Rider Haggard
Das unerforschte Land
Rider Haggard

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18. Kapitel

Eine sonderbare Hochzeit

Einer Person gelang es indes nicht, sich vor Schluß der Tore in Sicherheit zu bringen, und das war der Hohepriester Agon, Sorais' großer Bundesgenosse und das Herz und die Seele ihrer Partei. Dieser ebenso verschlagene wie grausame alte Mann hatte uns die Jagd auf seine Flußpferde nicht vergeben, so wenigstens begründete er öffentlich den Haß, den er gegen uns hegte. Die wirkliche Ursache seiner Feindschaft lag jedoch in der durch uns erfolgten Einführung neuer Gedanken, neuen Wissens und Einflusses, gegen die er sich bis aufs äußerste zu wehren entschlossen war. Er wußte auch, daß wir eine andere Religion besaßen, und zitterte täglich davor, daß wir sie in Zu-Vendi einzuführen versuchen möchten. Eines Tages fragte er mich, ob wir in unserer Heimat überhaupt eine Religion hätten, worauf ich ihm antwortete, daß wir deren, so weit ich mich entsinnen könnte, fünfundneunzig verschiedene besäßen. Er war hierüber so entsetzt, daß man ihn mit einer Feder hätte niederschlagen können, und es ist wirklich nicht leicht, dem Hohenpriester eines Staatskultus, der von dem Gedanken der Einführung einer oder fünfundneunzig neuer Religionen verfolgt wird, unser Mitgefühl zu versagen. 300

Von Agons Gefangennahme unterrichtet, erörterten Nyleptha, Sir Henry und ich die Frage, was mit ihm anzufangen sei. Ich schlug vor, ihn in scharfen Arrest zu nehmen, da schüttelte aber Nyleptha den Kopf und sagte, daß eine solche Maßregel unberechenbares Unheil im Lande anstiften könnte. »Ah!« sagte sie und stampfte mit dem Fuß, »wenn ich gewinne und wirklich einmal Königin bin, will ich schon die Herrschaft dieser Priester brechen.« Schade, daß der alte Agon sie nicht vernahm, ihre Worte würden ihm einen tüchtigen Schreck bereitet haben.

»Nun,« sagte Sir Henry, »wenn wir ihn nicht einstecken dürfen, können wir ihn ebensogut laufen lassen. Hier ist er uns von keinem Nutzen!«

Nyleptha blickte ihn auf sonderbare Weise an und sagte trocken mit halblauter Stimme: »Glaubst du das wirklich, mein Gebieter?«

»Ja,« versetzte Curtis, »ich wüßte wirklich nicht, wozu wir ihn hier behalten sollten.«

Sie sagte nichts, sondern fuhr fort, ihn auf eine ebenso scheue wie süße Weise anzublicken.

Da endlich verstand er sie.

»Vergib mir, Nyleptha,« sagte er, vor Freude bebend.

»Wenn mein Gebieter will, der Priester ist da und der Altar dort« – und sie wies auf den Eingang zu einer Privatkapelle – »und bin ich nicht bereit, den Willen meines Herrn auszuführen? Höre, mein Gebieter, in acht oder noch weniger Tagen mußt du mich verlassen und dich auf den Kriegsschauplatz begeben, da du 301 meine Armeen anführen wirst, und im Kriege – fallen manchmal die Männer. Da möchte ich dich eine kleine Weile ganz für mich haben, wenn auch nur der Erinnerung wegen,« und die Tränen entströmten ihren lieblichen Augen und rannen ihr Gesicht hinab, wie schwere Tautropfen von einer Rose.

»Vielleicht auch,« fuhr sie fort, »werde ich meine Krone und mit meiner Krone mein und dein Leben verlieren. Sorais ist sehr stark und sehr erbittert, und wenn sie siegt, wird sie kein Erbarmen kennen. Wer kann die Zukunft lesen? Das Glück ist der weiße Vogel dieser Welt, der selten zu uns herabsteigt, sondern immer weiterfliegt, bis er uns eines Tages in den Wolken entschwunden ist. Wir sollten ihn deshalb festhalten, wenn er, dank einem Zufall, sich eine kleine Weile auf unserer Hand niederläßt. Es ist nicht weise, die Gegenwart aus Rücksicht auf die Zukunft zu vernachlässigen, denn, wer weiß, was uns diese bringen wird, Incubu? Pflücken wir die Blumen, so lange noch der Tau auf ihnen liegt; wenn die Sonne am Himmel steht, verwelken sie, und an ihrer Stelle blühen morgen andere, die wir nie sehen werden,« und lächelnd richtete sie ihr süßes Gesicht auf und blickte ihm in die Augen.

Nach einer Stunde stürzte Sir Henry ganz glückstrahlend und in wilder Aufregung in unser Zimmer und forderte Good, mich, ja selbst Umslopogaas auf, einer wirklichen Hochzeit beizuwohnen. Wir sagten ihm natürlich zu und begaben uns sofort in die Kapelle, wo wir Agon bereits vorfanden, der so düster aussah, wie nur ein Hohepriester aussehen kann, und dazu auch 302 guten Grund hatte. Die kommende Feierlichkeit war, wie wir erfuhren, Anlaß zu einer leichten Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und Nyleptha gewesen. Er hatte es ihr rundweg abgeschlagen, die Feier vorzunehmen oder einem seiner Priester zu erlauben, sie zu vollziehen, worauf Nyleptha ihm erklärt hatte, daß sie als Königin das Haupt der Kirche sei und Gehorsam beanspruche. Sie spielte die Rolle eines Zu-Vendi-Heinrich des Achten unnachahmlich gut: es sei ihr Verlangen zu heiraten, sie wolle heiraten und er solle die Feierlichkeit vollziehen.

Da er sich noch immer weigerte, ihr zu Willen zu sein, richtete sie die folgende Ansprache an ihn:

»Ich kann einen Hohenpriester zwar nicht hinrichten lassen, weil dem ein törichtes Vorurteil im Wege steht, und ich kann ihn auch nicht ins Gefängnis werfen, weil alle seine Untergebenen ein solches Geschrei anstimmen würden, daß die Sterne vom Himmel herabfielen und Zu-Vendis zerschmetterten. Hingegen darf ich ihm gebieten, sich ohne Nahrung der Betrachtung des Sonnentempels hinzugeben, da das sein natürlicher Beruf ist. Wenn du mich also nicht trauen willst, o Agon, so sollst du vor jenen Altar dort gebracht werden und so lange weiter nichts als nur ein wenig Wasser bekommen, bis du zu einem andern Entschluß gelangst.«

Nun war Agon an jenem Morgen zufällig fortgeeilt, ohne sein Frühstück zu sich genommen zu haben, und empfand schon jetzt einen unangenehmen Hunger. Er bequemte sich daher zuletzt, seine Einwilligung zu geben, indem er gleichzeitig bemerkte, daß 303 er keinen Teil an der Verantwortung für die Heirat trage und seine Hände in Unschuld wasche.

Es dauerte nicht lange, so erschien, nur von ihren beiden Lieblingshofdamen begleitet, die Königin Nyleptha mit hold errötendem Gesicht und niedergeschlagenem Blick, in ein ganz weißes Gewand ohne alle Stickerei gekleidet, wie das so in den meisten Ländern der Welt bei dieser Gelegenheit Mode ist. Sie trug keinen einzigen Schmuck und hatte sogar ihren Goldreif abgelegt, trotzdem sah sie ohne diese Zieraten noch schöner als zuvor aus.

Sie verneigte sich tief vor Sir Henry, ergriff seine Hand, führte ihn vor den Altar und sprach nach einer kleinen Pause mit langsamer klarer Stimme die folgenden Worte, die die Sitte bei den Zu-Vendis vorschreibt, falls der Antrag von der Braut ausgeht und der Mann ihn annimmt:

»Du schwörst bei der Sonne, daß du kein andres Weib zur Gattin nehmen willst, es sei denn, daß ich meine Hand auf sie lege und sie kommen heiße?«

»Ich schwöre es,« antwortete Sir Henry.

Dann trat Agon, der in einer Ecke in der Nähe des Altars geschmollt hatte, hervor und murmelte mit solcher Geschwindigkeit etwas in seinen Bart, daß ich ihm nicht zu folgen vermochte, doch erschien es mir wie eine Anrufung an die Sonne, den Bund zu segnen und ihn fruchtbar zu machen. Ich bemerkte, daß Nyleptha mit großer Aufmerksamkeit jedem Worte lauschte und entdeckte später, daß sie Angst gehabt hatte, daß Agon ihr einen 304 Streich spielen und sie durch Aufsagen der Anrufung von rückwärts her, scheiden statt miteinander verbinden werde. Am Schluß seiner Rede wurden sie wie bei uns gefragt, ob sie einander zum Mann und zur Frau nehmen wollten, worauf sie »Ja« antworteten und einander vor dem Altar küßten. Damit hatte die Trauung ihr Ende erreicht, soweit der Landesritus in Betracht kam. Nach meiner Meinung aber fehlte noch etwas, und ich holte daher das Gebetbuch hervor, das mich, zusammen mit einem Exemplar der »Ingoldsby Legenden« auf allen meinen Wanderungen begleitet hat. Ich schenkte die Legenden vor Jahren meinem armen Harry und nahm sie nach seinem Tode wieder an mich.

»Curtis,« sagte ich, »ich bin kein Geistlicher und weiß nicht, ob das, was ich Ihnen vorschlagen will, gestattet ist – daß es nicht gesetzmäßig ist, weiß ich – wenn aber Sie und die Königin nichts dagegen haben, so möchte ich den englischen Hochzeitssegen über Sie beten. Es ist ein ernster Schritt, den Sie da tun, und ich bin der Ansicht, daß Sie ihm, soweit die Umstände es gestatten, die Weihe Ihrer eigenen Religion geben sollten.«

»Ich habe schon darüber nachgedacht,« sagte er, »und wünsche, daß Sie mir den Liebesdienst erweisen. Ich fühle mich noch nicht halb verheiratet.«

Nyleptha erhob keinen Widerspruch, und so las ich das Gebet von »Teuergeliebte« an, bis ich an die Stelle kam: »Ich Henry, nehme dich, Nyleptha,« und »ich Nyleptha, nehme dich, Henry,« die ich übersetzte und mir von beiden nachsprechen ließ. Dann zog 305 Sir Henry einen einfachen Goldring von seinem kleinen Finger, steckte ihn auf den ihren und damit nahm die Trauung ihr Ende. Der Ring war der Hochzeitsring von Curtis' Mutter gewesen, und unwillkürlich kam mir der Gedanke, wie erstaunt doch die alte Yorkshirer Dame gewesen wäre, hätte sie vorhersehen können, daß ihr Hochzeitsring Nyleptha, Königin der Zu-Vendi, zu gleichem Zwecke dienen mußte.

Was Agon anbetraf, so bezwang er sich während dieser zweiten Feierlichkeit nur mit Mühe, denn er begriff sofort, daß sie religiöser Natur war und dachte zweifellos an die fünfundneunzig neuen Glaubensbekenntnisse, die ihm so viel unruhige Stunden bereiteten. Er erblickte in mir tatsächlich seinen Nebenbuhler um die Hohepriesterwürde und haßte mich dementsprechend. Endlich verließ er uns, vor Wut gradezu kochend, und ich wußte, daß wir vor ihm sehr auf der Hut zu sein hatten.

Auch Good und ich und der alte Umslopogaas zogen uns zurück und ließen das glückliche Paar allein. Wir fühlten uns alle äußerst niedergedrückt. Es heißt, daß Hochzeiten frohe Ereignisse seien, doch neige ich nach meiner Erfahrung zur entgegengesetzten Ansicht, wenn ich auch vielleicht die beiden hauptsächlich beteiligten Personen ausnehme. Hochzeiten sind gleichbedeutend mit der Zertrümmerung so vieler alter und der Anknüpfung so vieler neuer Bande, und es ist immer etwas Trauriges um das Aufhören des alten Lebens. So auch bei uns. Sir Henry Curtis, obwohl der beste und gütigste Kamerad von der Welt, ist seit dem kleinen Auftritt in der Kapelle nicht mehr ganz derselbe geblieben. Doch 306 wozu diese Klagen? Es gehört sich gewiß so und ist ganz in Ordnung, wie jede verheiratete Dame unschwer beweisen würde, und ich bin ein ebenso selbst- wie eifersüchtiger alter Mann, obwohl ich es hoffentlich nie merken lasse.

So setzten Good und ich uns schweigend zu unserm Mahl nieder und leisteten uns eine Extraflasche feinen alten Zu-Vendi-Weins, um unsere Geister ein wenig aufzurichten, als plötzlich einer unserer Diener hereinkam und uns eine Geschichte erzählte, die uns zu denken gab.

Man wird sich vielleicht erinnern, daß Alfons nach seinem Streit mit Umslopogaas in außerordentlich schlechter Laune davongelaufen war, um seinen Zorn über das ihm widerfahrene Unrecht verrauchen zu lassen. An dem Sonnentempel vorüber ging er die breite Straße auf der andern Seite des Abhanges hinunter und schlenderte dann von dort in den schönen Park, der jenseits der Außenmauer angelegt ist. Nach kurzem Aufenthalt daselbst machte er sich auf den Heimweg, stieß aber bei dem Außentor auf Sorais und ihr Gefolge, deren Wagen in wütendem Galopp auf der langen nördlichen Heerstraße dahinsausten. Als sie Alfons erblickte, hielt Sorais an und rief ihn zu sich. Als er näher trat, fielen ihre Anhänger über ihn her, warfen ihn in einen Wagen und fuhren mit ihm davon, wenn auch nicht ohne lebhafte Gegenwehr und lautes Geschrei von seiner Seite, wie unser Gewährsmann erzählte und wie ich nach meiner Kenntnis seines Charakters wohl glaube.

Zuerst konnte ich mir gar nicht erklären, zu welchem Zwecke 307 Sorais den armen kleinen Franzosen entführt hatte. Es war kaum denkbar, daß sie sich so weit erniedrigen würde, um ihre Wut an einem einfachen Diener auszulassen. Das würde wider ihren Charakter gesprochen haben. Zuletzt kam mir jedoch ein Gedanke. Wir drei standen, wie ich wohl schon gesagt habe, bei der großen Menge des Zu-Vendi-Volks in hohem Ansehen, nicht allein weil wir die ersten Fremden waren, die sie je gesehen, sondern auch, weil wir uns des Rufes erfreuten, fast übernatürliche Weisheit zu besitzen. Und wenn auch Sorais' Aufruf gegen die fremdländischen Wölfe, oder richtiger gesagt, fremdländischen Hyänen, die beste Aufnahme bei Edelleuten und Priestern fand, so übte er doch, wie wir bald erfuhren, im Volke selbst wenig oder gar keine Wirkung aus. Den alten Athenern gleich, sind auch die Zu-Vendi immer auf der Jagd nach Neuerungen, und grade weil wir ihnen so neu vorkamen, war ihnen unsere Anwesenheit willkommen. Zudem machte Sir Henrys prächtige persönliche Erscheinung tiefen Eindruck auf ein Geschlecht, das größeren Schönheitssinn besitzt als irgendein anderes, mit dem ich je bekannt geworden bin. Schönheit mag in andern Ländern geschätzt werden, wird in Zu-Vendi aber nahezu angebetet, wie die Liebe der Nation für ihre Denkmäler beweist. Die Leute sagten es offen auf den Märkten, daß es im ganzen Lande keinen Mann gäbe, der es im Punkte der persönlichen Erscheinung mit Curtis aufnehmen könnte, wie es, Sorais ausgenommen, kein Weib gäbe, das sich mit Nyleptha messen könne und daß es deshalb nur angebracht sei, wenn die beiden einander heirateten. 308 Die Sonne habe ihrer Königin Curtis als Gatten gesandt. Aus alledem dürfte hervorgehen, daß die Empörung gegen uns zum größten Teil erkünstelt war, und niemand wußte das besser, als Sorais selbst. Mochte ihr daher nicht, so fragte ich mich, der Gedanke gekommen sein, die Ursache ihres Zerwürfnisses mit ihrer Schwester den Landbewohnern auf andere und allgemeinere Ursachen als auf Nylepthas Heirat mit dem Fremdling zurückzuführen? In einem Lande, in dem es so viele Bürgerkriege gegeben hatte, konnte es nicht schwer fallen, einen alten Kriegsruf auszugraben, der die Erinnerung an die vergangenen Kämpfe wieder wachrief. Und dies gelang ihr bald. Von außerordentlicher Bedeutung mußte es ihr daher sein, einen der Fremdlinge bei sich zu haben, um ihn dem gewöhnlichen Volk als einen großen Ausländer zu zeigen, der von der Gerechtigkeit ihrer Sache so überzeugt sei, daß er seine Gefährten verlassen habe, um ihren Fahnen zu folgen.

Dies war unzweifelhaft auch der Grund, aus dem sie es sich so sehr hatte angelegen sein lassen, Good an sich zu fesseln, den sie, solange er ihr von Nutzen gewesen wäre, für ihre Zwecke verwandt und dann fortgeworfen hätte. Da Good ihr jedoch einen Korb gegeben, nahm sie die Gelegenheit wahr, sich Alfonsens zu bemächtigen, der Good ziemlich ähnlich sah, wenn er auch etwas kleiner war. Wahrscheinlich hatte sie vor, ihn in den Städten und auf dem Lande als den großen Bugwan selbst auszustellen. Ich sagte Good, daß ich das für ihren Plan halte, und man hätte sein Gesicht sehen sollen – er war entsetzt über die Idee. 309

»Was,« sagte er, »man wird jenen kleinen Feigling für mich ausgeben? Da werde ich schleunigst das Land verlassen müssen! Mein Ruf wird für immer dahin sein.«

Ich tröstete ihn, so gut ich konnte, denn es ist nicht angenehm, in einem fremden Lande in der Person eines prahlerischen kleinen Feiglings einen Doppelgänger zu finden, und ich fühlte ihm seinen Unwillen nach.

Good und ich speisten, wie gesagt, an jenem Abend allein, wobei uns zumute war, als ob wir einen Freund begraben und nicht verheiratet hätten. Am nächsten Morgen begann dann das Werk allen Ernstes. Die Botschaften und Befehle, die Nyleptha zwei Tage zuvor ausgesandt hatte, fingen jetzt an in Kraft zu treten, und Scharen bewaffneter Männer strömten in die Stadt. Wie sich denken läßt, sahen wir in den nächsten Tagen nur sehr wenig von Nyleptha und nicht allzuviel von Curtis, doch nahmen Good und ich täglich an dem Kriegsrat der Generäle und treugebliebenen Edelleute teil, wo wir Schlachtpläne entwarfen, die Proviantfrage regelten, die Kommandos verteilten und hundert andere Angelegenheiten erledigten. Es stießen reichlich Mannschaften zu uns, und den ganzen Tag hindurch waren die großen nach Milosis führenden Heerstraßen mit den Feldzeichen der Häuptlinge bedeckt, die von ihren fernen Wohnorten herbeieilten, um sich um Nyleptha zu sammeln.

Schon nach den ersten beiden Tagen wurde es klar, daß wir mit etwa vierzigtausend Mann Fußtruppen und zwanzigtausend Reitern ins Feld ziehen konnten. Es war das für die kurze Zeit, 310 in der wir sie sammeln mußten, eine sehr stattliche Streitmacht, um so mehr, als etwa die Hälfte des ständigen Heeres Sorais Folgschaft leistete.

Wenn aber unsere Streitmacht groß war, so war doch nach den Berichten, die wir Tag für Tag von unsern Spionen empfingen, die von Sorais noch viel größer. Sie hatte ihr Hauptquartier in einer stark befestigten Stadt namens Marstuna aufgeschlagen, die, wie ich schon bemerkt habe, nördlich von Milosis lag, und die ganze Landbevölkerung strömte zu ihren Fahnen. Nasta hatte sein Hochland verlassen und befand sich mit nicht weniger als fünfundzwanzigtausend seiner Hochlandmannen, den gefürchtetsten Soldaten von ganz Zu-Vendis, auf dem Wege zu ihr. Ein anderer mächtiger Häuptling, namens Beluscha, war mit zwölftausend Reitern zu ihr gestoßen, und allem Anschein nach war es sicher, daß sie ein Heer von beinahe hunderttausend Mann um sich versammeln würde.

Dann kam die Nachricht, daß Sorais ihr Lager aufzuheben und selbst gegen die Felsenstadt zu marschieren gedenke, das Land auf ihrem Zuge verheerend. Es war darum die Frage, ob es besser wäre, sie in Milosis zu erwarten oder ihr in offener Schlacht entgegenzutreten. Um unsere Meinung befragt, äußerten Good und ich uns unbedenklich zugunsten eines Vormarsches. Wenn wir uns hinter den Wällen der Stadt einschließen ließen und dort den Angriff abwarteten, so wurde unsere Untätigkeit sicher als Furcht ausgelegt. Es ist so sehr wichtig, namentlich bei Angelegenheiten dieser Art, wo ein wenig Wille genügt, um die 311 öffentliche Meinung nach der einen oder andern Seite zu beeinflussen, Tatkraft zu entwickeln und von sich hören zu lassen. Der Eifer für eine Sache kühlt sich bald ab, wenn sie ihren Triumph nicht im Vorwärtsgehen, sondern im Sitzen erobern will. Wir stimmten dementsprechend alle dafür, einen Ausfall aus der Stadt zu machen, und dem Feinde eine Schlacht im Freien zu liefern.

Sir Henry war ganz unserer Meinung, und so auch Nyleptha, die wie ein Feuerstein immer bereit war, Feuer auszusprühen. Eine große Karte des Landes wurde gebracht und vor ihr ausgebreitet. Etwa dreißig Meilen diesseits von Marstuna, wo Sorais weilte, und neunzig Meilen von Milosis, führte die Heerstraße durch einen breiten Streifen Land, den auf jeder Seite waldige Hügel begrenzten, die, ohne allzuhoch zu sein, doch für eine große, mit vielem Gepäck beschwerte Armee ganz unpassierbar waren, sobald der Feind die Straße gesperrt hatte. Sie blickte die Karte ernst an, legte dann mit einer Schnelligkeit der Auffassung, die bei manchen Frauen gradezu an Instinkt grenzt, ihren Finger auf dies Hügelland und sagte, sich an ihren Gatten wendend, mit stolzer Zuversicht und einem Zurückwerfen des goldenen Hauptes:

»Hier sollst du Sorais' Heer entgegentreten. Ich kenne den Fleck. Hier sollst du dem Feind entgegentreten und ihn vor dir hertreiben wie Staub vor dem Sturm.«

Curtis sah ernst aus, sagte aber nichts. 312

 


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