Ida Gräfin Hahn-Hahn
Maria Regina. Erster Band
Ida Gräfin Hahn-Hahn

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Familienbilder.

So blühte denn abermals ein neues Geschlecht um Levin auf; aber ein solches, worin er Kinder seiner Seele erkennen konnte. Damians Frau, Gräfin Kunigunde, schloß sich mit zärtlicher Ehrfurcht ihm an und sah in seinem Aufenthalt zu Windeck eine besondere Gnade Gottes. Ihre Schwiegermutter hatte sich nach ihrer Herrschaft Stamberg im Odenwald begeben, richtete das Schloß prächtig ein, machte große Gartenanlagen, neue vortreffliche Bauten und wurde noch kälter gegen ihre Söhne als früher, indem sie mit der größten Trockenheit behauptete: wären Söhne verehlicht, so würden sie gleichgiltig für die Mütter. Gratian, der als nachgeborner Sohn nur eine unbedeutende Apanage hatte und freilich sehr leichtsinnig in die Ehe getreten war, würde nicht im Stande gewesen sein, mit einer Familie zu existieren, da seine Mutter ihm nur das Fahrgeld gab, welches er schon auf der Universität von ihr empfing, wenn sich nicht Damian sehr brüderlich benommen und ihm eine seiner Besitzungen ganz in der Nähe von Windeck gegeben hätte, deren Herr Gratian so lange sein sollte, bis sich seine äußeren Verhältnisse besser gestalteten. Diese Großmut Damians rührte Gräfin Juliane nicht im mindesten; auch nicht die große Eintracht, in welcher beide Familien lebten. Sie äußerte gegen Freunde:

»Nun ja, es sind ein paar harmlose Geschöpfe, meine Schwiegertöchter, und ich glaube gern, daß sie ihren Männern nichts in den Weg legen, sondern eher zu viel Nachsicht mit ihnen haben und ganz gewiß ohne Einfluß auf sie sein werden; allein mir ist dies zärtliche, empfindsame, weichliche Wesen antipathisch. Ich finde keinen Berührungspunkt mit ihnen; sie sind unbrauchbar für einen großen Wirkungskreis.«

Unter »großem Wirkungskreis« verstand Juliane immer den, welchen sie selbst ausfüllte, und ihr Talent für Verwaltung und Finanzen war freilich den jungen Frauen fremd. Beide überließen das ihren Männern, Gratian sagte einst zu seinem Bruder:

»Wenn nur die Mama nicht wieder heiratet.«

»Possen!« rief Damian, »was könnte die Mama dazu bewegen! ein zärtliches Herz gewiß nicht. Onkel Levin! haben Sie gehört, was Gratian befürchtet?«

»Eure Mutter war immer eine sehr verständige Frau, die sich in ihrem Witwenstande vortrefflich benommen hat,« entgegnete Levin mild. »Ich begreife nicht, weshalb Gratian diesen Scherz macht.«

»Weil die Mama jemand haben muß, den sie Hofmeistern kann, Onkel Levin! Das ist nun einmal ihr Fach. Das hat sie an dem guten Vater gezeigt und dann an uns. Sie könnte jetzt freilich unumschränkt ganz Stamberg beherrschen und hofmeistern und sich damit begnügen; allein was soll sie im häuslichen Leben anfangen? Da ist eine Lücke und die erschreckt mich; zuerst für die Mama und dann für mich. Denn wenn sie wieder heiratet, heißt es für mich: Adieu Stamberg!«

»Aber, lieber Gratian,« unterbrach ihn Levin begütigend, »es ist vor einem Vierteljahrhundert abgemacht, daß die Herrschaft Stamberg Dir dermaleinst zufallen soll. Traue doch Deiner guten, verständigen Mutter keinen Schritt zu, der dies alte Übereinkommen aufheben würde.«

»Man muß nie mit einer Frau das Wort alt in Verbindung bringen,« sagte Gratian scherzend mit dem Finger drohend; »das würde der Mama gar nicht gefallen, obgleich sie eine vernünftige Frau ist und bald Großmama sein wird. Ich habe aber gehört, es hätte sich ein entfernter Verwandter, ein Stamberg aus Schlesien, ein verabschiedeter Leutnant, bei ihr präsentiert.«

»Es ist doch ganz in der Ordnung, daß ein Neffe aus Schlesien, wenn er eine Reise an den Rhein oder nach Baden-Baden macht, seine Tante besuche.«

»Onkel Levin, ein verabschiedeter Leutnant!!! Sie können es nicht fassen, wie erpicht ein solcher Mensch auf ein gutes Etablissement ist! gerade so, wie ein zartes Jungfräulein von fünfunddreißig Jahren auf ein eheliches Gespons. Ein Leutnant im aktiven Dienst würde mich gar nicht erschrecken; der hat Hoffnung, Feldmarschall – oder totgeschossen zu werden. Aber ein verabschiedeter Leutnant! was bleibt dem übrig? Um seiner Verdienste willen hat noch nie einer den Abschied bekommen. Eine andere Laufbahn öffnet sich ihm nicht leicht. Was tut er? er macht eine reiche Heirat.«

»Gratian, ich bin es überdrüssig, Deine Possen zu hören!« rief Damian unmutig. »Ich begreife nicht, wie Dir Deine Spaßmacherei bei einer so ernsthaften Geschichte nicht vergeht. Übrigens halte ich es mit Onkel Levin und glaube nicht, daß sich die vernünftige Mama betören läßt.«

»Ihr seid beide bewundernswert mit Eurem Vertrauen auf die Vernunft einer Frau,« entgegnete Gratian, in seinem munteren Tone bleibend. »So lange die Welt steht, hat man von der noch nichts Tüchtiges gehört.«

»Aber Gratian,« wendete seine Frau halb weinerlich ein, »wir sind doch auch vernunftbegabte Wesen.«

»Du, mein Kind, nur halb und halb – denn sonst hättest Du mich ausreden lassen und Dinge zu hören bekommen, die Dein Herzchen entzückt hätten – über das Vertrauen, das man zur Liebe einer Frau haben könne, zur Frömmigkeit einer Frau etc. etc. Allein zur Strafe dafür, daß Du als ein vernunftbegabtes Wesen mir Vertrauen einflößen willst, schweige ich.«

Gratian schwieg, als aber die Familie nach ein paar Tagen wieder beisammen war, hub er an:

»Wer hätte je gedacht, daß sich die Mama einer solchen Leidenschaft für das Faro hingeben würde.«

Alle starrten ihn an; nur Damian sagte:

»Du bist unerträglich mit Deinen Späßen.«

»Mit meinen Späßen – kann sein! Dies ist jedoch ein Ernst, den Du wirst ertragen müssen.«

»Daß die Mama Faro spielt?« rief Damian hell auflachend.

»Und uns ein Paroli biegt,« setzte Gratian hinzu. »Sie heiratet den Leutnant. Verlaßt Euch darauf, ich habe sichere Nachrichten, weil ich bisher immer zu Stamberg als der zukünftige Herr gegolten habe.«

So war es wirklich. Nach einigen Wochen zeigte Gratian seiner Mutter die Geburt seines ältesten Sohnes an, und sie antwortet darauf mit der Anzeige, daß sie sich ganz in der Stille mit ihrem Vetter, dem Freiherrn von Stamberg, vermählt habe. Sie habe zu lange nur für andere gelebt, um es ertragen zu können, nur für sich zu leben. Indem sie einem zweiten Gatten das Opfer ihrer Freiheit bringe, wünsche sie nicht sowohl Glück zu finden, als vielmehr es zu bereiten; und mit diesen und ähnlichen Redensarten füllte sie vier Quartseiten an. Zum Schlusse bemerkte sie: ihre Söhne wüßten ja am besten, daß sich die Ehen am leichtesten schlössen, wenn man zuvor keine Ratschläge von den Nahestehenden begehre und alles unnütze Hin- und Herreden vermeide; das habe auch sie getan.

»Merkt Ihr das Paroli?« rief Gratian. »Nun, Onkel Levin! was sagen Sie jetzt über die vernünftige Frau?«

»Ich schweige,« war die Antwort; »und ich glaube, Ihr tätet samt und sonders gut, so wenig wie möglich über die Sache zu sprechen, die jetzt unabänderlich ist und die Euch nicht veranlassen darf, Euch von Eurer Mutter zurückzuziehen – umso weniger, als wir gar nicht wissen, ob dieser Baron Stamberg nicht ein sehr rechtschaffener und angenehmer Mann ist.«

»Ich habe gar nichts Böses von ihm gehört,« sagte Gratian in seiner spottenden Redeweise. »Den Abschied hat er bekommen wegen einer zarten Neigung für die Weinflasche. Mit der muß die Mama also rivalisieren.«

»Und die prächtige Herrschaft wird sich ein elender Abenteurer durch die Gurgel jagen!« rief Damian außer sich vor Zorn. »Welch' Glück, daß die Mama protestantisch ist! nun kann sie sich doch von ihrem sauberen Herrn Gemahl zur rechten Zeit scheiden lassen.«

Walburg hielt sich schreckenvoll die Ohren zu. Kunigunde sagte sanft zu ihrem Manne:

»Lieber Damian, Du machst die Sache noch trauriger.«

»Das verstehst Du nicht!« fuhr er heftig auf; »für solche Verhältnisse ist die Scheidung vortrefflich.«

»Sage doch lieber: für solche Verhältnisse ist die Ehe nicht eingesetzt.«

»Das sag' ich von ganzem Herzen; allein ich will zugleich eine Abhilfe haben.«

»Die bringt der Tod,« sagte Levin. –

Gräfin Juliane war nunmehr Baronin Stamberg, aber immer dieselbe Juliane. Sie hatte nicht einen Funken von Neigung für ihren Mann. Er schmeichelte ihr über alle maßen; das war ihr immer angenehm, und da sie fünfzehn Jahre älter als er war, doppelt angenehm. Von seiner zarten Neigung, wie Gratian sich ausdrückte, war Juliane unterrichtet. Sie hatte nicht versäumt, dem ehemaligen Regimentschef des Barons zu schreiben und sich zu erkundigen, weshalb derselbe entlassen sei. Sie legte aber keinen Wert auf die Antwort, sondern nahm sich vor, ihren Mann so vortrefflich zu erziehen, daß er diese Schwäche überwinden werde. Über das konnte sie ihre Liebhaberei fortsetzen und sich als eine opferfreudige Seele hinstellen, als ein Rettungsengel und Schutzgeist für den jungen Mann. Ihr verletztes Muttergefühl und ihr Mißfallen an den beiden armen Schwiegertöchtern legten nicht das kleinste Gewicht in die Wagschale für Baron Stamberg. Juliane wollte ihren Kindern zeigen, daß sie unbeschränkte Herrin ihres Vermögens sei und daß dieselben sich mit dem Pflichtteil dermaleinst zu begnügen hätten, wenn es ihr gefiele, ihren Mann zum Haupterben einzusetzen. Wie sie es aber halten wolle, darüber schwieg sie. Einstweilen war ihr Mann Herr auf Stamberg, soweit sie es ihm gestattete, das heißt im Pferdestall, im Hundezwinger und auf der Jagd. Vielleicht hätte er sich auch noch den Weinkeller dazu gewünscht; allein er fühlte sich allzu behaglich in der Befriedigung seiner übrigen Liebhabereien, für welche Juliane glänzend sorgte, um noch andere Ansprüche zu machen.

Das Verhältnis zwischen den Söhnen und der Mutter war immer so frostig gewesen, daß es durch ihre zweite Ehe im Grunde gar nicht frostiger werden konnte, umso weniger, als Baron Stamberg ein gutmütiger Mensch war, schwach von Charakter, beschränkt von Verstand, der sich mehr und mehr mit wundersamer Gefügigkeit von Julianen tyrannisieren ließ und von ihren Söhnen weder Aufmerksamkeit noch Freundschaft begehrte, sondern froh war, wenn sie ihn ungestört pirschen gehen ließen. Es wurde also der äußere Anstand stets aufrecht gehalten. Zu Julianens Geburtstag, den sie als Protestantin feierte, machten ihre Söhne stets die Reise nach Stamberg und hielten sich einige Wochen bei ihr auf – nicht ungern, weil er mit der Jagdzeit zusammentraf. Für Walburg und Kunigunde war es aber immer eine schwere Zeit, teils wegen des herben Umganges mit Julianen, teils wegen der Entbehrung des katholischen Gottesdienstes. Nach der nächsten Kirche mußten sie eine Stunde fahren. Die meisten großen Grundbesitzer im Odenwald sind protestantisch; einige Städtchen katholisch, andere gemischt, andere vorherrschend protestantisch, so daß sich die Schwestern in jeder Beziehung zu Stamberg auf einem fremden Boden fühlten.

»Gott!« seufzte Kunigunde, »wie ist es doch solche Totenstille hier zu Lande in der Morgenfrühe, weil nie eine Glocke zur heiligen Messe ruft.«

»Und tagein tagaus kein Ave Maria-Läuten,« sagte Walburg. »Ach, und die Glocken wollte man schon entbehren, wenn man nur irgendwo einen Kirchturm gewahr würde, der sich über dem hochwürdigsten Gut erhebt. Aber da ist keiner weit und breit. Nirgends kann sich das Auge mit seinen Tränen und das Herz mit seiner Trübsal auf einer Kirche ausruhen, welche das heiligste, teuerste Sakrament umschließt, und es ist doch eine wunderbare Erquickung, die man zuweilen aus einem einzigen solchen Blicke schöpft. Ach, die armen Beraubten! wie sind sie zu beklagen.«

»Und nie Nachlaß der Sünden,« sagte Kunigunde, und eine Träne engelhaften Mitleides gab ihrem schönen Auge einen himmlischen Glanz. »Nie die beseligende Gewißheit der Versöhnung mit Gott, die auf keiner Selbstgefälligkeit, keiner Täuschung beruht. Nie Empfang des wahren und wesenhaften Leibes des Herrn, also nie die Bereinigung mit dem liebevollen zärtlichen Gott, der hienieden in uns seine Wohnung nehmen will, um damit den Keim des ewigen Lebens für den Himmel in uns zu legen. O Walburg! wenn ich all' die Weltherrlichkeit hier in Stamberg sehe und nirgends ein Kruzifix, nirgends ein Bild der heiligen Gottesmutter, nirgends ein Weihwasserbrünnlein, so jammert mein Herz über diese von Gott abgelöste, leichenhafte Pracht, und ich möchte mich vor der armen Mama auf die Knie werfen und sie anflehen, ein ganz klein wenig an den lieben gekreuzigten Heiland zu denken.«

»Dieselbe Empfindung habe ich auch schon gehabt!« rief Walburg lebhaft. »Sie dauert mich unaussprechlich, die arme Mama! sie ist so kalt – kalt für uns, kalt für ihren Mann, kalt für ihre Söhne, kalt sogar für meinen kleinen Uriel. Ein kaltes Herz, kann das glücklich sein? Ach nein, denn es liebt nicht! Liebe ist warm und innig, denn sie hängt mit dem Herzen Gottes zusammen.«

Es war ein gar liebliches Bild, wie sie traulich auf einem kleinen Divan neben einander saßen, die beiden schönen, jungen Frauen, und mit der gedämpften weichen Stimme sprachen, die eine hohe Seelenbildung verriet und wie ihre Augen gleichgiltig über den irdischen Reichtum hinwegschauten und Tränen vergossen über den Mangel an himmlischen Gütern.

»Was geht denn hier vor?« fragte plötzlich Damian, der durch die offene Türe des Vorzimmers unbemerkt eingetreten war. »Gundel in Tränen gebadet, Walburg in Tränen schwimmend. Gab es eine Szene mit der Mama? Habt Ihr kein Geld für Eure geliebten Bettler? Hat sich Uriel das Näschen gestoßen? Was ist geschehen?«

»Nichts von dem allen, lieber Damian,« sagte Kunigunde schüchtern und trocknete ihre Tränen.

»Ihr werdet doch unmöglich weinen vor Rührung über den prachtvollen Sonnenuntergang!« rief er ungeduldig.

»Ach nein – wir grämen uns nur so sehr über die armen Protestanten, deren Seelen so wenig Nahrung haben,« entgegnete Kunigunde zaghaft, weil sie wußte, daß dies Kapitel ihrem Manne nicht sehr zusagte.

»Da spart Eure Tränen!« rief Damian unmutig. »Die befinden sich sehr wohl auf der Welt und haben es im Grunde besser, als wir, brauchen nicht eine Masse von Rücksichten zu nehmen, haben keine Fastenzeit, keine geschlossene Zeit, keine österliche Zeit – was alles unter Umstanden recht unbequem sein kann.«

Hatte sich Kunigunde so weit überwinden können, um mit einem leichten Scherz diese »Unbequemlichkeiten« fallen zulassen, so hätte sie ihren Mann vor der Verschanzung im Widerspruch bewahrt und den kleinen Antagonismus vermieden, der sich auf dem religiösen Gebiete so leicht zwischen der Hingebung des weiblichen Gemütes und dem Unabhängigkeitsbedürfnis des männlichen Charakters erhebt; Antagonismus, der jedoch nur auf den unteren Stufen der Seelenentwicklung stattfindet, nur da, wo man das religiöse Leben zur Sache des Gefühles macht. Wird es aber als die Sache des Willens erfaßt, so geht es in eine höhere Ordnung über, wo die natürlichen Anlagen zur Hingebung und zur Unabhängigkeit in der freiwilligen Unterwerfung aus energischer Liebe sich begegnen. Es ist sehr zu beklagen, daß das religiöse Leben des Weibes dem Manne gar oft als eine Schwäche des Herzens, als ein Mangel an Kraft entgegentritt, während es den Stempel hes höchsten Adels, der klarsten Energie tragen sollte. Aber die Tränen, aber die Andachten, aber die Gebetbücher, aber die tausend damit verknüpften Kleinigkeiten lassen es dem Manne »weibisch« erscheinen und fliehen. Dies war auch bei Kunigunden zu beklagen. Sie hatte noch nicht die Menschenkenntnis, um ihren Mann richtig zu behandeln, und auch nicht die Erkenntnis, welche meistens erst aus einem längeren Leben hervorgeht, daß von der Frau mehr Selbstverleugnung an einem einzigen Tage, als von dem Manne während seines ganzen Lebens gefordert wird. Genug – sobald Damian in irgend eine kleine heterodoxe Behauptung verfiel, verfiel Kunigunde in Tränen, ohne daran zu denken, daß er durch seine Mutter in der frostigen Atmosphäre religiöser Gleichgiltigkeit aufgewachsen und deshalb mit Nachsicht und Schonung zu behandeln sei.

»O Damian! wie kannst Du so sprechen!« rief sie klagend aus. »Alles, was Du aufzählst, zeigt ja eben, wie arm an Gnaden man außerhalb der Kirche ist; denn jene Zeiten sind Gnadenzeiten, und wer arm an Gnaden ist, der ist wahrhaft arm.«

Diese himmlische Wahrheit verstand er gar nicht. Er antwortete spöttisch:

»Ich werde alle Armen unter den Katholiken des Odenwaldes sammeln und zu Dir bringen. Vielleicht kannst Du ihnen besser als mir begreiflich machen, daß sie nicht arm sind.«

»Mancher von ihnen mag wirklich durch den Glauben viel reicher sein als Du, Damian.«

»Sieh, wie gut Gott das eingeteilt hat: die einen macht er reich durch den Glauben ohne Geld und Gut, und die anderen durch Geld und Gut ohne Glauben.«

»Aber Damian, sage doch nicht kaltblütig solche entsetzliche Dinge!« rief Kunigunde. »Gott gibt die Glaubenslehre und die Fähigkeit zu glauben den Armen wie den Reichen ...«

»Aber Kunigunde, sprich doch nicht so weitläufig über solche langweilige Dinge!« unterbrach sie Damian, drehte sich auf dem Absätze um und ging von dannen. Kunigunde schlang ihren Arm um den Nacken ihrer Schwester und fragte leise:

»Ist das nicht herzbrechend?«

Walburg nickte sanft mit dem Kopfe und sagte:

»Gratian hat zuweilen auch solche Launen. Sie sind eben die Söhne ihrer Mutter! wir müssen umso eifriger für sie beten.«

»Und umso mehr sie lieben,« setzte Kunigunde hinzu.

Sie war nicht glücklich, die arme Kunigunde; ihre Ehe war kinderlos und Damian zuweilen außerordentlich darüber verstimmt; denn er war nicht daran gewöhnt, unerfüllte Wünsche zu haben. Walburg hatte in den fünf Jahren ihrer Ehe ihrem Manne drei Söhne geschenkt, und je mehr sich Kunigundens neidloses Herz an dem Glück ihrer Schwester freute, desto inniger sehnte sie sich, es selbst zu genießen.

»Könnte ich nur einmal zur Mutter Gottes nach Altötting und dort eine neuntägige Andacht halten,« sagte Kunigunde zu ihrem Ratgeber und Tröster Levin. »Glauben Sie wohl, lieber Onkel, daß Damian mir die Wallfahrt erlaubt?«

»Halten Sie hier eine Novene zur heiligen Gottesmutter,« entgegnete Levin ausweichend.

»So unmöglich scheint es Ihnen also!« rief sie traurig.

»Ich meine, Sie sollten alles vermeiden, wodurch kleine Differenzen zwischen Ihnen und Damian auf dem religiösen Gebiete hervorgerufen werden. Ihr Opfer zieht vielleicht die Gnade sicherer herab, als Ihre Wallfahrt,« sagte Levin mild.

Es war um Mariä Himmelfahrt. Zahlreiche Prozessionen zogen nach Kloster Engelberg, wo ein Gnadenbild der heiligen Gottesmutter sehr verehrt wird. Der Main war mit Nachen bedeckt, welche vom anderen Ufer Andächtige hinüber führten, die sich am Fuße der ungeheuren Treppe hinter ihrem Kreuz und ihren wehenden Fahnen in Reihe und Glied stellten und betend langsam bergan stiegen, um droben die heiligen Sakramente zu empfangen und ihre mit Gott versöhnten Herzen voll Bitten und Klagen und Nöten auszuschütten vor der Trösterin der Betrübten. Nach mehreren Stunden zogen sie auf der anderen Seite durch den Wald bergab. Von Windeck aus sah man diese bunten beweglichen Bilder in größter Deutlichkeit, war aber zu sehr an ihre Wiederholung gewöhnt, um sie zu beachten. Nur bei Kunigunde regten sich die Flügel der Sehnsucht, wie bei einem jungen Zugvogel, der sich dem Schwarm anschließen möchte, der nach Süden fliegt. Sie faßte ihren ganzen Mut zusammen und sagte zu ihrem Manne:

»Lieber Damian, gib mir Urlaub auf vierzehn Tage und schlage mir diese Bitte nicht ab, weil sie so sehr ungewöhnlich ist. Frage auch nicht, wohin ich gehe, sondern triff nur Anstalt, daß ich in der ersten Woche des Septembers reisen kann.«

»Die Welt kehrt sich um, Onkel Levin!« rief Damian. »Haben Sie es gehört? Gundel spricht befehlshaberisch; da muß man wohl gehorchen. Und weil ich mich in der Tat freue, dies Wunder erlebt zu haben, so will ich der Reise auch nichts in den Weg legen. Ich denke, sie geht zu Deiner Schwester Isabelle,« – setzte er fragend hinzu.

»Fragen darfst Du nicht,« sagte Kunigunde errötend.

»Gut! da ich nun das Meine getan und Dir Urlaub gegeben habe, so wirst Du mit demselben Vertrauen mich belohnen und mir das Ziel Deiner Reise nennen.«

»Es ist Altötting,« sagte Kunigunde unverzagt, und es brach ein solcher Glanz von Liebe und Zuversicht aus ihrem Auge, daß Damian beinahe gerührt sagte:

»Reise denn, Kunigunde; aber bitte zuvor Onkel Levin, Dich zu begleiten, damit er Dich vor allen Andachtsexzessen bewahre.«

Levin, der Kunigundens schüchterne Zaghaftigkeit kannte, staunte nicht minder als Damian über die Beherztheit, welche sie aus ihrem übernatürlichen Vertrauen schöpfte, als Kunigunde plötzlich sich ihrem Manne in die Arme warf und, nicht zufrieden mit dem, was sie erreicht hatte, noch mehr haben wollte und ihn bat:

»Ach, Damian, wenn Du doch auch die Wallfahrt mit uns machen wolltest.«

»Lieber Engel, wenns einmal dahin kommt, dem Türken mit dem Säbel in der Faust das gelobte Land zu entreißen, dann werd' ich mich bei der Wallfahrt einfinden; – aber nach Altötting – das überlasse ich Dir; das ist das Fach der Damen.«

»Nun, lieber Damian,« sagte Levin lächelnd, »Du bist sehr großmütig, das Vorrecht der frommen Andacht den Damen einzuräumen.«

»Der Priester hat es durch seinen Stand, bester Onkel. Allein, ich meine die Idee: auf dem und dem Punkt der Erde sei das Gebet wirksamer als anderswo, könne sich nur in einem Weiberkopfe festsetzen.«

»Und warum meinst Du das?«

»Weil es eine kindische, beschränkte Auffassung von der Allmacht und Güte des Schöpfers ist, der seine Gnaden überall spenden kann.«

»Ganz richtig: allüberall! Seine Allmacht wird also nicht durch unsere Vorstellung begrenzt, sondern gleichsam erweitert, daß er, der über die ganze Welt die Fülle seiner Gnaden überschwenglich ausströmt, dennoch auf gewissen Stätten noch reicher, noch verschwenderischer sie spendet; und solche Stätten sind die Wallfahrtsorte.«

»Aber, bester Onkel, welche Verbindung kann denn zwischen einer Erdscholle und einer Gebetserhörung stattfinden?«

»Welches ist die Bedingung, muß ich zurückfragen, unter welcher der liebe Gott die Gebete erhören will, die dem Betenden zum Heil gereichen?«

»Ich denke – es wird frommes Vertrauen sein,« antwortete Damian, der mit seiner rationalistischen Richtung es vorzog, »frommes Vertrauen« zu sagen, anstatt »Glaube« und »der Schöpfer« oder »die Vorsehung« anstatt »Gott« oder gar »der liebe Gott«, und »die Madonna« anstatt »die heilige Mutter Gottes«.

»Also,« fuhr Levin fort, »an einen kindlichen Akt des Glaubens eine glänzende Gebetserhörung knüpfen: das ist ihre Verbindung mit der Erdscholle. Sie ist übernatürlicher Art. Fleisch und Mut verstehen sie nicht; die fünf Sinne fassen sie nicht; der menschliche Verstand begreift sie nicht. Aber, wie der Herr, als er auf Erden wandelte, so oft sagte, Dein Glaube hat Dir geholfen; oder: Dir geschehe, wie du geglaubt hast! und dann seine Gnaden spendete: so macht er es noch jetzt. Er verlangt einen kindlichen, demütigen, unbedingten, schwunghaften Glauben, der nicht fragt: Warum da und weshalb dort? wie ihn der fromme Wallfahrer an den Tag legt – und den krönt er manchmal durch Gebetserhörung.«

»Bester Onkel, wenn demnach eine Wallfahrt ein ganz enormer Tugendakt ist, so muß man wohl annehmen, daß er immer gekrönt werde?« fragte Damian listig.

»Ja, lieber Damian, immer!« sagte Levin mit einem himmlischen Lächeln, »aber nicht immer hienieden. Dem Glauben find auch ewige Kronen aufbewahrt. Übrigens ist aber unser Glaube immer noch so schwach, so unvollkommen, von so manchen irdischen Hoffnungen beflügelt, daß er, auch in dem frömmsten Wallfahrer, kein so enormer Tugendakt ist, wie Du annimmst.«

»Das muß wohl sein, denn die Wallfahrten sind ja hier zu Lande längere Zeit verboten gewesen wegen vielfachen, damit verknüpften Skandals.«

»Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich unter den vielen, vielen tausend Wallfahrern, die alljährlich ihre gemeinschaftlichen Bittgänge zu den Gnadenorten machten, auch einige befunden haben werden, welche kein erbauliches Beispiel, vielleicht sogar ein Ärgernis gaben; aber das ist die Schuld des Einzelnen und man hat sie nur hervorgehoben, um dadurch die Wallfahrten selbst zu verdächtigen und diese acht katholische Lebensäußerung zu unterdrücken, weil sie mit dem öden Begriffswesen moderner Humanität nicht zusammenstimmen wollte. In dem Einerlei des mühseligen, sorgenschweren Alltaglebens braucht der Mensch aber zeitweise eine Erfrischung, eine Aufrichtung, ein Vergessen der irdischen Nöten und Arbeiten. Er will einmal einige Tage der Freiheit und der Ruhe haben und ungestört seinen teuersten und höchsten Interessen sich hingeben. Das sind unstreitig die ewigen, denn sie umschließen den ganzen Menschen mit allen seinen Verhältnissen und Pflichten gegen den Nächsten und gegen Gott. Da verläßt er denn auf einige Tage sein Haus und begibt sich nach einem jener uralten Gnadenorte, wo seit einem halben oder ganzen Jahrtausend Millionen von Menschen gebetet und Trost gefunden haben. Auf dem Hinweg sammelt er sich in seiner Seele und bedenkt all' den Wust, der sie drückt: so viel Sünden, so viel Torheit und Verkehrtheit, so viel Leid und Gram und Kummer, so viele Wünsche, Hoffnungen, Bestrebungen, Das überlegt er alles und teilt es ein: die Sünden mit ihrem Gefolge von Reue und guten Vorsätzen für das Bußsakrament und die Bitten, die Klagen, das Flehen für das Altarssakrament; und dann wendet er sich an die Fürsprache der großen Freunde Gottes, der seligsten Jungfrau Maria, der heiligen vierzehn Nothelfer, oder stellt sich unter den Schutz und vertraut auf die Kraft des heiligen Blutes oder der Not Gottes, oder wie sonst das Geheimnis heißen möge, dessen Verehrung der Gnadenort geweiht ist; und in dieser Stimmung bringt er dort einen Tag zu oder zwei, manchmal auch nur einige Stunden, und geht dann heim, versöhnt mit Gott, erquickt in seiner Seele, voll guter Entschlüsse, getröstet und aufgerichtet – oft für sein ganzes Leben, und macht sich dann wieder an sein mühseliges Tagewerk. O mein lieber Damian, scheint Dir das wirklich ein großer Skandal zu sein? Ich meines Teils wünschte recht oft ihn zu machen und ihn zu erleben.« »Sie sind ein Idealist, Onkel Levin!« rief Damian. »Sie haben immer das Ideal im Herzen und vor Augen! Aber ich wette darauf, daß all' jene guten Wallfahrer, die sich da drüben schieben, drängen und stoßen, sehr weit davon entfernt sind.«

»Gott allein sieht in's Herz, lieber Damian, und so wollen wir ihm das Urteil über jene braven Leute anheimstellen, die bei ihrer Andacht auch noch das Unbehagen des Gedränges in den Kauf nehmen müssen. Übrigens hält die Kirche uns allen, für all' unser Tun und Lassen, in der christlichen Vollkommenheit das Ideal vor, das wir immer vor Augen haben sollen. Bemühen wir uns nicht, das Geringste mit möglichster Vollkommenheit zu tun, so werden wir es bald ganz schlecht machen.«

»Lieber Onkel!« rief Damian, »warum werden Sie nie ärgerlich, da ich Sie doch manchmal mit meinen Bemerkungen recht sekkiere.«

»Weil ich Dich lieb habe, mein Damian.«

»Ach nein, Onkel, das glaub' ich nicht; sondern weil Sie Gott lieben und in ihm auch mich.«

»Das versteht sich: Gott ist der Urgrund jeder wahren Liebe.«

»Zuweilen denk' ich, wären alle Priester wie Sie, Onkel Levin, so wäre die ganze Welt, auch die katholische, gut katholisch.«

»Wären wir Priester dem Ideal des kreuztragenden Heilandes näher, so stände es ohne Zweifel besser mit der Welt; darin hast Du ganz Recht,« sagte Levin demütig und freundlich. »Aber die ganze Last lasse ich mir nicht aufbürden. Um gut katholisch zu sein, muß man es auch sein wollen. Drei und dreißig Jahre hatten die Juden Christus vor Augen mit all' seinen Wundern und göttlichen Beglaubigungen, und wie wenige schlossen sich ihm an! Ohne den Willen kein Glaube und keine Tugend, darauf verlaß Dich.«

Kunigunde reiste nach Altötting, das gewiß eine der merkwürdigsten Stätten der Erde ist – so irdisch reizlos und so unirdisch reizend. Eine halbe Stunde vom Inn entfernt, flach, baumlos, unmalerisch, liegt auf der weiten Ebene zwischen München und Passau der kleine Marktflecken Altötting, der aus ein paar Straßen und einem freien Platz besteht. An diesem Platz, der weit und unregelmäßig ist, liegen drei Kirchen und verschiedene größere und kleinere Häuser: die Pfarrkirche, die Kapuzinerkirche mit dem daranstoßenden Kloster, und Kirche und Haus der Patres Redemptoristen. Das übrige sind Privathäuser. Alles ist ohne Schönheit der Architektur, ohne Pracht, so ungemein einfach und schmucklos, daß man, wenn man an Loretto oder Einsiedeln in ihrer großartigen Majestät denkt, ganz vergebens nach der Wallfahrtskirche mit dem Heiligtum sich umsieht, wahrend man dort nichts anderes sieht. Dann liegt mitten auf dem freien Platz eine kleine Kapelle, achteckig, mit spitzem Dach und vor dem Achteck, das man auch den Chor nennen kann, ein Langschiff; das Ganze umgeben von einem schwerfälligen, niederen Bogengang, der Schutz gegen Regen und Sonnenschein gewährt. Welch ein seltsames kleines Gebäude! Aber sieh! alles Gemäuer des Bogenganges ist mit Votivtafeln bedeckt und schwere Kreuze, welche büßende Pilger getragen haben, stehen an den Pfeilern; denn dies unscheinbare, ja dürftige Gebäude, so unansehnlich und gering wie die Grotte von Bethlehem, ist die Gnadenkapelle. Auch im Innern ist etwas von der Dunkelheit, der Stille, dem Geheimnisvollen und Feierlichen jener Grotte. Das kleine Langschiff, 36 Fuß lang und 24 breit, hat zwei Altäre und einige Kniebänke; über der Eingangstür die Qrgelbühne. In der inneren Kapelle, dem Achteck, steht über dem Altare in einem silbernen Schrein das kleine uralte Gnadenbild: Maria mit dem Jesukinde auf ihrem rechten Arme und in der Linken den Scepter, aus dem die Lilie hervorblüht. Maria, als Mutter und Königin; die Liebe in ihrer Zärtlichkeit und in ihrer Macht, in Allem, was sie Süßes und was sie Großartiges hat. In der Dicke der Mauer sind Nischen angebracht und vor ihnen Kniebänke aufgestellt, um den engen Raum möglichst wenig zu beschränken. Über den Nischen befinden sich auf schwarzem Grunde hinter Glasscheiben kostbare Votiv- oder auch Liebesgaben, Hals- und Armbänder, Ringe, Münzen, Kreuze, köstlich gefaßte Reliquien. Fünf herrliche Lampen hängen vor dem Altare und das ewige Licht in ihnen leuchtet mild durch das Dunkel und wirft hie und da einen Glanzblick auf den reichen Schmuck. Die Herzen bayerischer Landesfürsten, unter ihnen Kaiser Karl VII., † 1745, und König Maximilian I., † 1825, ruhen einbalsamiert in silbernen herzförmigen Gefäßen an der Wand, welche dem Gnadenbilde gegenüber sich befindet. Trotz Purpur und Krone betteten sie sich zur letzten Ruhe unter den Schutzmantel der Mutter Gottes von Altötting. Ein leises Säuseln verhallt nie in diesem geheiligten Raume, der vom frühen Morgen bis zum späten Abend geöffnet ist. Das Flüstern des Gebetes, die leisen Seufzer, die Atemzüge der Andächtigen, das Rauschen eines Kleides, der Fall einer Kugel des Rosenkranzes, das Umschlagen der Blätter im Gebetbuch – diese Laute, welche man sonst kaum bemerkt, sind in dieser tiefen Stille hörbar, wie am Abend ein Säuseln durch den Wald geht, oder wie man in weiter Ferne die Wellen des See's an's Gestade rieseln hört. In eine wunderbar tiefe Ferne sinkt die Welt und das Leben und das Treiben der Leidenschaft und der Kampf in der eigenen Brust zurück. Wie man von einem hohen Berge ringsum den Horizont schaut so weit, so weit, daß Erd' und Himmel in einander schwimmen, aber Städte und Dörfer nicht mehr zu sehen sind: so geht es der Seele in diesem Raum, der seit mehr als einem Jahrtausend nichts gewesen ist, als eine Stätte des Gebetes. Es gibt andere berühmte Orte, wohin auch seit langer Zeit die Menschen reisen, um Kunstwerke, oder Naturschönheiten, oder prachtvolle Paläste, Kirchen, Gärten, oder merkwürdige und interessante Sammlungen und Anstalten zu bewundern, und sie suchen sich dabei zu unterhalten, zu bilden, zu belehren, oder die Zeit zu töten und das Geld zu verschwenden. Die Bewunderung bildet eine Art von Glorie um solche Punkte und eine gewisse geistige Atmosphäre, deren Einfluß sogar stumpfe und äußerst prosaische Menschen etwas empfinden. Welch eine geistige Atmosphäre muß um einen Punkt sich gebildet haben, den nie ein Mensch in anderer Absicht betrat, als um zu beten! seit mehr als tausend Jahren – nur um zu beten, nur um die Tiefen des Herzens vor Gott auszuschütten. Und dieser Zug des Gebetes vererbt sich von einer Generation auf die andere, zieht sich durch ein Menschenalter in das andere hinein, läßt sich nicht stören durch den Wechsel, den ein Jahrtausend in alle Verhältnisse der Menschheit bringt; wird unterbrochen durch diese und jene Ungunst der Zeiten, und hebt jenseits derselben gerade so wieder an, wie er notgedrungen diesseits aufgehört hatte! Seitdem der heilige Rupert im siebenten Jahrhunderte das Christentum in Bayern gründete und das Mutter Gottesbild nach Altötting brachte, sind Reiche und Völker auf- und untergegangen, sind Throne und Kronen gesunken und aufgerichtet; aber die andächtige Wallfahrt zu der Stätte, wo die Mutter Gottes so gnädig ist, geht jetzt gerade so wie damals fort – ein Strom lebendiger Einheit in Glauben und Liebe, der aus Millionen von Herzen bricht und in der kleinen grottenhaften Kapelle sich sammelt, ewig wiederholend die Wallfahrt der Könige des Morgenlandes und der armen Hirten zum Kindlein von Bethlehem.

Kunigunde hielt mit großer Sammlung und Ruhe ihre neuntägige Andacht und erbaute sich ungemein an den feierlichen Prozessionen, die am Tage Mariä Geburt sich einfanden und so viel Menschen brachten, daß der ganze Platz belebt war und jeder nur nach und nach in die Kapelle dringen konnte. Auch an den übrigen Tagen fehlte es nicht an einzelnen Wallfahrern aus den verschiedensten Ständen. Das Landvolk war am zahlreichsten vertreten; sehr natürlich, weil es überhaupt die größte Zahl in der Bevölkerung ausmacht, Levin brachte das heilige Meßopfer in der Gnadenkapelle dar, und seine Seele wallfahrtete in den Himmel und pries Gott, der durch das Christentum Glauben und Liebe so tief in das Menschenherz versenkt hat, daß sie gleichsam als organische Lebensäußerungen daraus emporwachsen und in dieser zugleich so kindlichen und so großartigen Form ein wunderbares Zeugnis der Jahrhunderte für die Glaubenseinheit in der Kirche ablegen. Am Vorabend der Abreise sagte er zu Kunigunde:

»Jetzt muß ich Ihnen eine Merkwürdigkeit zeigen, die freilich nicht unmittelbar zur Wallfahrt nach Altötting gehört, aber doch sehr lehrreich ist.«

Er führte sie nach der Pfarrkirche in eine Kapelle des Kreuzganges. Auf einer kleinen Treppe stiegen sie zur Gruft unter der Kapelle herab und standen vor einem Sarge, auf den Levin deutete und sagte:

»Hier ruht ein ausgezeichneter Mann, ein großer Feldherr, ein tüchtiger Diener seines Herrn, ein wahrhaft frommer Sohn der Kirche, ein tadellos reiner Mensch, ein so inbrünstiger Verehrer der Mutter Gottes, daß er sein Herz in silberner Kapsel in der Gnadenkapelle beisetzen ließ; ein so demütiger Christ, daß er nach seinen Schlachten und Siegen vor dem Bilde des Gekreuzigten hinkniete und Gott um Verzeihung bat für den Fall, daß durch seine Schuld zu viel Blut vergossen sei. Und welch Andenken, glauben Sie, bewahrt die Geschichte ihm auf? Als ein blutdürstiger Unmensch, mit dem man schon Kindern in der Schule Grauen erregt, wird er dargestellt, und wandelt er fluchbeladen seit zweihundert Jahren durch die sogenannte unparteiische Geschichte. Es ist der berühmte Feldherr des traurigen dreißigjährigen Krieges: Tilly.«

»Aber wie kann die Entstellung eines solchen Charakters eine Feder finden?« fragte Kunigunde.

Weil manche Feder im Dienste einer Partei, statt im Dienste der Wahrheit schreibt, und weil die Parteiwut das Auge so krank macht, daß es im Spiegel seiner eigenen Verzerrtheit des Gegners Tugenden als Laster sieht. Ist ein großer Gegner ein gläubiger Christ, so können Sie sich leicht vorstellen, daß er bei den Glaubenslosen keine Gnade findet.«

»Ach, lieber Onkel, wie schmerzlich ist doch dieser Haß des Unglaubens und des Abfalles gegen den heiligen Glauben und gegen alles, was wir mit unsterblicher Liebe lieben.«

»Bestes Kind, das Kreuz ist ein Zeichen, dem widersprochen werden wird; dies sagt uns die heilige Schrift. Meinen Sie, es sei nur gesagt für die ersten Tage des Christentums? nur für jene Zeiten, als die Welt heidnisch war? O nein! jene ersten Tage werden dauern bis zum jüngsten Tage, denn in der Welt ist immer ein Stück Heidentum zu finden: die Selbstvergötterung – und auch in unser Herz ist sie immer bereit, sich einzuschleichen. Manche Zeiten sind ganz besonders von ihr überwuchert, Zeiten wilder Kämpfe, leidenschaftlicher Aufregung sowohl, als Zeiten voll materiellem Segen. Jene erhitzen und verwirren, diese erschlaffen die Gemüter, und solchen ist die Lehre vom Kreuze unwillkommen und der Götzendienst des Ich's äußerst bequem. Haben sie sich aber recht fest darin zurecht gesetzt, so kommen Stürme und Erschütterungen und all' die kleinen Götterchen krachen zusammen und mancher, der sich selbst als seinen Götzen verloren hat, sieht sich um nach einem Gott, der unverlierbar ist.«


»Bester Onkel,« sagte Kunigunde, »wenn ich künftig die scharfen, ja oft so barbarischen Urteile der Welt höre, will ich immer denken an Tillys Herz in der Gnadenkapelle zu Altötting.« – –

Im nächsten Jahr war große Freude im Schloß Windeck. Der Tag Mariä Geburt war der Geburtstag eines Kindes, das Kunigunde in zärtlicher Dankbarkeit für die Gnade der Himmelskönigin Maria Regina nannte. Sie war glückselig! all' die Innigkeit, die Wärme, die Zartheit der Empfindung, für die sie bei ihrem Manne kein Verständnis fand, übertrug sie auf das Kind, das freilich jetzt im Morgenschlaf seines kleinen Lebens bewußtlos diese Liebe hinnahm, aber allmählig mit den erwachenden Kräften seines Herzens an das Mutterherz sich schlingen würde. Kunigunde freute sich unsäglich, daß es gerade eine Tochter war. Die behielt sie immer an ihrer Seite; die ging auf keine Universität, auf keine Reisen, auf keine Jagden, in keinen Krieg; die gehörte ihr, mit der richtete sie sich fürs Leben ein. Es gab keine Tugend, keinen Vorzug, kein Talent, womit sie nicht im Geiste ihre Tochter schmückte – vor allem aber mit jener fleckenlosen Reinheit, welche vor jeder Beleidigung Gottes zurückschaudert. Deshalb stellte sie das Kind unter den besonderen Schutz der seligsten Jungfrau Maria und nahm sich vor, es immer in Weiß zu kleiden, um auch äußerlich an die innere Lauterkeit zu mahnen. Zwischen Kunigunde und Walburg war jetzt ein beständiger fröhlicher Streit, wer von ihnen die glücklichste Mutter sei und die glänzendsten Hoffnungen habe. Wenn Walburg mit ihrem Knabenkleeblatt ein wenig prahlen wollte, so pflegte Kunigunde zu sagen:

»Warte nur ein paar Jahre! dann wirst Du gleichsam eine kinderlose Mutter sein. Dann sind die Bübchen in alle vier Winde verstreut, während ich mit meiner Regina äußerst behaglich hier sitze und Du zu uns kommst, um zu sehen, wie das ist, wenn man ein Kind hat. So geht's mit den Söhnen.«

»Und dann,« sagte Walburg lachend, »kommt eines Tages statt meiner irgend ein charmanter Jüngling, wirbt um das Töchterchen und führt es nach Ost- oder Westindien; und das Töchterchen, das bisher nie einen Tag von der Mutter getrennt war, geht urplötzlich löwenkühn mit dem fremden Mann an's Ende der Welt, So geht's mit den Töchtern!«

»Das ist eine schauerliche Vorstellung,« seufzte Kunigunde.

»Nun, ich will Dir etwas sagen,« fuhr Walburg beruhigend fort, »Uriel muß Regina heiraten; dann behalten wir beide in unserer Nähe.«

»Uriel muß ein sehr ausgezeichneter Mensch werden, wenn er Regina haben will,« sagte Kunigunde höchst ernsthaft, obwohl Regina erst sechs Monat alt und Uriel im sechsten Jahre war.

»Du sagst Wohl mit Schillers Wallenstein: »Meinen Eidam will ich mir auf Europa's Thronen suchen,« wenn Du mit meinem Uriel nicht zufrieden bist,« sagte Walburg scherzend.

»Die Ehe ist ein herber Stand, liebe Schwester!«

»Freilich! Aber der ehelose ist noch herber, ist so einsam.«

Der Ordensstand war zu jener Zeit etwas so Fremdartiges unter den höheren Standen, weil man nur solche klösterliche Institute duldete, welche sich dem Unterrichtswesen oder der Krankenpflege widmeten, daß Kunigunde seufzte:

»Und wenn sie Ursulinerin oder Salesianerin würde, müßte sie Tag für Tag Schule halten für fremde Kinder und ich verlöre sie doch! Es wird wohl am Besten sein, wenn sie Uriel heiratet.«

Auf diese frohe Zeit folgten Tage schwerer Heimsuchung. Gratian hatte sich auf der Jagd erkältet und sein Übelbefinden nicht geachtet. Als er endlich den Arzt rufen ließ, war die Krankheit schon bedenklich, wurde bald gefährlich und steigerte sich Zu einem furchtbaren Nervenfieber. Walburg schickte ihre Söhne nach Windeck, um sie vor der Ansteckung zu bewahren und pflegte Gratian Tag und Nacht. Damian kam sogleich und stand ihr hilfreich zur Seite, damit sie sich nicht über ihre Kräfte anstrenge. Levin ging hin und her zwischen den beiden zagenden, betrübten Frauen und sprach ihnen himmlische Hoffnung zu, je mehr die irdische schwand. Die Stärke des Fiebers versetzte Gratian gewöhnlich in einen bewußtlosen Zustand; aber Gott erhörte Walburg's und Levin's heißes Gebet: kurz vor seinem Ende kam Gratian zu sich und empfing die Sterbsakramente; dann sagte er fast unhörbar zu seinem Bruder:

»Nimm Dich meiner armen Buben als Vater an.«

»Verlaß Dich darauf,« erwiderte Damian traurig. »Uriel heiratet Regina und für die beiden anderen sorge ich auch.«

Sanft drückte Gratian des Bruders Hand, warf einen zärtlichen Blick auf Walburg, fiel in's Delirium zurück und verschied ruhig nach einigen Stunden. Die trostlose Walburg war gar nicht zu trennen von der geliebten Leiche. Als Damian sie endlich mit Gewalt wegführte, legte sie sich zu Bett – und stand nicht wieder auf. Binnen neun Tagen riß die Krankheit, die junge kräftige Menschen am heftigsten befällt, sie in ihr frühes Grab. Kunigunde war aufgelöst von Schmerz. Die Schwestern hatten ein Doppelleben zusammen geführt und jede die Freuden und Leiden der anderen so innig geteilt, daß Kunigundens halbes Herz in Walburg's Sarg sank. Bei ihrer großen Schüchternheit kam ihr auch die Erziehung der drei Knaben als eine übermäßig schwere Aufgabe vor, und doch fand sie wieder ihren süßesten Trost darin, den kleinen Verwaisten die Mutter zu ersetzen. Damian hatte die Knaben so lieb und war so ganz von der Vorstellung erfüllt, in Uriel den künftigen Majoratsherrn und seinen Schwiegersohn zu sehen, daß er sich darüber tröstete, keinen Sohn zu haben und die Kinder ganz väterlich in sein Haus nahm. Ihre Erziehung machte ihm nicht viel Sorgen!

»Gundel, sei nicht so ängstlich!« sagte er einmal zu der Gräfin, als sie von den Gefahren sprach, denen junge Leute in der Welt ausgesetzt sind. »Die Welt erzieht den Mann.«

»Aber wie!« seufzte Kunigunde.

»Nun, wie? wie sie ihn braucht, mein Kind. Der junge Mann muß Erfahrungen machen und hat er die hinter sich, so wird er vernünftig; der eine früher, der andere später.«

»Aber er macht diese Erfahrungen gewöhnlich auf Kosten seines besseren Selbst und zahlt für Niedriges den höchsten Preis.«

»Das Paradies für einen Apfel – allerdings, das kann geschehen,« sagte Damian höchst gleichmütig. »Diesen Weg hat der Schöpfer von Adams Zeiten an dem Menschen zugewiesen.«

»Der Mensch hat freiwillig den Weg des Abfalls eingeschlagen,« rief Kunigunde lebhaft, »und für das Paradies, das er aufgab, hat der barmherzige Gott ihm die Anwartschaft auf den Himmel gegeben. Die Welt nun, die es ihm so leicht macht, das Paradies zu verlieren, was tut sie, um ihn an seine himmlischen Ansprüche zu erinnern?«

»Nichts, mein Kind, gar nichts! ist auch nicht nötig! Man hat ja Grundsätze, die freilich zuweilen etwas wackeln, aber mit der Zeit sich befestigen. Die Karriere, in die man tritt, die vortreffliche Frau, die man heiratet, tun denn auch das Ihre; und so wimmelt die Welt von klugen, rechtschaffenen, gebildeten, tüchtigen Männern, zu denen unsere Buben ohne Zweifel gehören werden.«

Kunigunde lächelte traurig und suchte Trost bei Levin. Auch er sagte: »Seien Sie nicht so zaghaft, Kind!« aber aus anderen Gründen als Damian. »Statt vor der Zukunft der Knaben zu bangen, benutzen Sie die Gegenwart, um auf dem Wege der Tugend so fortzuschreiten, daß Sie Ihren Kindern ein liebliches, leuchtendes, unvergeßliches Vorbild der Gottesliebe und der christlichen Vollkommenheit werden. Daran scheitert manch Blendwerk der Welt.«

»Aber meine Mißgriffe, mein Mangel an Einsicht, meine Schwäche, wie viel Schaden können sie stiften trotz all' meinem guten Willen.«

»Dem menschlichen Tun wohnt Gebrechlichkeit inne, und wir alle lassen es an Mißgriffen, auch bei unseren teuersten Angelegenheiten, nicht fehlen. Fassen wir aber immer wieder und wieder die Richtung auf die Ehre Gottes und das Heil der Seelen in's Auge, so wird Gott, für den wir das Beste zu tun suchen, ohne Zweifel viel Besseres für uns tun und den Folgen unserer Mißgriffe Schranken setzen.«

Damian, der einmal solchem Gespräch beigewohnt hatte, sagte später zu Kunigunde:

»Es ist recht seltsam, daß Onkel Levin immer so spricht, als ob die Vorsehung von unserem Tun und Treiben spezielle Notiz nähme.«

»Lieber Damian,« antwortete Kunigunde lächelnd, »ob die Vorsehung das tut, weiß ich freilich nicht. Aber Gott tut es: darauf verlaß Dich. Warum sollte er sich die Mühe genommen haben, jedes Haar auf Deinem Haupte zu zählen, wie wir es lesen in heiliger Schrift, wenn er keine spezielle Notiz von Dir nehmen wollte?«

»Liest Du die heilige Schrift?« fragte Damian höchst verwundert. »Ich meine gehört zu haben, sie sei verboten, weil das ganze künstlich ersonnene und zusammengesetzte Gebäude der katholischen Kirche über den Haufen fallen würde, wenn man die Lesung gestattete.«

Kunigunde lachte herzlich und rief: »Das wäre ja eine ungemein tragische Begebenheit, wenn eines guten Tages die apostolische Kirche zusammenprasseln sollte vor dem Echo der heiligen Schriften, die ja in ihr abgefaßt, gesichtet und beglaubigt sind, und die nur ein Leben haben, insofern sie gehören zum lebendigen Organismus des heiligen Geistes, dessen Bau eben diese Kirche ist. Einem Denkgebäude, von menschlicher Weisheit ersonnen, könnte es hingegen Wohl geschehen, daß es zusammenstürzte, wenn die mächtige Stimme des Evangeliums darin erschallte, weil seine Wahrheiten nicht Stand hielten vor der ewigen Wahrheit der Offenbarung.«

»Es ist der katholischen Kirche schon oft der Untergang prophezeit worden.«

»Ja wohl, zu ihrem großen Trost! denn dies »oft« beweist, daß es immer falsche Propheten waren; daß sie nur verkündeten, was sie wünschten, und daß sie wünschten, was der Antichrist immer wünscht: Christus in seinem Erlösungswerk zu vernichten.«

»Gundel, Du sprichst wie ein Professor mystischer Theologie! Hast Du Deine Freude daran, so sei sie Dir gegönnt. Aber ich bitte mir aus, daß Du sie nicht unseren Buben einpflanzest; die brauchen vom Antichrist nichts zu wissen und nicht in den heiligen Schriften zu studieren.«

Kunigunde war nach und nach erfahrener und vorsichtiger geworden. Sie ließ die Sache fallen und nahm sich um so fester vor, einen kindlichen frommen Glauben in den Knaben zu Pflegen, als sie wohl wußte, daß Damian sie nicht darin unterstützen würde. Es war ein Donnerschlag für sie, als Juliane plötzlich mit überraschender Zärtlichkeit schrieb, sie wünsche den zweiten Sohn ihres geliebten Gratian zu sich zu nehmen, zu erziehen und ihm nach ihrem und ihres Mannes Tode Stamberg als Fideikommis zu übergeben. Leichenblaß saß Kunigunde da, während Damian den Brief vorlas; ihre Hände waren vom Stickrahmen in ihren Schoß gesunken und zitterten leise, und mit unaussprechlichem Schmerz sah sie Levin an, als wolle sie seines Beistandes sich versichern.

»Der arme Junge dauert mich,« sagte Damian, als der Brief zu Ende war. »So ganz allein bei der Großmama, das wird eine traurige Kindheit geben! Dafür bekommt er denn freilich später ein prächtiges Fideikommis, das somit den gierigen Klauen der schlesischen Stambergs entrissen wird und unserer Familie bleibt. Ich bin recht froh, endlich darüber Gewißheit zu haben. Nun, Gundel, was sagst Du? Du bist ja ganz starr vor Überraschung.«

»Ich sage, lieber Damian,« erwiderte Kunigunde mit bebender Stimme, »daß ich auf Deine Zustimmung zähle und das Kind nicht hergebe. Dir hat Gratian seine Söhne anvertraut und ich habe sie von Walburg geerbt. Sie sind auch ein Fideikommis, ein viel kostbareres als alle Güter der Welt – und ich denke, wir vertauschen sie nicht gegen Stamberg – nicht alle und nicht einen.«

»Kind, es handelt sich um eine Rente von mindestens fünfzigtausend Gulden. Die wirft man nicht fort wie eine Einladungskarte, welcher man nicht Folge leisten will. Die erste Jugend des kleinen Orest wird nicht sehr munter sein; aber im späteren Leben kann er das ja leicht nachholen und ganz andere Freuden genießen, als die unbedeutenden der Kindheit. Weigern wir uns aber, nimmt die Mama unsere Weigerung übel, macht sie ein Fideikommis zu Gunsten der Stambergs, und Orest erfährt dermaleinst, daß er durch unsere verkehrte Zärtlichkeit es verloren hat, wird er uns dann keine Vorwürfe machen? und haben wir sie nicht verdient?«

»Lieber Damian,« erwiderte Kunigunde, »es ist eine von Deinen glänzenden Eigenschaften, daß Du als ein ächter Aristokrat sehr großmütig in Bezug auf Geld und Gut bist. Das hast Du bewiesen, als Du ein ganz unbemitteltes Mädchen zur Frau nahmst, und als Du die Existenz Deines Bruders und seiner Familie nicht einige Wochen oder Monate, sondern acht Jahre hindurch eben so behaglich machtest, wie die Deine es ist, und als Du ihm auf dem Sterbebette versprachst, seinen Söhnen Vater zu sein, und bei tausend anderen Gelegenheiten.«

»Das ist richtig! aus dem Mammon mache ich meinen Götzen nicht,« sagte Damian, mit heimlichem Wohlgefallen das Lob seiner Tugenden einschlürfend, was ihm hoffentlich nur diejenigen übel nehmen werden, welche über diese Schwäche erhaben sind. »Aber, Kunigunde, es handelt sich hier nicht um mich und mein Vermögen, sondern um ein prächtiges Fideikommis für Orestes.«

»Würdest Du Regina zur Mama geben, wenn sie deren Erbin sein sollte?«

»Nicht um die Welt!« rief Damian; »nein, mein einziges Kind geb' ich nicht her.«

»Von dem Augenblick an, da Du Deinem Bruder versprachst, seinen Söhnen Vater zu sein, hattest Du vier Kinder,« sagte Kunigunde, »und ich sehe nicht ein, wie Du mit gutem Gewissen für einen der Knaben tun magst, was Du um keinen Preis für Deine Tochter tätest. Der arme kleine Orest ist unglücklich genug, Vater und Mutter verloren zu haben; o trenne ihn wenigstens nicht von uns und seinen Geschwistern.«

Damian hatte sich inzwischen von Kunigundens Schmeichelworten erholt und sagte: »Dir ist nicht zu trauen, denn Du hast bei der ganzen Sache im Grunde nur die eine Furcht, daß Orest nicht fromm genug erzogen wird.«

»Und wäre ich nicht dazu berechtigt?« fragte Kunigunde errötend, weil Damians Bemerkung ganz richtig war. »Ich will nicht von Deiner guten Mutter sprechen; ich will annehmen, daß sie Orest erzieht, wie sie Dich erzogen hat; aber Du hattest doch Onkel Levin und hörtest und sahest doch etwas vom katholischen Leben und Weben, während Orest in seiner Vereinzelung auf Stamberg demselben gänzlich entfremdet und gleichsam losgerissen von jeder katholischen Tradition sein würde. Welch ein unermeßlicher Schaden für die Seele des Kindes! wer ersetzt ihm den Verlust oder auch nur die Schwächung des Glaubens!« »Nun, so glaubt er etwas anderes, oder etwas weniger,« wendete Damian ein.

»Oder auch nichts,« sagte Levin mit seiner milden Ruhe in Ton und Blick.

»Sind Sie Kunigundens Bundesgenosse, bester Onkel?« rief Damian. »Das wundert mich! Sie pflegten doch sonst, trotz Ihrer transcendentalen Richtung, einen klaren Blick für alle Verhältnisse zu haben und auch die irdischen Dinge nach ihrem Werte zu schätzen.«

Levin lächelte leise zu der transcendentalen Richtung, die Damian ihm lieh, und antwortete:

»Dazu sind wir alle verpflichtet und eben deshalb dürfen wir sie nicht über ihren Wert schätzen. Das Vaterhaus, das Mutterherz, das Familienleben, beseelt und durchwärmt vom heiligen Glauben, ist ein so unermeßliches Gut, daß ein Kind, welches ohne dasselbe aufwächst, bettelarm ist – und hätte es Millionen! Denn die Millionen sind zu zählen und alles, was gezählt werden kann, ist armselig im Vergleiche zum Unermeßlichen.«

»Aber, bester Onkel, vom Unermeßlichen lebt man nicht, ißt und trinkt man nicht, wird man nicht Majoratsherr. Ein Vater muß für seinen Sohn ein Fideikommis bewahren; weshalb also nicht eines erwerben?«

»Bewahre zuerst für Orest das, was er hat; alles andere findet sich.«

»Bester Onkel, Sie wissen so gut wie ich, daß der arme kleine Orest, der nachgeborene Sohn eines Nachgeborenen, nichts hat.«

»Eben darum, lieber Damian, bewahre ihm sein übernatürliches Gut, damit der Knabe, den vielleicht schwere und drückende Verhältnisse erwarten, eine Stütze habe, welche sie tragen hilft. Bewahre ihm das himmlische Fideikommis des Glaubens, welches Gott Selbst den Eltern anvertraut, damit es ungeschmälert auf die Kinder, und aus einer Generation in die andere übergehe. Das kann Orest dereinst von Dir verlangen; Stamberg nicht. Der vernünftige Mensch zieht das Ewige dem Vergänglichen vor, sowohl für sich selbst, als für seine Kinder.«

»Wenn man Sie hört, sollte man meinen, Orest müsse über Stamberg geradeweges in die Hölle laufen,« rief Damian unmutig, »und es ist doch ganz ungewiß, ob er über Windeck in den Himmel spaziert.«

Levin ließ diese Bemerkung fallen und sagte:

»Wäre ich ein reicher Mann und könnte ich nicht meine Kinder im Glauben der katholischen Kirche erziehen, so mühte ich verzweifeln, denn nur dort sehe ich Waffen, um den furchtbaren Kampf mit dem Leben, der den Reichen so besonders gefährlich ist, siegreich zu bestehen.«

»Wo sehen Sie denn die Tugendhelden, die aus dem Kampf als Sieger hervorgehen,« fragte Damian bitter, »da doch die Waffen allen zu Gebote stehen.«

»Nur leider braucht sie nicht Jeder,« entgegnete Levin. »Die Waffen fliegen nicht von selbst jedem in die Hand; sie müssen ausgewählt, ergriffen und geführt werden. Übrigens, lieber Damian, ist das Heldentum der Tugend etwas, das man nicht immer auf der Oberfläche und mit dem ersten Blick wahrnimmt.«

»Ich sehe schon, daß ich keinen Frieden im Hause haben würde, wenn ich nicht Orest behielte,« sagte Damian nachdenkend; »nur weiß ich nicht, wie ich den Antrag der Mama ablehnen soll.«

Kunigunde bog sich tief über ihren Stickrahmen, um ihre hervorquellenden Freudentränen zu verbergen, da sie Damians Feindseligkeit gegen alle Arten von Tränen genügend kannte. Levin sagte.

»Will Deine Mutter sogleich das Kind haben?«

»Nein, im nächsten Frühling.«

»Dann würde ich in Deiner Stelle vor der Hand ihrem Wunsche nicht entgegen treten. Wer weiß, ob sie ihn im Frühling noch hegt.«

»Wenn der Bube aber ein Taugenichts wird und doch nicht Stamberg bekommt: wie dann, Onkel Levin?« fragte Damian sinnend.

»Hast Du Deine Schuldigkeit gegen Gott und Orest getan – und sollte er dann so unglücklich sein, die seine nicht zu tun: so ist es auch dann besser, wenn er ein armer als ein reicher Taugenichts ist. Es sehen weniger Augen auf ihn und folglich geht sein schlechtes Beispiel nicht über einen kleinen Kreis hinaus, während er, als der Mittelpunkt eines größeren, entsetzliches Unheil stiften kann.«

»Ich bitte Euch, schweigt von so traurigen Möglichkeiten!« sagte Kunigunde flehend. »Welche Mutter kann ohne Herzeleid solche Voraussetzungen anhören!« –

Bald darauf wäre der kleine Orest in ganz anderer Weise beinahe seiner Familie entrissen worden. Er spielte am Ufer des Mains, kletterte in einen Nachen, verlor das Gleichgewicht von dessen leisem Schaukeln und fiel ins Wasser. Da er vor Schreck nicht schrie, wurde die Wärterin, die in eine Handarbeit vertieft war, nicht aufmerksam gemacht und Orest wäre vermutlich ertrunken, wenn nicht sein Spielkamerad, Florentin der Fährmannssohn, beherzt ihm nachgesprungen wäre, ihn gepackt hätte und dann, um Hilfe rufend, am Nachen sich anzuklammern suchte. Es war in der Mittagsstunde und niemand am Ufer. Als die Wärterin in höchster Bestürzung herbeieilte und beide Knaben aus dem Wasser gezogen hatte, bedrohte sie Orest heftig, nichts von seinem Unfall verlauten zu lassen, weil er hart gestraft werden würde, und deshalb müsse auch Florentin schweigen. So hoffte sie, werde die Gräfin nichts erfahren und ihr jeder Verweis, vielleicht, sogar die Entlassung gespart werden. Sie brachte die Kinder auf Umwegen ins Schloß, kleidete sie um, und es war weiter nicht die Rede davon, da Orest wohl wußte, daß es schmerzlich ohne Strafe für seinen Ungehorsam abgehen würde. Levin hatte aber von der Terrasse aus den ganzen Vorfall gesehen und sich gefreut, wie herzhaft der kleine Florentin zu Werke ging. Er glaubte, die Wärterin würde Kunigunden ihre Unaufmerksamkeit gestehen: da aber gar nichts von der Sache verlautete, teilte er sie nach einigen Tagen der Gräfin mit, um sie vor der Sorglosigkeit der Wärterin zu warnen. Kunigunde war außer sich vor Schreck über Orest und vor Freude über Florentin. Er war das erste Kind, das sie in Windeck aus der Taufe gehoben hatte. Sie war eine treue Pflegerin seiner Mutter gewesen, die brustkrank langsam dahinsiechte. Sie hatte der armen Sterbenden versprochen, immer ein Auge auf Florentin zu behalten. Dessen Vater hatte wieder geheiratet, und die Stiefmutter war nicht gut gegen Florentin. Sie schlug ihn ohne Ursache, wenn sie eben übler Laune war, und ihre eigenen Kinder durften ihn ungestraft quälen. Er war in Uriels Alter und Kunigunde, die ihn immer gern gehabt hatte, ließ ihn jetzt häufig ins Schloß kommen, seitdem die Knaben in Windeck waren. Kürzlich hatte Florentin auch seinen Vater verloren und führte nun bei seiner Stiefmutter und seinem alten Großvater, der dem bösen Weibe nicht gewachsen war, ein trauriges Leben. Kunigunde wußte ihrer Dankbarkeit keinen besseren Ausdruck zu geben, als den, daß sie beschloß, ihn mit ihren Kindern zu erziehen.

»Er hat uns das Leben eines Sohnes gerettet,« sagte sie zu Damian, »dafür wollen wir wiederum ihn retten! Bei der Stiefmutter kommt er um an Leib und Seele.«

Damian hätte den Knaben lieber in irgend eine Erziehungsanstalt gegeben. Er fand es bedenklich, ihn in Verhältnissen und Umgebungen aufwachsen zu lassen, die er später ungern vermissen würde; Fährmannssohn und Grafenkinder dürften nicht auf demselben Fuße erzogen werden. Dagegen sagte Kunigunde, gerade aus solcher Verschiedenheit der Verhältnisse könnten sich die schönsten Tugenden entwickeln: Dankbarkeit, Hingebung, treue Anhänglichkeit in Florentin und in ihren Söhnen eine richtige Würdigung des Menschen ohne Rücksicht auf Stand und Herkunft, brüderliche Gesinnung für Arme und Niedriggeborene, vielleicht auch heilsamer Wetteifer, da Florentin ein sehr intelligentes Kind sei. Onkel Levin wurde zu Rate gezogen wie immer. Er sagte:

»Liebe Kunigunde, ich glaube kaum, daß ich Ihren Mut hätte. Es ist nicht leicht, ein fremdes Kind so zwischen den eigenen Kindern zu erziehen, daß es sich nicht fremd fühle.«

»Bester Onkel, Florentin fühlt sich schon jetzt heimischer und behaglicher bei uns, als bei seiner Stiefmutter, die ihn fast verhungern läßt.«

»Das glaub' ich schon! aber ich weiß nicht, ob dies Behagen ein Glück für die Zukunft des Knaben ist.«

»Ist ganz meine Meinung!« rief Damian, »Was willst Du denn eigentlich mit ihm anfangen?«

»Ich denke. Du läßt ihn studieren, lieber Damian,« sagte Kunigunde. »Wie schön wäre es, wenn er Arzt würde! wie gut könntest Du einen Arzt brauchen, so recht in der Mitte Deiner Besitzungen ihm einen Wohnort anweisen und alle armen Leute ihm übergeben. Oder wie schön wär' es, wenn er geistlich würde – ein frommer Priester, ach, welche Gnade! Den Arzt der Seelen könnten wir eigentlich noch notwendiger brauchen, als den für die Körper. Oder will Florentin nicht studieren, so kann er Förster werden, Verwalter, Rentmeister. Du hast eine Menge Stellen, zu denen Du treue, tüchtige Menschen brauchst.«

Damian hatte mancherlei Nöten mit seinen Beamten. Der Gedanke, einen recht tüchtigen, zuverlässigen Beamten in Florentin heran zu bilden, war ihm eine erfreuliche Vorstellung, und er sagte:

»Wohlan, Kunigunde, wir wollen Florentin behalten! Es gefällt mir sehr gut von dem kleinen Patron, daß er so unverzagt und entschlossen ins Wasser sprang; aber noch viel mehr, daß er kein Wort von seiner Heldentat verlauten ließ, der kleine Schweigende!«

Mit großer Freude zog Florentin im Schlosse ein und der ganze Kindertrupp gedieh aufs beste. Im Frühling hatten alle das Scharlachfieber; Juliane konnte also Orest nicht zu sich nehmen. Im Sommer auch nicht, denn sie mußte wegen ihrer Gesundheit in die böhmischen Bäder gehen. Im Herbst auch nicht, denn sie fürchtete die rauhe Luft des Odenwalder Spätjahres für den Kleinen. Und endlich erklärte sie, es sei wohl am zweckmäßigsten, wenn er nicht vereinzelt, sondern mit den übrigen Kindern erzogen werde. Über das beabsichtigte Fideikommis schwieg sie; aber Damian rechnete dennoch darauf für Orest, weil ja nicht er und Kunigunde den Erziehungsplan durchkreuzt, wohl aber die Mutter selbst ihn aufgegeben, also in keiner Weise Widerspruch zu strafen hatte. Uriel bekam Windeck samt Reginen und für Hyazinth war dann sehr leicht zu sorgen. So richtete Damian in Gedanken die Zukunft der Kinder so sicher im irdischen Glück und Glanz ein, wie Kunigunde darauf zu hoffen wagte, sie sämtlich zu halben Wundern der Vollkommenheit aufblühen zu sehen. – Nach einigen Jahren hatte sie ein zweites Töchterchen, das ihr Mann mit unaussprechlicher Freude empfing, denn er hatte halb und halb einen Sohn gefürchtet, dermaßen hing sein Herz an Uriel. Und wieder gingen Jahre vorüber mit den Sorgen und Freuden des Familienlebens, denen sich Kunigunde mit unbegrenzter Hingebung widmete. Da wurde sie von einem Brustfieber befallen und nach einem kurzen Krankenlager schied diese schöne, zärtliche, liebevolle Seele vom irdischen Leben. Ein Schrei des Jammers folgte ihr nach. Damian war fassungslos; Levin nahe daran; sämtliche Kinder in Verzweiflung. Von einer solchen Trauer hatte kein Mensch auf Windeck je eine Ahnung gehabt. Als ihr Sarg über den Main geführt wurde nach Kloster Engelberg in die Familiengruft, standen beide Ufer gedrängt voll Menschen, die ihr nachweinten und andächtig für sie beteten. In den achtzehn Jahren, die sie auf Windeck verlebt hatte, war ihr Herz zuweilen recht kummervoll und gedrückt gewesen; aber nie hatte sie irgend jemand anders als freundlich empfangen und nie einen Unglücklichen oder Traurigen anders als getröstet entlassen. Dafür wurde ihr jetzt manche Träne nachgeweint und manches Gebet nachgeschickt. Im Schloß ging das Leben mechanisch fort, wie sie es geordnet hatte; aber es hatte einen leichenhaften Anflug. Jetzt erst merkte man, wie sie es in ihrer stillen, demütigen, freundlichen Weise beseelt hatte. Als Damian seine Töchter zum erstenmal nicht weiß gekleidet, sondern im Traueranzug sah und dazu ihre kleinen, blassen, verweinten Gesichter, schloß er sie angsthaft in seine Arme und sagte zu Levin:

»Was soll aus ihnen werden ohne Mutter?«

Da umschlang Regina ihn zärtlich und sagte: »Gräme Dich auch nicht zu sehr, lieber Vater, denn die heilige Mutter Gottes wird jetzt unsere Mutter sein. Eine andere können wir nicht brauchen.«

Er beneidete fast das Kind um diese tiefe Zuversicht und um dies Eingehen in die übernatürliche Welt. Er machte sich tausend Vorwürfe, daß er gerade auf diesem Punkt Kunigunde so oft betrübt, so häufig die zarteste Blüte ihres inneren Lebens mit dem kalten Frost seines Indifferentismus verletzt hatte. Er mußte sich eingestehen, daß er das Beste, was er in sich selbst fand, Kunigunden verdankte, deren milde Liebe immer gegen seine Selbstsucht kämpfte, ohne sich durch geringe Erfolge entmutigen zu lassen. Da er ihr nicht selbst mehr danken konnte, so nahm er sich vor, in den Töchtern ihr zu vergelten und sie im Sinne der Mutter erziehen zu lassen. In Wien bei den Salesianerinnen hatten Kunigunde und Walburg ihre Erziehung empfangen, und Damian beschloß, seine Töchter ebenfalls einem klösterlichen Institute zu übergeben.

»Nach Wien bringe ich sie aber nicht,« sagte er zu Levin, als er mit ihm den Plan überlegte. »Sie müssen so gütig sein, bester Onkel, und ein Institut der Dames du Sacré Coeur auskundschaften, von dem Kunigunde zuweilen redete. Gegen Wien sprechen drei Gründe.«

»Und das sind?« fragte Levin voll Erwartung.

»Erstens die große Entfernung. Zweitens, daß die liebe Kunigunde im Französischen keinen Pariser Accent hatte. Drittens möchte ich gerne die Kinder von einer gewissen kleinen deutschen Sentimentalität fern halten, von einer gewissen Überschwänglichkeit des Gemütslebens, worin die besten und frömmsten Frauen leicht verfallen und welche sicherlich in einer deutschen klösterlichen Erziehungsanstalt ungemein floriert.«

Levin ließ diese letzte Annahme auf sich beruhen und erwiderte: »Alle klösterlichen Genossenschaften, die sich der Erziehung der Jugend widmen, tun es im Geiste des göttlichen Heilandes, der da gesagt hat: »Lasset die Kindlein zu mir kommen,« und folglich mit der größten Liebe, Hingebung und Opferwilligkeit, denn sie haben aus der Nachfolge Jesu im Dienste der Seelen freiwillig ihren Stand gemacht. Daher erfüllen sie ihre Pflichten in möglichster Vollkommenheit und verdienen das größte Vertrauen. Aber, lieber Damian, wo Menschen wirken und handeln, da gibt es Schwächen, und in den Charakteren der Zöglinge gibt es Schattenseiten. Du darfst also Deine Erwartungen nicht übermäßig hoch spannen und später die etwaige Unvollkommenheit der Kinder nicht auf Rechnung der klösterlichen Erziehung bringen. Versprichst Du mir das, so will ich gleich Erkundigungen einziehen, die ohne Zweifel höchst günstig lauten werden, indem ja die Dames du Sacré Coeur berühmt sind wegen ihrer brillanten Erziehung für die Welt.«

»Das ists gerade, was ich wünsche!« rief Damian. »Seien Sie unbesorgt, bester Onkel! Geraten die Kinder einigermaßen in dieser Richtung, so schwärme ich für das Sacré Coeur. Aber wie einsam, wie unerträglich einsam wird es hier werden.«

Das empfand Levin mit schneidendem Herzweh. Die Beschäftigung mit den Kindern war seine Wonne; aber er sagte tröstend zu Damian: »Es war ja schon festgesetzt, daß die ältesten Knaben fort sollten, und wir behalten doch vorderhand Hyazinth.«

»Ja, den einen, und alle anderen gehen! Mir graut vor der Stille, die hier eintreten wird.«

An einem und demselben Tage war allgemeiner Aufbruch in Windeck. Uriel, Orest und Florentin reisten in Begleitung eines Hofmeisters ab, um Gymnasialstudien zu machen; und Damian mit seinen Töchtern zuerst nach Stamberg, um sie noch einmal der Großmama vorzustellen, und dann zu den Dames du Sacré Coeur im Elsaß. Juliane mußte nach ihrer Gewohnheit Einwendungen gegen diesen Erziehungsplan machen, von dem sie ahnte, daß er mittelbar von Kunigunden herrühre. Weshalb nicht die Kinder nach Mannheim bringen, in das weltberühmte Institut, dessen glänzende Resultate man kenne. Oder noch lieber nach Norddeutschland, wo man überhaupt auf einem viel höheren Stand der Bildung stehe, nach Dresden zum Beispiel; da könnten künstlerische Anlagen in ihnen entwickelt werden. Gab es aber irgend etwas, wodurch Damian in seinen Ansichten und Plänen bestärkt wurde: so war es gewiß der Widerspruch seiner Mutter. Ohnehin ging er nicht leicht von seinen Ideen ab und so hatte Julianens Mißbilligung nicht die geringste Wirkung auf ihn. Er war ganz gleichgültig gegen ihre beständige Krittelei.

Der Abschied von seinen Töchtern, die Heimkehr nach Windeck, die Verödung seines Hauses stimmten den Grafen ungemein schwermütig. Er hatte an Kunigunden die treueste Freundin gehabt, deren Teilnahme zu jeder Stunde, für jede Kleinigkeit ihm gewiß war und die sorgsam alles zu entfernen oder selbst zu übernehmen wußte, was ihn belästigte oder verstimmte. Er hatte in Uriel und Orest schon Gesellschafter gehabt, die mit ihm jagten und ritten, und in den beiden fröhlichen, kleinen Mädchen eine beständige Quelle des Scherzes und der Heiterkeit. Er hatte an dem Personal, welches die Erziehung der Kinder bald für immer, bald zeitweise, ins Haus brachte, eine Unterhaltung gehabt. Hofmeister, Musiklehrer, Zeichenlehrer, Tanzlehrer, Engländerin, Französin und was sonst noch die moderne Erziehung erheischen mag, zog auch in Windeck ein und aus. Zwölf Personen am Familientisch, das war die geringste Zahl; und zwischen ihnen allen war er der Herr, war er der Mittelpunkt. Ihn wollten alle unterhalten; ihm – alle gefallen. Um ihn bemühte sich alles, drehte sich alles. Kunigunde gab allen die Richtung auf ihn, die sie selbst nie verlor. Jetzt hatte er niemand als den Onkel Levin, den dreizehnjährigen Hyazinth und dessen Erzieher, einen jungen Geistlichen.

»Seitdem ich keine Frau mehr habe, komme ich mir gar nicht vor wie der Herr des Hauses,« sagte er oft.

Levin versuchte Saiten zu berühren, die in traurigen Herzen manchmal Anklang finden: Ergebung, Entsagung, Hinwendung zum höchsten Gut, das für den Verlust jedes anderen einen himmlischen Ersatz bietet. Allein dafür war der Graf taub. Er fühlte sich seiner glücklichen Existenz beraubt und faßte es nicht, wie man ohne eine solche zufrieden leben könne. Die Selbstsucht war noch immer übermächtig in ihm.

»O wie beneide ich den geistlichen Stand um seine ewige, unzerstörbare Ruhe!« äußerte er einmal in aufgeregter Traurigkeit gegen Levin. »Der Priester ist der glücklichste Mensch auf Erden. Er fühlt keinen Schmerz mehr.«

»Die stille Ruhe fliegt ihm nicht an,« entgegnete Levin sanft; »sie will erkämpft sein. Und der Schmerz flieht nicht von selbst vor ihm; er will bezwungen sein. Und nicht mit einem Kampf ist die Ruhe auf immer hergestellt und nicht mit einem Willensakt der Schmerz besiegt! Das dauert fort – durchs Leben. Aber wir sind freilich wie tüchtige Soldaten daraus eingeübt, uns nicht den Feind über den Kopf wachsen zu lassen, sondern uns bei Zeiten durchzuschlagen.«

»Was kann der Priester für Schmerzen haben?« fragte der Graf unbefangen. »Er hat nicht Weib noch Kind; er verliert sie nicht; er kennt keine Sorge um sie. Gegen irdische Leidenschaften – denn es versteht sich, daß ich von einem frommen Priester rede – schützen ihn Stand, Beruf und Gnade; woher soll also für ihn der Schmerz kommen?«

»Aus der Sünde, der eigenen und der fremden,« entgegnete Levin und heftete sein seelenvolles Auge auf Damian. »Aus der Sünde, die den Gekreuzigten, welcher aus einem Wunder der Liebe für uns stirbt und aus einem anderen Wunder der Liebe für uns lebt, wieder und immer wieder kreuzigt und die Seelen, die er retten will, ihm entreißt und in den ewigen Tod stürzt. Der Schmerz um die verschmähte Liebe Gottes, um das Elend des Sünders, um die Leiden der Kirche, um den Abfall vom Glauben, um die Anfeindung der Religion bewegt sich in einer anderen Sphäre, als die der irdischen Verhältnisse, aber er hat auch seinen Stachel, auch seine Bitterkeit, mein lieber Damian, und wenn wir ihn nicht hinnehmen würden, als einen Dorn aus der Krone, die Christus trägt, und als einen Anteil an dem Kelch, den Christus trinkt: so würde kein Menschenherz stark genug sein, um ihn zu ertragen.«

»Das ist es ja eben, lieber Onkel: Sie haben immer das Kreuz bei der Hand, an das Sie sich lehnen.«

»Ergreife das Kreuz, dann hast Du es auch. Das Kreuz ist ein Gemeingut der Menschheit und hat für uns alle dieselbe Kraft. Es tut uns weh und heilt all' unser Weh.«

Aber das wollte der Graf nicht verstehen! – Um sich zu zerstreuen, reiste er viel, ging in die Bäder, machte bald in Wien, bald in Paris einen Winteraufenthalt und besuchte alle Jahre einmal seine Töchter, während seine Söhne – wie er sie nannte – in den Ferien nach Windeck kamen und munteres Leben mit sich brachten. Durch die oberflächliche und erkältende Berührung mit der Welt ließ sich der Graf mehr und mehr von jeder höheren Ansicht und Lebensauffassung ablösen. Das Wenige, was ihm Kunigunde allmählig von ihrer Seelenwärme, von ihrem Seelenadel mitgeteilt hatte, ging wieder unter in der allgemeinen Welt-Epidemie der Selbstvergötterung – und das war der Moment, in dem er seine Töchter aus dem Institut des Sacré Coeur abholte, um sie fortan bei sich zu behalten.


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