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Levin war, als der jüngere Sohn, von seinen Eltern dem geistlichen Stande geweiht worden zu einer Zeit, wo in die Kirche vielfache Verweltlichung gedrungen war, welche, trotz aller kanonischen Vorschriften, die Domherrenstellen mit ihren Präbenden fast zum Erbgut der nachgebornen Söhne des Adels machte. Und der deutsche Adel hat eine tiefe Scharte auszuwetzen, daß von dem Augenblick an, wo diese Sinecuren im Anfang des Jahrhunderts ihm entgehen, seine Söhne fast ganz aus dem geistlichen Stande verschwinden; denn dies Verschwinden beweist, wie nur die Begier nach irdischen Gütern in's Heiligtum führte, das allein dem himmlischen Sinne geöffnet werden soll. Bei Levin war es anders. Er trat mit seiner Seele in den geistlichen Stand und suchte mit heiligem Ernst und mit einer hohen, von allen Gnadenquellen genährten sittlichen Kraft sich desselben würdig zu machen. Die tiefe Innigkeit seines Gemütes riß schon eine natürliche Kluft zwischen ihm und der Flachheit der Welt, in deren Wüsten voll täuschender Luftspiegelungen sein Herz keine Befriedigung finden konnte. Als der Glaube mehr und mehr wie ein balsamisches Oel das feinste Geäder seines inneren Lebens durchdrang und all dessen Tätigkeit und Fähigkeit in Bewegung setzte, vertiefte sich auch jene natürliche Kluft noch mehr. Er sah mit anderem Auge, hörte mit anderem Ohr, redete mit anderer Sprache, maß mit anderem Maßstab, wandelte nach anderer Richtschnur; denn er folgte seinem Heilande nach – und die Welt ihren Götzen. Wohl trat auch zu ihm der Versucher, wie zu jedem Staubeskinde, und bot ihm die Genüsse und die Freuden der Erde um den Preis der himmlischen Güter an; aber er betrachtete und wog sie im Lichte des Glaubens – und da fand er sie so häßlich und so gering, daß er sie von Herzen verachtete. Er war noch sehr jung, als jener Sturm über die Kirche hereinbrach, der einerseits manches Vermorschte, Unhaltbare aus ihrem unverwüstlichen Bau hinwegfegte und ihr ewiges Fundament von manchem Wust und Schutt säuberte, und andererseits die Wogen der weltlichen Macht so hoch wider sie aufbäumte, daß sie in der zweifachen Drangsal hätte untergehen müssen, wenn sie eine irdische Anstalt wäre. Dem revolutionierenden, vom Glauben abgefallenen und daher aller Sittlichkeit fremden Geiste des Jahrhunderts erlagen zuerst die geistlichen Churfürsten, welche zum Teil selbst diesen Geist gepflegt und begünstigt hatten, in ahnungsloser Kurzsichtigkeit über dessen Richtung sich täuschend. Als so die ersten Fürsten des deutschen Reiches gefallen waren, hielten es die weltlichen Herrscher für angemessen, den weltlichen Besitz aller Kirchenfürsten, der Bischöfe, der Kapitel, der Stifte und Klöster einzuziehen und Staatsschatz und Land durch das Kirchengut zu bereichern und zu vergrößern. Sie erfanden für diesen kolossalen Raubzug ein eigenes Wort: die Säkularisation. Als das Werk schauerlicher Ungerechtigkeit vollendet und der revolutionierende Geist in seiner gemeinsten Richtung, durch Antastung fremden Eigentums, so unbefangen an's Tageslicht getreten war, kam die Vergeltung über die weltlichen Fürsten: das alte, ehrwürdige, römisch-deutsche Kaisertum ging unter nach tausendjährigem Bestande und alle Throne krachten und wankten in ihren Fugen vor der Gottesgeißel, welche der korsikanische Sprößling der Revolution über Europa schwang, um den Fürsten und den Völkern zu zeigen, was das sei: Macht ohne Gerechtigkeit.
Nachdem die Dom- und Stiftsherren wie ausgediente Beamte gleichsam in Ruhestand und auf Pensionen gesetzt worden waren, kam es vor, daß mancher sich selbst säkularisierte, nämlich zum Weltgeist sich hielt und nicht bloß in, sondern auch mit der Welt so gründlich sich einlebte, wie der niedere Sinn es vielleicht schon längst begehrt hatte. Daraus entsprang mannigfach Ärgernis und Betrübnis. Wenige mochten mit tieferer Trauer auf diese Mißstände, auf diese Verwüstung des Heiligtums und ihre Verwüster blicken, als Levin. Nach der Auflösung seines Stiftes hatte er sich zu seiner Mutter begeben, die an schweren, unheilbaren Leiden langsam dahinsiechte – auch sie eine Verwüsterin des köstlichsten Heiligtums: ihrer eigenen Seele. Die vielen Verirrungen ihres Lebens hatten sogar seinem frommen reinen Auge, das so gern mit liebender Verehrung an ihr gehangen hätte, nicht verborgen bleiben können. Ein Alltagsherz wäre dadurch erkältet, bei ihm aber ging die natürliche Liebe des Sohnes in die übernatürliche des Priesters auf, dessen Beruf es ist, alle Tage seines Lebens für die Sünden der Welt und des einzelnen nicht bloß als Opfernder, sondern auch als Opfer, unter dem Kreuze nach Kaivaria zu gehen. Die bejahrte, kranke Frau hing noch immer an allem Tand der Eitelkeit, als ob sie zwanzig Jahre alt sei. Wenn die Wucht der Leiden ein wenig nachließ, schminkte sie ihre abgezehrten Wangen mit dem schönsten Karmin und versuchte vor dem Spiegel ein Häubchen nach dem andern, bis ihre Wahl sich für das jugendlichste und eleganteste entschied. Dann nahm sie gern solche Besuche an, die von neuen Moden und neuen Romanen zu erzählen wußten. Eine ihrer Kammerfrauen verstand gut vorzulesen und hatte dadurch einen schweren Dienst; denn sie mußte viele Stunden des Tages, zuweilen sogar der Nacht, solche Bücher vorlesen, in welchen die Kranke eine Erinnerung oder Wiederholung der nichtigen Freuden und törichten Leiden ihrer Vergangenheit fand. Sie hatte ihre Seele dermaßen an äußere Dinge gehängt, daß ihr Sinn wie tot für das Höhere war.
Levin hatte keine Vorstellung von dieser seelischen Abgestorbenheit seiner Mutter. Nicht er, sondern sein älterer Bruder, der Stammherr, war der Gegenstand ihrer Zärtlichkeit und Sorgfalt gewesen, und in diesem Punkt – dem einzigen in ihrer Ehe – stimmte sie mit ihrem Gemahl überein. Die engen Herzen faßten die Familie nur in ihrem Zusammenhang mit der Welt auf. Glanz und Ansehen, Reichtum und Grundbesitz, Vertretung des uralten Namens – alles knüpfte sich an den Erstgeborenen. Levin war überflüssig, wurde auch immer so behandelt und in den geistlichen Stand wie in ein Exil geschickt. Vielleicht war es diese irdische Enterbung, die ihm das himmlische Erbe zuwendete. Die Geringschätzung von Seiten der Eltern bewirkte, daß er sich selbst von Herzen geringschätzte und sich von Kindheit auf daran gewöhnte, für nichts zu gelten und seine Wünsche wie seine Persönlichkeit nie in Anschlag zu bringen. Er hätte kleinmütig, feig und mißtrauisch werden können; aber er hatte die Geisterweihe der Frömmigkeit empfangen: er wurde demütig. Er traute sich selbst nichts Gutes zu; darum flüchtete er, wenn das Böse sich ihm nahte, zu der göttlichen Gnade – und sie erhielt ihn gut. Je mehr er diese Wirkung der Gnade in sich erkannte, desto entschiedener und inniger hing er sich ihr an, folgte ihr und suchte mehr und mehr aus seiner Seele zu räumen, was an Eigenliebe und Selbstsucht ihr entgegenstand. Der ersten, der natürlichsten Liebe, der Elternliebe beraubt, senkten seine Herzfasern sich überhaupt nicht mehr in eine Erdenliebe ein. Der Boden war zu kalt und zu arm für sie; sie richteten sich aufwärts; sie faßten Wurzel im Stamme des Kreuzes; und seine Liebe wurde der Gekreuzigte. Mit dieser Liebe kam er zu seiner Mutter, betrat er ihr Krankenzimmer und verließ es Jahr um Jahr nicht mehr. Sie lebte jetzt auf Schloß Windeck, dessen Stille ihren Leiden wohltat und wo sich immer einige Glieder der Familie aufhielten und ihr Gesellschaft leisteten, am seltensten, ihr Gemahl und ihr ältester Sohn. Levins Vater hatte sich wenig um seine Frau bekümmert, ihr schon früh das Beispiel seiner Irrwege gegeben und oft jahrelang von ihr getrennt gelebt. Das ging auch jetzt so fort. Der älteste Sohn war verheiratet und in der Nähe seiner Schwiegereltern angesessen; überdies wenig geneigt, die Einsamkeit eines Krankenzimmers zu teilen. Levin war seiner Mutter kaum willkommen. Sie hatte nie ein Herz für ihn gehabt und traute ihm daher auch keines für sich zu.
»Er will mich gewiß bekehren,« sagte sie zu Fräulein Leonore, ihre Cousine und Busenfreundin, die sich fast immer bei ihr aufhielt und noch oberflächlicher und weltlicher war, als sie.
»Bekehren? warum denn?« fragte Fräulein Leonore ganz verwundert. »Ich dachte, man bekehrte nur die Heiden, die Wilden und solche Völker.«
Zwischen Fräulein Leonore, einigen anderen Verwandten dieses Schlages und den Kammerfrauen mit Romanen und Modejournal wollte Levin Fuß fassen, um das Herz seiner armen Mutter der Welt abzuringen. Für diesen Kampf mußte er seine Festung haben. Die Schloßkapelle war ganz vernachlässigt oder – richtiger gesagt – vergessen. Man hatte die Erlaubnis, das Sanktissimum darin aufzubewahren; statt dessen bewahrte man altes Hausgerät darin auf, das man zum eigenen Gebrauch zu schlecht und für die Armen zu gut fand. Ein Hauskaplan, eine tägliche Messe – das waren Dinge, die nicht im Gedankenkreise von Levins Eltern gelegen hatten. In aller Stille und Ruhe machte Levin dem Haushofmeister begreiflich, daß es sich zieme, die Kapelle in Ordnung zu setzen, damit er nicht außerhalb des Schlosses die Messe zu lesen brauche. Der Haushofmeister meinte: wenn sich gräfliche Gnaden damit bemühen wollten, so sei es allerdings geziemend, es im Schloß zu tun; und die Kapelle wurde eingerichtet. Altargerätschaften, Paramente, Weißzeug waren teils verschwunden, teils unbrauchbar durch lange Vernachlässigung. Levin schaffte alles Notwendige aus seinen Mitteln an. Aber diese waren beschränkt durch seine unbeschränkten Almosen. Nur die Gefässe, welche bei der Feier der heiligsten Geheimnisse dienten, ließ er prächtig und kunstreich anfertigen; alles andere konnte nur ganz schlicht sein. Aber welch ein Frohlocken durchströmte seine Seele, als nun alles geordnet und bereitet – und er selbst so glücklich war, den »verborgenen Gott«, wie der Prophet Isaias ihn nennt, »dessen Lust es ist, bei den Menschenkindern zu sein« – wieder zu dem verlassenen Altar znrückzuführen und wieder unter dem Dache der Väter zu haben. Er zweifelte nicht, daß diese göttlich wahrhafte, mystische Gegenwart ein Teich Bethesda, ein Born des Heils und der Genesung für seine arme Mutter sein werde. Sein Leben wurde nun ein fortgesetztes Gebet, damit sie den Gnadenquell erkennen möge, der in ihrer nächsten Nahe geöffnet sei; damit sie wenigstens in ihren letzten Stunden den Gott nicht verschmähe, der mit seinem Blut sie retten wollte; der zärtlich wartend »vor der Türe stand und anklopfte« – und wieder und immer wieder anklopfte; und dem das arme Herz sich nicht öffnen wollte. Es gab Zeiten, wo er Unsägliches litt. Seine in die ewige, göttliche Schönheit verliebte Seele erschauerte vor der Kälte eines Gemütes, das gar kein Verlangen trug nach Ewigschönem. Dann seufzte er: »O Herr und Heiland! es ist meine Schuld! wenn ich in Deine Liebe einzugehen verstünde, wenn ich in Dir lebte und webte, und mich Dir gleichförmig zu machen wüßte, so weit meine Armseligkeit es vermag: so würdest Du das Werk Deiner Gnade in mir – an meiner armen Mutter vollenden und sie könnte Dir nicht Widerstehen. Aber ich Sünder stehe zwischen Dir und ihr, wie eine Mauer, welche der Blume den Sonnenstrahl raubt.« Er hatte anfangs versucht, zuweilen ein Wort von himmlischen Dingen fallen zu lassen; es war aber für sie, als ob er arabisch rede. Er schwieg; doch je weniger er von Gott zu ihr sprach, desto mehr sprach er von ihr zu Gott. Er durchwachte und durchweinte halbe Nächte vor dem Altar, namentlich dann, wenn die Heftigkeit ihrer Leiden jeden Augenblick ihren Tod herbeiführen konnte; – und in der österlichen Zeit, wenn er umsonst vor ihr auf den Knien gelegen und sie beschworen hatte, ihrer Christenpflicht nachzukommen. Die Zeit war wirklich eine Oelbergsnacht für ihn. Dann überwog ein Blick auf das heiligste Leiden jedes Bedenken; dann flehte er die Mutter an, doch nicht denjenigen zu vergessen, der in bitterer Todesnot ihrer nicht vergessen habe; doch eingedenk zu sein, daß sie ja gleichsam mit den armen Schachern durch ihre Leiden am Kreuze hinge und sich das Paradies erschließen könne durch einen Akt demütiger Liebe. Dann empfing er immer dieselbe Antwort, die kühle Versicherung, daß sie großes Vertrauen zur Barmherzigkeit Gottes – aber gar keines zu kirchlichen Ceremonien habe. Ja, sie ließ sogar nicht undeutlich merken, der liebe Gott sei eigentlich ihr Schuldner wegen der großen und langen Marter, die sie ertragen müsse; und Fräulein Leonore ermangelte nicht, in demselben Sinne zu Levin zu sprechen und ihn mit Vorwürfen zu überhäufen, daß er durch seinen unkindlichen Fanatismus die Ruhe der kranken Mutter störe.
»Gnädige Cousine,« sagte Levin einmal bei dieser Gelegenheit, »käme ein Arbeiter zu Ihnen und spräche: Gib mir meinen Lohn, denn ich habe den ganzen Tag schwer gearbeitet; so würden Sie ohne Zweifel, ehe sie ihn bezahlten, fragen: Hast du denn in meinem Auftrag und für mich gearbeitet? – Und wenn er antworten würde: Nein, ich habe für andere oder auch nur so auf gut Glück gearbeitet; so würden Sie sagen: Mein Freund, dann kann ich dich auch nicht bezahlen. Nicht wahr?«
»Das versteht sich,« sagte Leonore; »aber was geht das Ihre arme Mutter an?«
»Nur insofern, gnädige Cousine, als der Dienst der Welt keinen Anspruch machen darf an himmlische, selige Vergeltung.«
»Aber doch gewiß an die Barmherzigkeit Gottes, dessen Liebe Sie ja so feurig preisen,« wandte sie ein.
»Ja, unter einer Bedingung.«
»Nein, unter keiner! Das lehrt uns ja ganz deutlich der arme Schächer, von dem Sie vorhin redeten. Christus verspricht ihm das Paradies.«
»Denn er bekennt seine Sünde, bekennt die Gerechtigkeit der Strafe, die er leidet, bekennt seinen Erlöser,« ergänzte Levin ihre Bemerkung.
»Wie Sie das alles deuten!« rief Leonore.
»Sie deuten es ja auch, gnädige Cousine.«
»Aber mit Liebe! und Sie – mit Härte und Strenge.«
»Wenn das Härte und Strenge ist, so haben Sie, gnädige Cousine, mehr Liebe als der göttliche Erlöser selbst, der nur dem einen Schächer das Paradies versprach.«
»Sie sind freilich ein Schriftgelehrter,« sagte Leonore mit einem Tone, der deutlich verriet, daß sie im Herzen den Zusatz mache: »und Pharisäer.«
Levin schwieg. Die Welt versteht die Liebe in ihrem Sinn, nämlich als Schmeichelei. Sie löst die Wahrheit von der Liebe ab, weil die Wahrheit nicht schmeicheln kann und erklärt ohne Umstände Denjenigen für lieblos, der Wahrheit und Liebe vereint in Gott sieht.
Eine Seele retten ist mehr als Wunder tun: das war Levins Wahlspruch. Wo er nur konnte, diente er den Seelen. Er hatte sich die Erlaubnis erbeten, in der Seelsorge aushelfen zu dürfen. Das war seine Wonne! Niemand war eifriger, das Bußsakrament zu spenden; Niemand bereitwilliger, der Jugend Christenlehre zu halten. Zu diesen Werken geistlicher Barmherzigkeit fügte er auch die leiblichen. Er ging stundenweit umher und suchte Kranke, Arme, Verlassene, Witwen und Waisen, Kinder und Greise auf, um ihnen in ihren vielfachen Nöten beizustehen, um zu helfen, zu trösten, zu retten, um zu sorgen für die Sorglosigkeit des Elendes, um die irdisch Verlassenen in den Himmel zu ziehen. Kein Wintertag, keine Regennacht, kein Herbststurm hielt ihn zurück von den Wegen, auf denen er als ein liebender Nachfolger seines göttlichen Meisters wandelte, unsäglich dankbar, daß ihm diese hohe süße Gunst zu Teil werde. Im Kreise seiner Familie fand man ihn sehr überspannt. Sein Vater fühlte sich geradezu dadurch beleidigt, als ob es die Würde der Grafen von Windeck verletze. Sein Bruder, ein höchst gemütlicher aber beschränkter Mann, staunte diese Liebhaberei für die armen Leute – wie er sich ausdrückte – als eine Kuriosität an. Seine Mutter krittelte und mäkelte krankhaft an all' seinem Tun und Lassen. Die Hausbedienten und Untergebenen, eines solchen Mitgliedes der gräflichen Familie gänzlich ungewohnt, wußten nicht genau, ob er nicht etwa für ein wenig närrisch zu halten sei. In dem Kreise seiner Pfleg- und Schützlinge fand er zahllose Undankbare, Zudringliche, Boshafte, Verkommene, die ihm Verlegenheit, Kummer und Sorge, zuweilen tiefe Betrübnis verursachten. Wohin er sich wendete, fand er nichts als Kränkungen und Widerspruch; wohin er die Hand legte und den Fuß setzte, griff er in Dornen, trat er auf Dornen. Das war ihm gerade recht. Er dachte an die Nichtachtung, die der Heiland in Nazareth fand; an die zehn Aussätzigen, die der Heiland gesund machte und von denen nur Einer ihm dankte, und mit demütiger Freude sprach er zu sich selbst: Der Knecht ist nicht über den Herrn! und wer bin ich, o geliebter Herr, daß ich dein Knecht sein darf? – Wollte einmal Unlust, Ermüdung, Bitterkeit frostig sein Herz anhauchen: so gedachte er der Verschmähung, welche der aus Liebe gekreuzigte Gott tagtäglich erfährt – und wie der nächtliche Reif vor dem Strahl der aufgehenden Sonne von der Frühlingslandschaft verschwindet: wich jede Kälte aus seinem Herzen und tausend Blüten der Hingebung, der Opferfreude, der Geduld, der Barmherzigkeit drängten sich fröhlich und frisch empor.
So brachte er sieben Jahre hin, die schönsten der Jugend, entsagend und gottliebend wie der Mönch in der Zelle und der Ascet in der Wüste. Es nahete wieder die heiligschöne österliche Zeit, die so bedeutungsvoll in die letzten Winterstürme und den Vorfrühling fällt, gleichsam als Vorbote des übernatürlichen Frühlings, der mit dem Auferstehungsfest beginnt. Die Gräfin war so krank, daß die Ärzte ihr höchstens noch einige Wochen – vielleicht nur Tage, Lebensfrist gaben. Mehr Weh, als sie körperlich litt, fühlte Levin in der Seele. Die zwiefache Liebe des Sohnes und des Priesters wurde unter den obwaltenden Umständen zu einem zweischneidigen Schwert, das ihm das Herz durchbohrte. O Herr! seufzte er auf den Knien vor einem Kruzifix, sieben Jahre diente im alten Bunde Jakob um Rahel, und als die Zeit um war, hatte er nur Lea gewonnen und er mußte abermals sieben Jahre dienen: also vierzehn Jahre um ein armseliges Staubesgebilde, an dem nichts schön war, als deine Gnade. Aber er diente mit Freuden, weil seine Liebe zu Rahel so groß war. Ach, wie ist diese Liebe zu einem sterblichen Weibe so beschämend für mich! kann ich denn nicht vierzehn Jahre Dir dienen aus Liebe zu einer Seele? sind mir schon diese sieben Jahre zu viel? Aber Du weißt es, geliebter Herr: nicht sieben Jahre und nicht siebzig Jahre – sondern mein Leben lang ist es eine wonnevolle Gnade, Dir dienen zu dürfen als ein armer Bettler, der ich bin. Vergiß nun aber auch nicht, um welche Seele ich bettele! – So goß er oft kindlich sein Herz vor Gott aus und bat um Erleuchtung, wie er es anzufangen habe, um mit seiner heißesten Bitte diesmal nicht von der Mutter abgewiesen zu werden. Am Mittwoch in der Charwoche beginnt die Kirche gegen Abend feierlich klagend die Tenebrä zu beten und die Lamentationen zu singen, die der Prophet Jeremias um Jerusalems Fall weint – Vorbild der Klagen des Erlösers um gefallene Seelen. Als Levin am Morgen zu seiner Mutter kam, lag sie geisterhaft bleich und zum Skelett abgezehrt auf ihrem Bett und die Schatten des Todes schlichen schon über ihre Züge. In ihrem eingesunkenen Auge glänzte aber ein ganz fremdes, mildes Licht auf, als sie ihn ansah und sagte:
»Mein Sohn, lies mir die Passion nach Johannes vor und laß den Pater Guardian von Engelberg bitten, sich zu mir armen Sünderin zu bemühen.«
Stumm vor Uebermaß der Freude sank Levin neben dem Bett auf seine Knie. Die Gräfin fuhr fort:
»Vor vielen, vielen Jahren, ehe ich so unglücklich war, mich vom Glauben abzuwenden, hörte ich sie, am Charfreitag mein' ich, im Dom zu Würzburg lesen. Es war das letzte der Art, was ich gehört habe – und ich will sie noch einmal hören, ehe ich sterbe.«
Auf seinen Knien, das Buch auf den Rand des Bettes gelegt, las Levin, in Wehmut zerschmelzend, ihr die Passion nach Johannes vor. Dann kam der Pater Guardian und blieb bei ihr lange, lange Zeit, so daß Fräulein Leonore und die Kammerfrauen fürchteten, sie könne Wohl schon abgeschieden sein und der Pater in seinem Gebetseifer es nicht bemerken. Als der Pater endlich das Krankenzimmer verließ, fand man die Gräfin aufgelöst in Tränen. Die ganze Dienerschaft, alle Hausgenossen mußten sich auf ihren Wunsch um ihr Sterbelager versammeln. Sie bat alle zusammen und jeden einzeln um Vergebung wegen des bösen Beispiels und des Ärgernisses, das sie durch Verachtung der Kirche und des Glaubens gegeben habe, und forderte Alle auf, nicht bis zur Todesstunde mit der Bekehrung und der Buße zu warten. Zu Levin sagte sie dann:
»Um Dir den Gram abzubitten, den ich Dir gemacht habe, mein Sohn – dazu fehlen mir die Worte .... und die Zeit. Bete für mich, bete für unser ganzes Haus! ein gottentfremdetes Leben ist ein elendes Leben .... und ach! meistens werden wir das erst dann gewahr, wenn es uns entschwindet. Gott Dank, daß Du es früh begriffen hast! Also bete, Kind! Du bist so gut, daß der liebe Gott Dir gewiß nichts abschlägt. Er hat ja auch Dein Gebet für mich erhört! .... Gelange ich einst zu seiner seligen Anschauung, so dank' ich es Dir.«
Mit großer Sammlung empfing die Gräfin die Sakramente der Sterbenden. Ein Altar war in ihrem Zimmer hergerichtet; im Vorzimmer lagen die Hausbedienten auf den Knien; katholische Erinnerungen wurden in ihnen wach; sie hatten doch noch die Ahnung davon, was es sei, wenn sich der König der Ewigkeit herabläßt, auf den ersten Wink eines armseligen Geschöpfes, das ihn so lange verschmäht hat, beseligend einzugehen.
Als die ersten Glockenschläge in Kloster Engelberg den Beginn der Passionszeit mit den Tenebrän anzeigte, trat die Gräfin in die Agonie. Unsägliche Qualen wechselten mit Bewußtlosigkeit ab. Konnte sie aber einmal bei Besinnung aufatmen, so küßte sie zärtlich ein Kruzifix, das Levin an ihre Lippen legte, sah ihn an und breitete ihre Arme in Kreuzform aus. Er verstand sie: am Kreuz wollte sie sterben; am Kreuz sollte er leben. Er schrak nicht vor diesem Wunsch, vor dieser Erbschaft zurück. Er verließ seine Mutter keinen Augenblick, und in Tränen und Gebeten aufgelöst pries er die Barmherzigkeit Gottes, die ihr solche Gesinnungen schenkte. Am Charfreitag in der Frühe kam sein Vater, der ohnehin höchst gleichgiltig für die Gräfin – und zu lange daran gewöhnt war, sie sterbend zu wissen, um nicht ganz vorbereitet zu sein auf ihren Tod. Aber – auf diesen Tod war er freilich nicht vorbereitet! Diese entsetzliche Agonie, auf deren Qual das Licht des Glaubens so tröstlich fiel, hatte er nicht erwartet. Der Eindruck war so erschütternd für Jemand, der lebenslang jeden Ernst gemieden hatte und der nun plötzlich an den furchtbaren Ernst eines jeden Lebens gemahnt wurde, welches unwiderruflich so endet, daß der alte Mann am Sterbebett zusammenbrach. Die Gräfin tat ihren letzten Atemzug am Charfreitag zur Stunde der Vesper. Der Graf wohnte ihren Exequien bei; dann erkrankte er und genas nicht wieder – dem Körper nach. Seine Seele aber fand Genesung durch das Brot des ewigen Lebens, welches der Glaube ihm verhieß und die Kirche ihm vermittelte. Nach wenigen Wochen stand auch sein Sarg in der Familiengruft zu Kloster Engelberg und der Friede des Grabes vereinigte dies Ehepaar, das durch den Unfrieden des Lebens so traurig getrennt gewesen war. Die Welt, in ihrer oberflächlichen Anschauungsweise, machte einige sentimentale Phrasen: wie rührend es sei, daß so oft alte Eheleute sich schnell im Tode nachfolgten – und wie so sehr rührend, daß sich dies auch bei zwei Menschen ereigne, von deren guter Eintracht man so wenig gewußt habe – und dann wurde dies höchst rührende Ereignis vergessen. Levin's Bruder, Graf Matthias, der Erb- und Stammherr, kam nun nach Schloß Windeck. Er war ein Mensch, dessen große natürliche Gutmütigkeit für seinen Mangel an geistigen Fähigkeiten hätte entschädigen können, wenn sie durch eine feste religiöse Grundlage zur Tugend gemacht worden wäre. Daran hatten aber seine Eltern nie gedacht; und so sank diese schöne Gabe Gottes zu Schwäche, Leichtsinn, verkehrter Nachgiebigkeit – zu einem Spielball eigener und fremder Laune herab. Er fühlte das und war nicht glücklich; am wenigsten in seiner Ehe mit Juliane, einer reichen und stolzen Erbtochter, die ihm an Verstand weit überlegen war und es bei jeder Gelegenheit zur Schau trug. Niemand war weiter davon entfernt, als sie, sich zum Opfer zu bringen; und niemand suchte mehr als sie die Rolle eines Opfers der Konvenienz zu spielen, indem sie behauptete, nur zwei Häuser, aber nicht zwei Herzen hätten diese Ehe geschlossen. Mit einer Frau, die ihn nicht durch ihr Übergewicht erdrückt hätte, würde Mathias sich vielleicht gehoben haben. Julianens verkehrte Art bewirkte das Gegenteil: er ließ sich gehen in Leichtsinn und an Nichtigkeit, an armselige Beschäftigungen und freudenlosen Lebensgenuß. Die Richtung auf das Himmlische, die sich so früh und entschieden in Levin aussprach, lag in ihm, dem verwöhnten Liebling der Eltern, der den Sonnenschein irdischen Glückes genoß – abgestorben da. Diese Richtung blüht meistens nur in solchen Seelen auf, die, wie im Winter Hyazinthen – hinter gefrorenen Fensterscheiben des Lebens stehen. Matthias hatte seinen Bruder von Herzen gern, nur aber verstand er dessen in Gott ruhendes Gemüt gar nicht. Doch sagte er ihm:
»Levin, Du bist unser Beter! Du bleibst doch immer hier bei uns auf Windeck – nicht wahr? Du tust uns gar zu sehr not: den Eltern da drüben, und mir und den Buben hier.«
»Und Juliane?« fragte Levin bedenklich.
»Juliane!« sagte Graf Matthias verlegen. »Ja so! .... Juliane! .... ich vergaß sie! Levin, ich bitte Dich – sprich selbst mit ihr.«
Das tat Levin sehr gern. Er fragte seine stolze Schwägerin ganz einfach und freundlich, ob sie damit einverstanden sei, daß er als Hauskaplan auf Windeck bleibe. Er legte Nachdruck auf den Hauskaplan; denn das war eben die Stellung, die er im Hause seiner Väter zu haben wünschte. Juliane kannte ihn kaum, hatte nie die mindeste Teilnahme für den bescheidenen, schweigsamen Schwager verspürt, der gegen jedermann so gleichmäßig freundlich war. Sie antwortete äußerst gleichgiltig:
»Ach ja, recht gern! Warum sollte ich nicht!«
Levin aber ging in seine geliebte Kapelle und dankte Gott aus der Fülle seines Herzens. Wenn er nicht auf Windeck geblieben wäre, so hätte vermutlich die Feier der heiligsten Geheimnisse dort aufgehört; denn in Matthias lag das religiöse Bedürfnis brach und Juliane war protestantisch. Er hatte den Gnadentau vergessen, den das heilige Meßopfer im Blute Jesu ausströmt – und sie hatte nie etwas davon gehört. Levin hoffte, daß dieser Urquell des Heiles den beiden Kindern seines Bruders zu gute kommen werde.
Es war die Zeit der französischen Kriege, als Deutschland sich entschloß, die fremde Zwingherrschaft abzuschütteln. Der Schlachtruf fiel belebend in die untätige, marklose Existenz des Grafen Matthias. Als die Männer und Jünglinge sich zum Kampfe scharten, sagte er:
»Ich gehe auch mit!« – und sagte es mit einer solchen Entschiedenheit, daß Juliane, die schon den Mund zum Widerspruch geöffnet hatte, zum erstenmale ihrem Manne gegenüber verstummte. Matthias ordnete seine Geschäfte und Angelegenheiten, bestimmte im Fall seines Todes Levin zum Mitvormund seiner beiden Söhne, nahm Abschied von den Seinen und rüstete sich zur Abreise. Da sagte Levin:
»Jetzt bitte ich Dich, lieber Matthias, mache noch einen Abschiedsbesuch mit mir.«
»Sehr gern,« sagte Matthias; »aber bei wem denn? Ich glaube, bei sämtlicher Verwandtschaft und Freundschaft gewesen zu sein.«
Schweigend deutete Levin nach Kloster Engelberg hinüber.
»Ja!« rief Matthias, »komm' zur Gruft.«
Während sie über den Main fuhren, sagte Levin innig:
»Matthias! alles Zeitliche hast Du wohl besorgt für einen möglichen Fall. Wie steht es aber mit dem Ewigen?«
»Mit dem Ewigen?« wiederholte Matthias langsam. »Schlecht, Levin! ich fürchte, sehr schlecht.«
»Wer das fürchtet, mit dem steht es keinesweges schlecht,« entgegnete Levin liebevoll.
Matthias wurde ernst und nachdenkend und sagte nach einiger Zeit:
»Ich wäre ein großer Tor, wenn ich das irdische Haus, das ich vielleicht auf immer verlasse, bestellt, und nicht daran gedacht hätte, mir die Anwartschaft auf das himmlische zu eröffnen! Pater Seraphin soll mir helfen, die Rechnung in Ordnung zu bringen, die ich dem lieben Gott abzulegen habe. Ich danke Dir, Levin, daß Du mich daran erinnert hast. Ich behaupte ja immer, Du seiest unser Beter! Vater und Mutter hast Du in ein seliges Sterbestündlein hinein gebetet; ich hoffe, Du tust es auch für mich.«
Levin drückte ihm schweigend die Hand und blieb vor dem Gnadenbilde der Mutter Gottes in dem Kirchlein von Kloster Engelberg, betend für die Abgeschiedenen und für die Lebenden, während Matthias mit Pater Seraphin seine Rechnung machte – wie er es nannte. Als sich die Brüder später zur Heimkehr zusammenfanden, hatte Matthias rotgeweinte Augen und er sagte zu Levin:
»Versprich mir Eines! versprich mir dafür zu sorgen, daß die Buben eine katholische Erziehung und katholische Frauen bekommen – für den Fall meines Todes. Als Vormund ist das ja ohnehin Deine Pflicht.«
»Ich fürchte, Juliane wird sie mir schwer, vielleicht unausführbar machen. Was in meinen Kräften liegt, werd' ich tun. Das brauche ich Dir nicht zu versprechen.«
»Hätte ich doch Juliane ganz von der Vormundschaft ausgeschlossen! aber .... das war nicht wohl möglich; sie ist und bleibt die Mutter! .... die reiche Mutter.«
Levin schwieg. Er kannte diese kleinen nachdruckslosen Emancipationsgelüste vom Weiberregiment bei Matthias. Als sie ins Schloß zurückkamen, empfing Juliane sie mißmutig und sagte:
»Wie kann man sich denn aber so lange in der feuchten Gruft aufhalten! Du wirst gewiß den Schnupfen bekommen, Matthias. Du hast ihn schon! .... ich sehe es Deinen Augen an.«
»Wer sich vor den Kugeln nicht fürchtet, darf sich auch nicht vor dem Schnupfen fürchten,« entgegnete Matthias mit großem Gleichmut. Er hatte geweint – die Tränen geweint, die aus den Tiefen des Gemütes aufquellen; und Juliane sprach von seinem Schnupfen; ein solches Verständnis herrschte in dieser Ehe!
Graf Matthias zog aus – und kam nicht wieder. Er blieb in der Schlacht von Waterloo. Juliane weinte anstandshalber ein paar Tränen und sorgte mit großer Aufmerksamkeit dafür, daß die verschiedenen Grade der Trauer in ihrer eigenen Kleidung und der ihrer Söhne und ihrer Dienerschaft während des Trauerjahres pünktlich beobachtet wurden. Sie brachte dies ganze Jahr auf Windeck zu, weil es sich so schickte. Sie beschäftigte sich mit Lektüre und Handarbeit; hauptsächlich aber mit der Verwaltung des Vermögens. Das verstand sie aus dem Grunde; hatte auch nie ihrem verstorbenen Mann gestattet, sich darein zu mischen. Beide hatten die Übereinkunft getroffen, daß Damian, der älteste Sohn, das ganze Windeck'sche Vermögen, und Gratian, der nachgeborene, das mütterliche erhalte, welches sie als eine Stamberg'sche Erbtochter besaß. Diesen großen Reichtum zu ordnen, zu mehren, den größtmöglichsten Vorteil zu berechnen und zu benutzen, umsichtig wie ein Geschäftsmann und sorglich wie eine Haushälterin dabei zu Werke zu gehen, dies war Julianens liebste Unterhaltung und größte Freude. Sie war nicht geizig, sie hielt ihre Untergebenen gut, bezahlte Beamte und Dienerschaft hinreichend, hatte eine Liste von Almosenempfängern: sie war nur eben ein so trockenes und kaltes Gemüt, daß diejenigen Interessen, welche sich in Ziffern ausdrückten, ihr am meisten zusagten. Jeder idealen Richtung, die etwas anderes begehrt, als die Interessen des Lebens auf ein Rechenexempel zu beschränken, war sie abhold. Sinn für das Übernatürliche, Neigung zu himmlischen Dingen, höhere Auffassung der irdischen Verhältnisse nannte sie Schwärmerei, und sorgsam suchte sie ihre Söhne, die bei des Grafen Matthias Tod zwölf und dreizehn Jahre alt waren, in dieser frostigen Atmosphäre zu erhalten. Bei Damian wurde ihr das sehr leicht; bei Gratian schwerer, denn des Vaters Güte und ursprüngliche Gemütlichkeit war auf ihn übergegangen. Levin war und blieb für Juliane ein harmloser Schwärmer, der aber doch so nahe an Narrheit streifte, daß sie ihre Söhne auf's Kräftigste gegen seinen Einfluß zu schützen suchte und zwar durch ein Mittel, welches bei Kindern und bei Alltagsmenschen selten die beabsichtigte Wirkung verfehlt: durch Geringschätzung Levin's. Es gehört Gemütstiefe, oder ein sehr gutes Herz, oder geistiger Scharfblick, oder eine sehr große Liebe dazu, um sich nicht der Geringschätzung anzuschließen, die eine Person, welche als Autorität gilt, oder die mehrere Personen, bei denen die Anzahl die Autorität ersetzt, anhaltend gegen jemand an den Tag legen. Es war eine ganz besondere Fügung, daß Levin wiederum in häuslichen Verkehr mit einer Frau kommen mußte, die Nichtachtung für ihn empfand. Bei seiner armen Mutter entsprang diese Nichtachtung aus einer Art von Rache, welche das befleckte Gewissen an der Tugend zu nehmen suchte; bei seiner Schwägerin aus Stumpfsinn gegen das, was Tugend überhaupt ist: Selbstverleugnung aus Liebe zu Gott. Für Jene war Levin ein heimlicher Vorwurf; für Diese – eine Null. Jene fühlte unwillkürlich, daß sein Leben ganz absichtslos ihr Leben verurteile; Diese hielt sich für dermaßen vollkommen, daß eine Levinsseele neben solcher Vollkommenheit spurlos verschwand. Aber diese Seele ertrug mit derselben milden und gleichmäßigen Liebe jetzt die Schwägerin wie früher die Mutter. Seine ganze Sorgfalt richtete sich darauf, daß ihm die Kinder nicht entfremdet würden. Dabei leitete ihn keine egoistische Absicht, nur das Verlangen, dem letzten Wunsche seines Bruders nachzukommen und die jungen Seelen im Glauben zu schirmen. Juliane war ganz gleichgiltig gegen alle Konfessionen; da die Windecker nun einmal katholisch waren, so mußten auch ihre Söhne katholisch sein. Lieber wäre es ihr gewesen, wenn sie protestantisch hätten sein können; keineswegs aus einem religiösen Beweggrund, nur weil sie selbst protestantisch und unaussprechlich zufrieden mit ihrer eigenen Entwickelung und Richtung war. Sie überließ es Levin, für Hofmeister und Lehrer zu sorgen, denn sie erwartete von seiner Gewissenhaftigkeit zweckmäßige und gediegene Wahlen, und sie wünschte, daß ihre Söhne eine vortreffliche Erziehung bekämen. Nur verschmähte sie eine religiöse Grundlage derselben und alle Äußerungen und Einflüsse, die aus der Fülle des Glaubens in das Leben und in andere Gemüter übergehen. Eine Mutter wirkt erwärmender oder erkältender auf das Gemüt ihrer Kinder, als alle übrigen Menschen zusammen genommen. Juliane hielt ihre Söhne in dem Kreise der Selbstsucht und der Eigenliebe fest, worin sie sich selbst bewegte, und machte dann häufig bittere Vorwürfe an Levin, daß der Hofmeister sie zu nichts anderem, als zu kleinen Egoisten erziehe.
»Ich mühe mich ab in Geschäften, Sorgen und Arbeiten; ich gebe ihnen das Beispiel eines opferwilligen Lebens; ich kenne kaum eine andere Freude, als die Erfüllung meiner Pflichten; ich strebe dahin, meinen Söhnen die beste Erziehung, alle Bildungsmittel, jeden Unterricht zukommen zu lassen, und sehe doch gar wenig guten Erfolg,« klagte sie mißmutig ihren Freunden. Es war aber niemand unter ihnen, der ihr geantwortet hätte: Ja, das alles tust du; aber hast du dabei die Ehre Gottes und das ewige Heil deiner Söhne vor Augen? Erflehest du dir von Gott das Licht der Gnade, um deine Söhne zu tüchtigen Männern zu erziehen? Schöpfest du deine Opferwilligkeit aus dem Quell jedes wahren Opfers: aus der Liebe zur göttlichen Liebe? Entnimmst du das Beispiel, das du deinen Söhnen gibst, der Nachfolge deines Heilandes? – Beantwortest du all' diese Fragen, getreu der Wahrheit, mit Nein! so höre auf, dich zu beklagen und zu staunen: du streuest irdische Saat aus und sie trägt die irdische Ernte ein.
Wie oft hatte Levin versucht, ihr ganz leise solche Andeutungen zu machen! wie oft ihr vorgestellt, daß ein warmes, aufrichtiges, religiöses Leben der Boden sei, auf welchem Früchte der Gnade gediehen! Juliane faßte das mit der höchsten Oberflächlichkeit auf und pflegte zu antworten:
»Ja, ich weiß schon, welch Gewicht Sie auf das Gebet legen, auf den Gottesdienst, auf die gemeinschaftliche Andacht; ich sehe aber nicht, daß meine Söhne dadurch besser werden! Ich meinesteils begnüge mich ganz einfach, Gott so zu verehren, wie er es haben will: nämlich im Geist und in der Wahrheit.«
Die Ablösung vom kindlichen gläubigen Geist des Christentums, die Vereinzelung in nüchterner Verstandesöde nannte Juliane eine Anbetung im Geist und in der Wahrheit, ohne zu beachten, daß bei diesem gänzlichen Mangel an Geist und Wahrheit auch die Anbetung zu kurz kommen müsse. Zu jeder Andachtsübung, die Levin mit ihren Söhnen machte, zuckte sie die Achseln oder lächelte sie mitleidig oder schaute mit kalter Gleichgültigkeit zu. Wie ein ertötender Reif fiel diese Frostigkeit des Gemütes auf jene Keime, die Levin so gern zu Blüten in den Seelen seiner Neffen entwickelt hätte. Aber er ließ sich nicht entmutigen. Er flüchtete sein einsames, tausendfach betrübtes Herz an das einsame leidenvolle Herz seines Heilandes und opferte in der Vereinigung mit Ihm jeden Tag und jede Stunde seines Lebens für diejenigen auf, die so wenig sein Opfer verstanden. So legte er in anscheinend geringe und von der Welt verkannte Tat eine Fülle der reinsten, umfassendsten Liebe nieder. Die Knaben konnten sich einer gewissen Zuneigung für den Onkel Levin nicht erwehren; er war ihnen angenehmer als die herzlose Mutter, die auch sie immer in kühler Entfernung hielt. Sie hatten Vertrauen zum Onkel Levin bei ihren kleinen Freuden und Leiden, denn niemals hatten sie ihn teilnamslos gefunden. Nur ging die Zuneigung nicht so weit, um seinen Ermahnungen Gehör zu geben und seine Ratschläge anzunehmen, sobald dieselben Selbstverleugnung von ihnen forderten. Sie fanden es recht schön, daß er ein solches entsagendes Leben führe; aber sehr unnütz, seinem Beispiele zu folgen. Juliane erntete im reichen Maß den Egoismus ein, den sie in den Herzen ihrer Söhne hatte wuchern lassen. Beide machten ihr den Kummer, den sie am schmerzlichsten empfand: sie brachten ihr als Schwiegertöchter und ohne sie zu Rate zu ziehen ganz unbemittelte Mädchen. Von Damian hätte sie sich eine solche Wahl gefallen lassen, da er ja bereits Besitzer des großen Windeck'schen Majorates war; aber von Gratian fand sie es empörend, weil sie fürchtete, er wolle schon bei ihren Lebzeiten den Mitgenuß ihres Vermögens haben – das nach ihrem Tode ihm zufiel – und dadurch ihr Einkommen verringern und ihre Stellung in der Gesellschaft möglicherweise gefährden. Gratian hatte sich allerdings auf das Vermögen seiner Mutter verlassen und war nicht minder empört über ihre frostige Kargheit, als sie über seine Rücksichtslosigkeit. Damian wurde in die mütterliche Ungnade verwickelt, weil beide junge Frauen Schwestern waren und weil Juliane behauptete, Damians schlechtes Beispiel, eine Frau zu wählen, die nichts habe, als ihr schönes Gesicht, sei ansteckend für Gratian gewesen. Genug, diese beiden Heiraten stifteten großen Unfrieden zwischen Mutter und Söhnen, und niemand litt mehr darunter, als die jungen Frauen, die immer von der Schwiegermutter und zuweilen von ihren Männern darüber viel Bitteres hören und leiden mußten. Es waren zwei sanfte, liebe Wesen, sehr gut erzogen, sehr fromm, jedoch dermaßen im Gefühl und in der Phantasie lebend, daß ihre Männer sie, wenigstens in den ersten Jahren, als unmündige Kinder betrachteten und ihnen wenig Einfluß einräumten.