbewußter Majestät. Durch die abendliche Stille drang das dumpfe Geräusch auch in dies Zimmer, und da es den hochwürdigen Herrn beunruhigte, so sagte ich ihm einfach, um was es sich handle, damit er Sie durch ein Salve Regina der heiligen Mutter Gottes empfehle; und das hat denn auch seine Wirkung getan.«

»Es war aber schauerlich!« sagte Corona und schlang den Arm um Reginas Nacken, als wolle sie die geliebte Schwester noch nachträglich festhalten.

»Wo warst Du denn?« fragte Regina. »Ich schloß Dich ja in der Kapelle ein.«

»Aber ich lief über die kleine Treppe durch Dein Zimmer zu Brigitte. Da löschten wir das Licht aus und übersahen den ganzen Hof!« rief sie eifrig.

»Ja,« sagte Ernest trocken, »das Komteßchen war neugierig! sonst hätte es wohl zum würdigen Herrn kommen und mich ablösen können! und dann wär' ich zu Gräfin Regina gegangen.«

»Ich dachte, Tante Isabelle wolle Sie ablösen, Herr Ernest,« erwiderte Corona kleinlaut.

»Ach, die arme Tante!« rief Regina mitleidig. »Ich muß sie holen, damit sie uns alle beisammen sieht und zur Ruhe kommt.«

Sie eilte hinab. Ernest sagte zu Corona:

»Komteßchen! Ihre Schwester ist ein goldenes Herz.«

»Und will in's Kloster!« platzte Corona heraus.

»Ah! will sie das!« rief Ernest freudestrahlend. »Das sieht ihr ähnlich! da hat sie recht.«

»Aber Papa will es nicht und wir alle wünschen es auch nicht,« entgegnete Corona; »und so wird wohl nichts daraus werden.«

»Es wird das geschehen, was Gott will!« erwiderte Ernest, und Levin setzte hinzu:

»Amen.«

Die Baronin erschien, ganz erschöpft auf Reginas Arm gelehnt, und ließ sich von ihr Zuckerwasser à la fleur d'orange bereiten.

»Willst Du nicht auch etwas nehmen, Kind?« fragte sie. »Bist Du nicht ungeheuer alteriert?«

»Gar nicht, liebe Tante!« entgegnete Regina munter. »Ich habe starke Nerven! – Aber zum Tee wollen wir gehen.«

»O Himmel!« rief die Baronin, »kommt jetzt erst die Teestunde? Ich dachte, es sei Mitternacht. Nun so geht nur. Ich kann nichts genießen und bleibe hier.« –

So endigte dieser Tag ruhig am Teetisch, wie jeder andere. Mit dem wilden Besuch war auch das Gewitter abgezogen. Bis Mitternacht wachte Regina dann noch in der trauten Kapelle im Frieden ihres Gottes und ihres Herzens. –


Ihr Vater war inzwischen wohlbehalten auf Stamberg angelangt. Er fand seine Mutter nicht nur nicht in Lebensgefahr, sondern die Aerzte, die aus Darmstadt und Heidelberg gerufen waren, versicherten sogar, daß sie sich erholen könne, wenn sie recht gepflegt und geschont werde. Ob ihr Mann sich darauf verstehe, war dem Grafen zweifelhaft; denn Baron Stamberg, übrigens der harmloseste Mensch auf Erden, war jetzt in einer permanenten Wut, weil der Gegenstand seines lebhaftesten Interesses hienieden ihm durch die Erfindung der Grundrechte beeinträchtigt wurde: die Jagd, die geliebte Jagd! Statt also seine Frau zu beruhigen, regte er sie doppelt auf – zuerst durch seine zornig gereizte Stimmung welche die Zukunft für ewige Zeiten rabenschwarz und hoffnungslos sah; dann durch den Ärger, den sie empfand, weil er so ganz außer Rand und Band war. Der Graf konnte nicht umhin, Vergleiche anzustellen zwischen Stamberg und Windeck, die ganz zu Gunsten Windecks ausfielen; denn, sprach er zu sich selbst, wenn ich auch – und zwar mit vollem Rechte – über die gegenwärtigen öffentlichen Zustände wüte und Isabelle ein weniges zu viel lamentiert: so haben die übrigen doch frische Hoffnung und guten Mut – was allerdings heroisch ist! – und Hoffnung ist ansteckend. Ohne Hoffnung aber ist das Leben eine Hölle. Ich meinesteils möchte nicht hier bleiben!– –

Brigitte sagte am andern Morgen, während sie Regina's schönes Haar flocht, ganz schüchtern:

»Haben die Gräfin wohl den Herrn Hauptmann bemerkt?«

»Warum titulieren Sie den Rädelsführer so feierlich als einen Herrn Hauptmann?« fragte Regina lächelnd.

»Den meine ich nicht,« entgegnete Brigitte, »sondern Herrn Florentin, dessen Zuname ja Hauptmann ist.«

»Florentin! unser Florentin? Wie käme der unter eine solche Bande!« rief Regina überrascht.

»Ich möchte wetten, daß er es war!« sagte Brigitte.

»Meine Schwester war ja bei Ihnen; hat auch sie ihn erkannt?«

»Ich glaube nicht! Sie hat wenigstens nichts geäußert.«

»Und ich glaube, daß Sie träumen, Brigitte! Hüten Sie sich vor solchen Äußerungen, die ein verkehrtes Geschwätz unter die Leute bringen, dem armen Florentin viel schaden und meinem Vater sehr wehe tun könnten. In der unbestimmten Beleuchtung und bei Ihrer Ängstlichkeit haben Sie gewiß nicht erkannt, welche Gesichter denn eigentlich zwischen Hut und Bart steckten. Es wird jetzt so viel Falsches und Lügenhaftes in die Welt gesprengt, daß man sich mehr denn je vorsichtig in Worten zeigen und auch nicht alles glauben muß, was die Leute erzählen.«

»Wie hätte die Bande wohl wissen können von der Gewehrkammer des Herrn Grafen!«

»Gutes Kind,« versetzte Regina, »ich bin fest überzeugt, daß man auf zehn Stunden in der Runde ganz genau weiß, wie es hier aussieht und was hier vorfällt. Das spricht sich herum – auch ohne den armen Florentin.« –

Regina nahm ein Buch zur Hand und Brigitte sah sich genötigt, ihr Geschäft schweigend zu vollenden. Dennoch blieb sie dabei, sie habe Florentin erkannt. Und sie hatte auch ganz recht. Er hielt sich in Frankfurt auf. Je näher dem babylonischen Feuerofen der Leidenschaften – desto besser! da konnte er an jedem Ereignis teilnehmen, zu jeder Bewegung mitwirken. Warum nicht auch in Windeck um Waffen bitten für die Freiheitskämpfer der Einheit Deutschlands? Er fand das sehr erhaben; der Graf selbst mußte, trotz reaktionärer Gesinnung und ultramontaner Umgebung, für Schleswig-Holstein Sympathien haben und die Freischärler mit offenen Armen empfangen, das war ja gar nicht anders möglich. Heroisch wollte er den Zug nach Windeck führen. Der Steinwurf, den ein roher Gesell aus dieser Schar abends zuvor, als er von Ferne einen Priester erblickte, auf Levin warf, verstimmte Florentin auf's äußerste, denn im unglücklichen Falle wäre das ein Meuchelmord gewesen – und damit wollte er nichts zu tun haben. Als er nun gar die Abwesenheit des Grafen erfuhr, wäre er am liebsten wieder umgekehrt; denn vor wem sollte er seine gracchische Rede halten? Doch Umkehr ließen seine Kameraden nicht zu; sie wollten nicht unverrichteter Sache abziehen und Florentin blieb, um den Ausgang derselben zu überwachen. Als aber Regina erschien, versenkte er sich in die tiefste Dunkelheit und überließ einem anderen das Wort. Der Moment war doch nicht großartig genug, um vor ihr in der vollen Würde eines Volkstribuns auftreten zu können. Vor dem Grafen schon eher! aber vor ihrem klaren, unbestechlichen Auge – nimmermehr! Wie er sie da sah auf dem Perron, so unaussprechlich edel in ihrer Ruhe, so umflossen von einer Sphäre von Licht fielen ihm als schneidender Gegensatz Frauen ein, die er an Barrikaden gesehen hatte, in karikierter Begeisterung und verzerrter Leidenschaft. Unwillkürlich mußte er sich eingestehen, daß jene Freiheitsheldinnen einen widerwärtigen Eindruck neben dieser Vertreterin der Reaktion machten. Er war froh, als der Rädelsführer den Abmarsch antrat und fest entschlossen, einen zweiten Zug gen Windeck nicht mitzumachen. Die brutalen Bemerkungen seiner Kameraden über Regina und ihre Schönheit machten alles Blut in seinen Adern vor Zorn kochen; aber was war da zu tun? – nichts, als in der Liebe für die Volksfreiheit alles Mißbehagen zu ersticken. In der dunkeln Lindenallee kehrte sich Florentin nach dem Schloß um, das mit seinen abendlichen Lichtern so friedlich und heimlich da lag, als ob weder Revolution noch Freischaren in der Welt wären; und der schöne Löwe am Tor, gegen den so eben der grimmige Steinwurf geschah, ließ sich auch gar nicht stören auf seinem Pfeiler und hielt seine Wache fort. Da dies sich nun alles so entsetzlich aristokratisch ausnahm und Regina, das versöhnende Element, aus dem Bilde verschwunden war, so fühlte sich Florentin wieder in seinem Gleichgewichte, d.h. in seinem Haß gegen traditionelle Vorurteile, Kastengeist etc. und grimmig hob er einen Stein auf, um ihn seinerseits gegen einen der stolzen Löwen zu schleudern. Aber er ließ ihn fallen und murmelte für sich: Großtaten der Gassenbuben? – pfui, Florentin! –

Am dritten Tage kam der Graf zur größten Freude der Seinen wieder aus dem Odenwalde zurück, beruhigt über das Befinden seiner Mutter – und ebenso über den Zustand der Besserung, worin er den Onkel Levin antraf. Natürlich wurde ihm gleich von allen Seiten der Freischarenbesuch mitgeteilt.

»Wer weiß, ob ich mich so ruhig benommen hätte wie Regina,« sagte der Graf liebreich.

»Drum hat es der liebe Gott gerade so gefügt!« rief sie munter und küßte seine Hand.

»Hattest Du denn gar keine Furcht dem wüsten Gesindel gegenüber, das Dich durch Wort oder Tat hätte beleidigen können?«

»Nein, gar nicht,« sagt sie.

»Und hattest niemand, um Dich zu beschützen?«

»O doch!« rief sie, zog ihren Rosenkranz hervor, küßte das kleine Kruzifix mit dem Partikel vom wahren Kreuz und setzte hinzu: »Im Schutz des Kreuzes bin ich gefeit.«

»Das ist ein Glaube, der Berge versetzt,« sagte der Graf.

»Und der die Welt überwindet,« bemerkte Ernest. –

Das Befinden der Baronin Stamberg wurde besprochen, und als der Graf beklagte, daß sie keine andere Pflege als von Dienerinnen habe, erbot sich Regina sogleich, zur Großmama zu gehen.

»Kind, Du bist allzu vollkommen, das ist auch eine Art von Unvollkommenheit!« sagte der Graf unmutig, der durchaus nicht gewillt war, sich der Gesellschaft seiner Tochter zu berauben.

»Um's Himmelswillen nicht!« flehte die Baronin Isabelle. »Im Badischen hausen die Freischaren und könnten einmal Stamberg überfallen.«

»Nun, wegen der bekannten Freischarenbravour könnten sie dort wohl bald ausgehaust haben,« bemerkte Ernest.

»Vor der Hand ist nicht daran zu denken,« sagte der Graf. »Ich kann doch unmöglich ganz allein bleiben? Die Buben sind fort – nun soll ich auch meine Regina fortschicken? Nein, daraus wird nichts.«

Die Buben, wie er sie nannte, machten freudig den Feldzug in der Lombardei mit. Uriel schrieb fleißig, und die Siegesnachrichten von jenseits der Alpen lichteten die trüben Zustande diesseits derselben.

»Mailand hätten wir wieder!« rief der Graf froh. »Jetzt nur auch bald Wien.«

»Wird schon kommen!« entgegnete Ernest zuversichtlich.

»Ach, aber der heilige Vater!« sagte Regina beklommen. »Das undankbare Rom mißhandelt sein mildestes Herz – und wer weiß, ob ihn die Revolution nicht verjagt oder Schlimmeres noch begeht.«

»Daran sind die Stellvertreter Christi gewöhnt,« bemerkte Levin. »Vom ersten Apostelfürsten an, der auf dem Janikulus kopfabwärts gekreuzigt wurde und dessen dreizehn erste Nachfolger sämtlich den Martertod für den katholischen Glauben fanden – bis zur heutigen Stunde haben dem sichtbaren Oberhaupt der heiligen Kirche Schmach und Geißelung, Dornenkranz, Kreuzigung und Herzenswunde so wenig gefehlt, als einst dem Gottessohn selbst. Hörte die eine Art von Martertum auf, so brach die andere an: heidnische Verfolgung, Heimsuchung durch Barbaren, deutschrömische Kaiser, französische Könige, die furchtbarsten wildesten inneren Faktionen voll republikanischer Gelüste und Adelstyrannei, Schisma und Häresie haben sich seit achtzehn Jahrhunderten über und gegen Rom gewälzt und dem Stellvertreter Christi seinen reichlichen Anteil am bitteren Leiden des Herrn gebracht; denn in der Siebenhügelstadt liegt mystischer Weise auch der Hügel Golgatha; ja, er ist recht eigentlich das Fundament des Vatikans – und das haben die Stellvertreter Christi in so vollem Umfang begriffen, daß es dem bittersten Haß und der feindlichsten Scheelsucht nicht möglich ist, mehr als fünf oder sechs Päpste ausfindig zu machen, welche die Nachfolge Christi nicht angetreten hätten – also einer etwa in dreihundert Jahren, bei dem der natürliche Mensch den übernatürlichen besiegte! Welche lange, lange, wunderbare Reihe von Heiligen, und wie selten wird sie unterbrochen durch einen armen Sünder!«

»Man bekommt eine Art von Grauen vor der Heiligkeit,« nahm der Graf das Wort, »wenn man sie immer und immerfort in einer Sündflut von Leiden und Bitterkeiten gewahr wird.«

»O lieber Vater, sind das aber die Bedingungen zur Heiligkeit, wie gern müssen wir sie annehmen!« rief Regina – und Levin sagte:

»Das Auge des Glaubens nimmt die Dinge anders wahr, als das sinnliche und vom Irdischen befangene Auge. Leiden machen gottähnlich – sagt der fromme Heinrich Suso. Gottähnlich zu werden, das Ebenbild Gottes in der Seele herzustellen, ist die Aufgabe jedes Christen und ist das ersehnte und angestrebte Ziel jedes Gläubigen. Was ihm dazu behilflich ist, heißt er willkommen. Nichts adelt die Seele mehr, als ein mit frommer Ergebung und edler Geduld getragenes Leiden. Das gibt ihr die Stigmata der Kreuzigung und auf ihnen ruht das Auge Gottes mit ewiger Liebe. Wer sie trägt, ist Gott wohlgefällig, denn er ist Christus ähnlich – und in dieser Liebesverbindung mit Gott führt der gläubig-leidende Mensch schon hienieden mitten in seiner Trübsal ein seliges Leben, weil der Friede der Seligen in ihm ist.«

Ernest sah ihn an, während er so sprach, und dachte, daß auf diesem zarten durchschmerzten Antlitz die Stigmata des Kreuzes nicht fehlten – aber auch nicht die balsamischen Tröstungen der Kreuzesliebe. Er sagte:

»Kein Thron der Welt ist von so verschiedenen Seiten und so zu allen Zeiten von Stürmen umbraust worden, als der Stuhl des heiligen Petrus. Der liebe Gott läßt das zu, um zu zeigen, daß Er ihn halte. Päpste in der Verbannung durch – und auf der Flucht vor Faktionen, Päpste in der Gefangenschaft – sind ganz häufige Erscheinungen in der Geschichte, und nicht selten traf die ausgezeichnetsten das Loos. Leo III. floh vor häretischen Aufrührern nach Paderborn zu Karl dem Großen. Gregor VII. starb in der Fremde zu Salerno, von einem Gegenpapst, den ein deutscher Kaiser wählte und stützte, aus Rom verdrängt. Bonifatius VIII. starb an den Mißhandlungen, welche König Philipp der Schöne von Frankreich, in Verbindung mit einer Partei des römischen Adels, ihm zufügte. Dann gerieten die Päpste während siebenzig Jahren unter die königlichen französischen Kerkermeister, welche die Faktionen in Rom auszubeuten verstanden – und lebten im babylonischen Exil zu Avignon. Später ließ Kaiser Karl V. Papst Klemens VII. in Rom belagern. Unsere Tage haben Pius VI. von französischen Republikanern, die Rom als Republik proklamierten – gefangen nach Frankreich schleppen und in der Gefangenschaft zu Valence umkommen sehen. Und wie das vorige Jahrhundert schloß, so begann das jetzige! Napoleon Bonaparte vereinigte den Kirchenstaat mit Frankreich und hielt während der letzten fünf Jahre seiner Zwingherrschaft Papst Pius VII. in der Gefangenschaft zu Savona und zu Fontainebleau. Dann wanderte er nach St. Helena und starb auf der Felseninsel im tropischen Meere – und Pius VII., der gottselige unüberwindliche Greis, kehrte nach Rom zurück und beschloß auf dem Stuhle Petri sein heiliges, vielgeprüftes Leben. Die Signatur, unter welcher, nach jener uralten Prophezeiung, sein Leben stand, hat sich bewährt; sie hieß Aquila rapax »der raubgierige Adler«. Aber die Taube hat den Adler besiegt.«

»Ja, in Wahrheit besiegt!« rief Levin. »Und viel mehr, als man geneigt ist, ihm zuzugestehen, zwischen den politischen und kriegerischen Ereignissen, die den korsikanischen Diktator stürzten. Ich erinnere mich lebhaft des ungeheuren Enthusiasmus, der in den katholischen Herzen aufflammte, als Pius VII. auf das berüchtigte napoleonische Dekret, das im Jahre 1809 den Kirchenstaat mit dem französischen Reich vereinigte und den Papst mit einer Rente von zwei Millionen Francs pensionierte – durch die Exkommunikationsbulle antwortete. Alle Monarchen Europas litten Vergewaltigung durch jene Gottesgeißel; die einen zitterten vor ihm und die anderen schlossen Freundschaft mit ihm, und die zertretenen Völker zähneknirrschten in Blut und in Tränen gebadet. Europa erseufzte und erlahmte unter dem Alp, ohne ihn abzuschütteln. Da schleudert der machtlose, von französischen Soldaten in seiner eigenen Residenz umgebene und der Tat nach gefangene Greis die Exkommunikation über alle, welche Gewalttat im Kirchenstaat ausüben, und läßt die Bulle am hellen Tage, angesichts der französischen Truppen, an den drei Hauptkirchen Roms anheften. Der Blitz vom Vatikan hatte zu gut getroffen, als daß Napoleon ihn, ohne Rache zu nehmen, verschmerzt hätte. In der Nacht zum 6. Juli drang der General Radet mit Gewalt in den päpstlichen Palast und entführte den heiligen Vater samt dem Kardinal Pacca, dessen Simon von Cyrene, aus Rom und Italien. An diesem nämlichen 6. Juli besiegte Napoleon in der Schlacht von Wagram Österreich. Mehr denn je war Europa geknechtet, und hohnlachend des Bannes schrieb Napoleon spöttelnd an den Vizekönig von Italien, seinen Stiefsohn: »Croit-il que ses excommunications feront tomber les armes des mains de mes soldats?«»Glaubt der Papst, daß durch seine Exkommunikation meinen Soldaten die Waffen aus der Hand fallen werden?« Nun, der Tag ließ nicht lange auf sich warten, wo der ewige Gott die Bulle seines irdischen Stellvertreters ratificierte! Zwei Jahre darauf, im russischen Feldzug, geschah buchstäblich das, was Napoleon im blinden Wahn seiner Omnipotenz für unmöglich hielt: die Waffen fielen aus den erfrorenen Händen der französischen Soldaten und der Rückzug aus Rußland war eine der furchtbarsten Niederlagen einer Armee, welche die Weltgeschichte aufzuweisen hat. Mit ihr begann die Sonnenwende des Napoleonischen Glückes und sie war eine Tat Gottes – nicht menschlicher Weisheit und Kraft. Könnte der Felsen Petri pulverisiert werden, wie der Haß der Hölle es seit achtzehn Jahrhunderten begehrt und versucht: so wäre es längst geschehen. Statt dessen werden ihre Sendlinge pulverisiert. Die Dynastie des armen Fischers ist unsterblich! Unser heiliger Vater gehört ihr an. Man kann ihn zu Tode quälen, aber sie lebt fort.«

»Ist auch über ihn eine Prophezeihung gesprochen?« fragte Corona.

»Ja wohl!« entgegnete Ernest. »Das Wort der Weissagung über ihn heißt: Crux de Cruce. Gewiß eine großartige, gewichtige Verheißung »Kreuz vom Kreuze,« die ein Übermaß der Leiden andeutet.«

»Wer hat denn das alles prophezeit?« fragte sie.

»Ein Bischof Malachias zu Armagh in Irland,« erwiderte er.

»Welche Rätsel gehen durch die Welt,« sagte Regina, »gleichsam Dissonanzen, welche erst spät ihre Auflösung finden, und doch so groß und mächtig in der Harmonie mitwirken.

»Ich würde wünschen, daß sich die Dissonanzen der Gegenwart möglichst bald lösten,« sagte der Graf. »Dies ohrzerreißende Freiheitsgeheul kann nimmermehr zur Weltharmonie mitwirken.«

»Doch!« sagte Ernest: »nur nicht für die Gegenwart! Es ist aber geringe Hoffnung vorhanden, daß sich Ihr Wunsch, Herr Graf, erfülle.«

»Sie sind ja ein wahrer Unglücksprophet, Herr Ernest!« rief die Baronin Isabelle. »Ist denn auch über unsere Zeit, wie über die Päpste, eine traurige Weissagung gesprochen?«

»Nicht daß ich wüßte,« entgegnete Ernest gleichmütig. »Allein es geht ein gräßlicher Zug durch die Zeit, den jeder wahrnehmen kann, der Augen hat: sie neigt sich massenhaft der Tiefe zu und diese Massen haben ihre dämonische Freude daran, daß dem so ist. Es gab Epochen in der Weltgeschichte, die wilder und ungeordneter waren, als die Jetztzeit, in denen sich mehr Gewalttat, Roheit, brutale Sinnlichkeit, und auch massenhaft, zeigten.«

»Nun, das ist beruhigend,« unterbrach ihn die Baronin, »denn Sie geben damit zu, daß es schlimmere Zeiten gab.«

»Der Nachsatz folgt!« erwiderte Ernest. »Aber in jenen Epochen sittenloser Verwilderung, die zu mannigfachen Gräueln führte, fehlte die charakteristische Signatur der Jetztzeit: heuchlerische Schöntuerei mit Bildung, Fortschritt, Geist, welche den furchtbaren Abfall von Gott und vom Christentum als einen Riesenschritt aufwärts anpreist und hinter jenen drei Worten den Kultus des Materialismus verschleiert. Viel lesen und viel schreiben – ist Geist; viel Eisenbahnen und Börsenspekulationen haben – ist Fortschritt; viele Opern und Ballets angaffen und im raffiniertesten Luxus den Nerv der Seele abstumpfen und das Gehirn schwächen – ist Bildung: und diese drei Zauberworte sollen weiter nichts bezwecken, als dem Menschen einen möglichst hohen Lebensgenuß zu verschaffen, der durch die alte fixe Idee der christlichen Menschheit von Gott – bis jetzt beeinträchtigt wird. In anderen schlimmen Zeiten vergaß man nicht sowohl Gott, als vielmehr seine Gebote und im Sturm tobender Leidenschaften kümmerte man sich nicht um ihn. Die Sinne sündigten im Taumel; nicht der Geist mit Überlegung. Roher waren die Frevel – vielleicht! gewiß nicht so niederträchtig. Das hämische Bemühen, den ewigen Gott vom Thron der heiligen Dreifaltigkeit herabzureißen, die Weltordnung von seiner Allmacht abzulösen, die Menschheit von seiner Gnade und Liebe hinweg zu drängen, an die Stelle des menschgewordenen Gottes den Wechselbalg eines Gottes zu bringen, der in jedem einzelnen Menschen zum Bewußtsein kommt, in der Gattung Mensch – den Zwillingsbruder der Gattung Affe zu sehen, der sich von dieser nur durch sein größeres Gehirn unterscheidet: und dies Bemühen auszuführen, kaltblütig, hohnlächelnd, Brill' auf der Nase, Bein' unter dem Schreibtisch, in zahllosen Werken, Schriften, Vorträgen, Vorlesungen, die sündflutartig aus allen Weltgegenden, in allen Sprachen, in gebundener und ungebundener Rede, gedruckt und gesprochen, eindringen und einbrechen und – auf die die Sympathien der niederen Instinkte in der Menschheit pochend – frech behaupten, dies und nur dies sei ächte und rechte Wahrheit: diese massenhafte Lüge ist die Signatur unserer Zeit. Im alten, heidnischen, absterbenden Römerreiche gab sich ein ähnliches Bemühen kund, den Gott der Christen aus den Seelen der Gläubigen zu reißen, und schon damals hieß es, das Christentum verdumme die Leute und mache sie gleichgiltig gegen Philosophie, Wissenschaft, heiteren Genuß des Daseins und andere hohe Dinge mehr – und um sie aus ihrer Gleichgiltigkeit aufzuwecken, ließ man wilde Bestien gegen sie los und folterte sie mit Feuer und Eisen. Allein dies Bemühen ging von Heiden aus und die Antwort, welche die Christen darauf gaben, war der Martertod von Millionen und die Bekehrung von Millionen aus dem Heidentum zum Christentum. Jetzt aber findet den Bemühungen getaufter Heiden gegenüber, die so gefährlich sind, weil sie nicht direkt den Abfall vom Glauben, sondern nur von höherer Erkenntnis, wissenschaftlicher Forschung, Licht der Aufklärung predigen – keine massenhafte Bekehrung zum wahren Glauben statt: folglich ist es unmöglich, daß die kreischenden Dissonanzen schnell gelöst werden. Sie behalten im Gegenteil die Oberhand und werden vermutlich noch lauter aufheulen.« –

Ein Jahr vorher hätte der Graf gewiß geantwortet: politische Revolutionen hätten nicht das mindeste mit dem religiösen Glauben oder Unglauben zu tun; aber jetzt war ihm doch ein gewisser Zusammenhang derselben nicht unwahrscheinlich und er begnügte sich mit der Äußerung:

»Die Soldaten müßten nur mit gehöriger Energie auf sämtliche Demokraten-, Republikaner-, Carbonari-, Sozialisten-, Freimaurer- und sonstige Nester losgehen: dann würde es schon besser werden.«

»Äußerlich vielleicht,« sagte Levin, »aber jene armen Menschen würden schwerlich dadurch gebessert!«

»Nun bedauern Sie die noch gar, bester Onkel!« rief der Graf empört.

»Ich auch!« sagten Ernest und Regina aus einem Munde.

»Das ist unerhört!« rief der Graf. »Nein! ich hasse sie gründlich.«

»O lieber Vater!« rief Regina, »auch sie sind als Ebenbild Gottes geschaffen und machen sich zu seinen Feinden! Kann es etwas Erbarmenswerteres geben? und wer weiß denn, ob ihr Irrtum nicht größer ist, als ihre Bosheit.«

»Das muß man hoffen!« sagte Levin. »Der Irrtum, dem nie das wahre Licht geleuchtet hat, dem nie die katholische Wahrheit aufgegangen ist – ist unaussprechlich zu beklagen. Von ihm heißt es in der Tat: er weiß nicht, was er tut. Der freiwillige, absichtliche Irrtum hingegen, der »das Licht haßt, weil seine Werke böse sind« – wie es in heiliger Schrift heißt – der steht in engster Wechselwirkung mit der Sünde und beide bedingen und verstärken einander. Sünde befleckt das Herz, und die Nebel, welche aus einem solchen Herzen aufsteigen, beflecken die Intelligenz und berauben sie tiefer Einsicht und reiner Erkenntnis. Nicht umsonst hat der göttliche Heiland gesagt: »Die reinen Herzen werden Gott schauen.« Je mehr das Menschenherz in Sünden vergraben ist, desto weniger Erkenntnis hat es von göttlichen Dingen, desto weniger Liebe spürt es für Göttliches. Dadurch gerät es allmälig in eine, seiner Bestimmung genau widersprechende Richtung: in die Feindschaft Gottes. Der Verlust der heiligmachenden Gnade beraubt es des übernatürlichen Lebens. Gibt es ein größeres Elend als dieses: der Seele nach eine galvanisierte Leiche zu sein, die sich regt und bewegt, von äußerem Impuls getrieben, aber ohne den Lebenshauch, den sie von Gott empfing? Wem würde nicht ein solcher Zustand zu Herzen gehen? Und ihn nimmt das Ange des Glaubens in denjenigen wahr, welche ihre Lust an der absichtlichen Empörung gegen Gott finden.«

»Ich betrachte sie aber schlecht und recht mit meinem Sinnenauge,« entgegnete der Graf, »und nehme wahr, daß die Lust an Empörung gegen Recht und Gesetz nicht die revolutionären Herren, wohl aber uns in's Elend stürzt, in's wirkliche, materielle und reelle Elend; also bitte ich, nicht zu verschwenderisch mit dem Bedauern für unsere Widersacher zu sein, die sich ohnehin ungeheuer lustig über Euch alle machen würden, wenn sie Euer Zartes Mitleid ahnten. Wir können sämtlich durch sie an den Bettelstab gebracht werden, so gut wie der Herr Miranes, von dem es im vorigen Winter hieß, er habe so und so viele Millionen.«

»Die schöne Judith an den Bettelstab? ... das kann ich mir gar nicht vorstellen!« rief Regina.

»Seit jenem Abend, da sie die Peri darstellte,« sagte Ernest, »Hab' ich sie nur noch einmal gesehen, zur gewöhnlichen Unterrichtsstunde. Da war sie ganz unverändert und sprach von den Zuständen in Paris so gleichgiltig, wie vom Wetter. Zwei Tage darauf schickte sie mir ein Gemälde und andere Sachen, die sie von mir hatte; auch mein rückständiges Honorar und schrieb mir dazu in zwei Zeilen, sie verreise mit ihrer Mutter auf längere Zeit. Als ich zu ihr eilte, um von ihr Abschied zu nehmen, war sie fort, verschwunden., Einige sagten nach Brasilien. Bald darauf brach denn auch für Herrn Miranes eine gründliche Katastrophe ein; aber die allgemeinen Weltverhältnisse verschlangen alle Teilnahme. Man sprach kaum von ihm! Einmal hörte ich, er sei tiefsinnig geworden.«

»Wie traurig!« sagte die immer mitleidige Regina.

»Kind!« rief der Graf unmutig, »bedenke das Schicksal, welches das Haus Habsburg traf, und wimmere nicht um das Haus Miranes!«

»Revolution!« sagte Ernest gelassen.


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