Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ich hatte meinen letzten Rundgang bei den Scharfschützen beendet, obgleich sie, um die Wahrheit zu sagen, nichts weniger als »scharf« schossen. Ich hatte mich überzeugt, daß hinter dem Walle jeder Mann auf seinem Platze war, und daß hinter je einem Paar ein Mann in Reserve stand, der das Gewehr ergreifen sollte, wenn einer der Schützen fiel.
Jeder Mann hatte zwanzig Patronen in seinem Beutel. Mehr wollte ich vorläufig nicht austeilen, um zu verhindern, daß sie in der Aufregung oder bei einer Panik blindlings die letzte Patrone verschossen. Aber ich hatte Vorsorge getroffen, daß einige ältere, ruhige Männer hinter der Linie verteilt standen, die unsere Reservemunition in Verwahrung hatten, und zwar für jedes Gewehr ungefähr sechzig Patronen. Sie sollten die Munition in kleinen Portionen in die Feuerlinie schicken, sobald sie sahen, daß es notwendig war. Nach einigen anfeuernden Worten an jene Eingeborenen, die als Unteroffiziere fungierten, zog ich mich hinter eine aus Zweigen geflochtene Schutzwand zurück, die hinter einem Felsen errichtet worden war, um, wenn möglich, noch zu schlafen, ehe der Kampf begann.
Ich schlief tatsächlich einige Stunden lang wie ein Bär. Als ich aufwachte, sah ich Hans am Eingang unseres Obdaches sitzen und das kleine Gewehr Intombi putzen und ölen. Ich fragte ihn nach der Uhr, worauf er antwortete, daß noch zwei Stunden bis Sonnenuntergang fehlten.
Fünf Minuten später kamen Kundschafter an, die das Lager der schwarzen Kendah beobachtet hatten.
Es befand sich kaum einen Kilometer von uns entfernt in einer Waldlichtung. Wie die Späher aussagten, beabsichtigten die Schwarzen, sich gegen Morgen auf unsere Stellungen zu in Bewegung zu setzen. Anscheinend fürchteten sie, sie könnten bei einem Nachtmarsche in einen Hinterhalt fallen.
Für einen Augenblick hatte sich die Frage erhoben, ob es nicht vorteilhaft für uns wäre, sie noch bei Nacht und in ihrem Lager zu überfallen. Nach kurzem Hin und Her wurde die Idee jedoch fallen gelassen. Denn erstens waren wir zu schwach dazu, und zweitens teilten die weißen Kendah die Abneigung, im Dunkeln zu kämpfen, mit ihren schwarzen Brüdern. Im innersten Herzen hoffte ich übrigens, daß sie, wenn der Mond untergegangen, der Morgen aber noch nicht angebrochen war, den Versuch machen würden, uns anzugreifen, und daß sie bei dieser Gelegenheit in unsere Wolfsgruben fallen würden. Ließ sich eine solche Situation tatsächlich herbeiführen, dann würden wir imstande sein, einen beträchtlichen Teil ihrer Macht zu vernichten. Am Nachmittage hatte mich schon der schlaue alte Hans auf eine solche Möglichkeit aufmerksam gemacht, die nur vorteilhaft für uns sein konnte.
Und sie wurde auch herbeigeführt, und zwar – durch Hans selbst! Er hatte sich in der Dunkelheit an das Lager der Kendah herangeschlichen, einen von ihnen erschossen, und war dann eilends zurückgelaufen. Die Kendah glaubten wohl an einen nächtlichen Angriff von uns, und noch während Hans über seinen Streich berichtete, schwoll der Lärm anmarschierender feindlicher Scharen plötzlich zu donnerndem Getöse an. Elfenbeinhörner gellten, die Anführer brüllten Befehle, es war, als ob der ganze Berg unter dem Stampfen der Füße von Tausenden von Menschen und Pferden erzittere, und aus dem Getümmel hallte wieder und immer wieder der Schlachtruf: »Jana! Jana!«
»Sie werden gleich in den Wolfsgruben sein!« kicherte Hans und trat nervös von einem Bein auf das andere. »Horch! Jetzt fallen sie hinein!«
Es war tatsächlich so. Gellende Schmerzens- und Angstschreie erhoben sich allenthalben, die vordersten Reihen mußten hinuntergestürzt sein, Reiter und Fußtruppen durcheinander. Wir hatten über die Fallgruben Zweige gelegt und noch Erde darauf geschüttet. Unter dem Gewicht der blindlings Anstürmenden brach das leichte Gerüst ein, und die Unglücklichen wurden von den scharfen, feuergehärteten spitzen Pfählen, die von unten in die Höhe starrten, aufgespießt. Der Strom von Menschen quoll vorwärts, und alles, was vor ihm war, wurde in die tödlichen Löcher hineingepreßt, bis eins nach dem anderen vom Boden bis zum oberen Rande mit sich windenden Leibern von Menschen und Pferden gefüllt war, und über diesen grausigen, zappelnden Teppich drängte die Armee vorwärts, immer vorwärts.
Der Feind rückte also immer näher. Alle unsere Gruben zusammen verschlangen ja noch nicht ein Hundertstel seiner Scharen. Inzwischen dämmerte der Tag, und die durcheinander geratenen Haufen von Reitern und Fußsoldaten wurden vor unseren Linien sichtbar.
Als sie nicht mehr als vierzig Meter vom ersten Wall entfernt waren, gab ich Befehl zu feuern. Auf diese Entfernung konnten auch die ungeschicktesten Schützen nicht fehlen, und auch zu hoch gegangene Schüsse fanden noch in den im Hintergrund von den Abhängen niedersteigenden Truppenkörpern ihr Ziel, oder sie erreichten die das Fußvolk überragenden Gestalten der Reiter. Sicherlich war kein einziger Schuß der ersten Salven verlorengegangen. So manche Kugel hatte mehrere Menschen verwundet oder getötet.
Die Wirkung der Salve war augenblicklich bemerkbar. Die schwarzen Kendah, die wohl angenommen hatten, daß nur die Weißen Gewehre besäßen, unterbrachen den Vormarsch und standen wie versteinert. Sekundenlang herrschte Schweigen. Nichts war zu hören, als das Knacken der Gewehrschlösser, mein erneuter Befehl: »Feuer!« – und wieder rollte und knatterte eine Salve. Ein einziger, gellender Schmerzens- und Entsetzensschrei erhob sich aus den feindlichen Massen und dann – war das nicht das unverkennbare Geräusch einer wilden Flucht?
»Weg sind sie! Das war ein bißchen zu warm für sie, Baas«, kicherte Hans.
»Ja«, antwortete ich, nachdem ich meinen Leuten befohlen hatte, das Feuer einzustellen. »Aber ich bin sicher, daß sie mit dem Tageslichte wiederkommen. Immerhin, der Streich, den du ihnen gespielt hast, ist ihnen teuer zu stehen gekommen, Hans.«
Allmählich wurde es hell. Überall hoben und drängten sich die in die Fallgruben gefallenen halbtoten Menschen und Pferde, überall lagen, einzeln und in Haufen, tote und verwundete Menschen auf dem Gefilde, die rote Ernte unseres Gewehrfeuers.
Wir hatten bis zu diesem Moment nicht einen Mann verloren, ein einziger nur war durch einen Wurfspeer leicht verletzt worden. Als dies bekannt wurde, brachen die weißen Kendah in grenzenlosen Jubel aus. Sie dachten wohl, das Ende müßte so wie der Anfang sein.
Wir hatten zwar einen taktischen Erfolg erzielt, aber den Ausgang des Kampfes konnte er nicht beeinflussen, denn neben den vielen, vielen Tausenden, über die die Feinde noch verfügten, spielten diese Verluste keine Rolle.
Etwa eine Viertelstunde später kletterten und purzelten einige Jungen, die wir zum Ausguck auf die Klippen geschickt hatten, zu uns herunter und berichteten, daß die Schwarzen ihre Armee hinter der Krümmung des Passes ordneten, und daß die Reiterei abgesessen war und ihre Pferde nach hinten geschickt hatte.
Kurz darauf wurden die schwarzen Kendah vor der Krümmung sichtbar. Sie marschierten in vorzüglicher Ordnung an. Etwa acht- bis zehntausend Mann standen schließlich vor uns. Die vordersten Reihen hielten in einer Entfernung von etwa dreihundert Metern, also zu weit, als daß ein wirksames Feuer seitens meiner wenig geübten Schützen hätte eröffnet werden können. Und plötzlich war ein Dröhnen und Blasen von Hörnern und ein ungeheures Geschrei hinter der Paßkrümmung zu vernehmen.
Und jetzt gab es das merkwürdigste Schauspiel zu sehen, das meine Augen jemals genossen hatten. Der Riesenelefant Jana rückte an! Auf Kopf und Nacken des Ungetüms saßen zwei Männer, der lahme Priester, und Simba, der König. Beide prangten im höchsten Feststaat und schwangen lange Speere. Um den Nacken des Elefanten waren glänzende, schwere Ketten geschlungen, und die Enden dieser Ketten wurden von Speerträgern, sechs an der einen Seite und sechs an der anderen, gehalten. Am Ende des Rüssels trug der Riesenelefant drei kürzere Ketten, von denen stachlige Metallkugeln herabhingen.
In förderndem, schlürfendem Trab kam Jana heran. Er passierte das Zentrum der feindlichen Armee, eine Gasse öffnete sich für ihn, er wich leicht und sicher den mit Toten gefüllten Fallgruben aus. Dann verlangsamte er ein wenig seinen Trott, aber er dachte keineswegs daran, vor unseren Wällen stehenzubleiben. Jetzt hielt ich meine Stunde für gekommen. Ich überzeugte mich, daß meine doppelläufige Elefantenbüchse schußfertig war. Hans hielt die zweite Büchse bereit, die ebenfalls doppelläufig und vom gleichen Kaliber war.
»Jetzt werde ich diesen Elefanten töten!« rief ich aus. »Niemand sonst soll schießen! Steht still, und ihr werdet sehen, wie der Gott Jana stirbt!«
Immer näher kam der Elefant; bis zu diesem Moment hatte ich mir keine richtige Vorstellung von der geradezu fürchterlichen Größe dieses Ungetüms machen können, nicht einmal damals, als er im Mondlicht über mir stand, im Begriffe, mich mit seinem Fuße zu zermalmen.
»Schieß, Baas,« wisperte Hans, »jetzt ist er nahe genug.«
Aber ich zögerte noch. Ich wollte abwarten, bis er stehenblieb, um ihn dann, wenn möglich, mit einer einzigen Kugel umzulegen, aus Prestigegründen.
Endlich stand der Koloß, und die Höhle seines Rachens öffnend, hob Jana den Rüssel hoch und trompetete, während Simba uns mit lauter Stimme zurief, uns dem Gotte Jana, »dem Unverwundbaren«, zu ergeben.
»Ich werde dir gleich zeigen, ob du unverwundbar bist, mein Junge«, sagte ich zu mir selber, sah mich noch einmal schnell um, ob Hans das zweite Gewehr fertig hatte, und sah dabei, daß Ragnall und Hârut und alle weißen Kendah sich in ihren Gräben erhoben hatten, atemlos den Ausgang dieses Zweikampfes erwartend. Niemals konnte ein Schuß leichter und sicherer sein. Der Riese hatte seinen Kopf erhoben und den Rachen geöffnet.
Ich hob das schwere Gewehr, ich visierte über Korn und Kimme auf einen bestimmten Fleck im Hintergrunde jener roten Höhlung. Ich zog ab, langsam und ruhig, der Schuß knallte – und nichts geschah! Ich hörte keinen Kugelaufschlag, und Jana nahm sich nicht einmal die Mühe, den Rachen zu schließen.
Ein lauter Ruf »Oh! Oh!« ging durch die Zuschauer. Ehe er noch verebbte, war der zweite Schuß dem ersten gefolgt mit demselben Ergebnis oder vielmehr demselben Fehlergebnis, und ein zweites und noch lauteres »Oh! Oh!« erscholl. Endlich geruhte Jana, den Rachen zuzumachen. Und als wollte er mir ein noch besseres Ziel bieten, drehte er sich jetzt um, bot mir die Seite dar und stand still wie ein Stock.
Mit einem Fluche packte ich das zweite Gewehr, zielte hinter das Ohr und feuerte beide Kugeln hinaus.
Jana rührte sich nicht. Es gab keinen Kugelaufschlag, und keine Spur von Blut erschien auf seiner Haut! Und der fürchterliche Gedanke überwältigte mich, daß ich, Allan Quatermain, ich, der berühmte Schütze, der bekannteste Elefantenjäger der Welt, viermal nacheinander diesen Heuschober von einem Vieh aus einer Entfernung von dreißig Schritten gefehlt hatte! So groß war meine Scham, daß ich dachte, ich sollte ohnmächtig werden. Wie durch einen Nebel hörte ich verschiedene Ausrufe um mich herum:
»Gütiger Himmel!« sagte Ragnall.
»Allemagte!« bemerkte Hans.
»Das Kind stehe uns bei!« murmelte Hârut.
Und alle ringsum starrten mich an, als wäre ich ein Geist. Dann lachte jemand nervös auf, und augenblicklich begannen alle durcheinander zu lachen. Sogar die entfernte Armee der Schwarzen schüttelte sich vor Lachen, und ich, Allan Quatermain, war das Zentrum all dieses Spottes. Aber auf einmal schwieg das Gelächter. Und noch einmal klang der Ruf des Königs hoch von dem Tierturm herab: »Jana, der Unverletzliche, Jana, der Unbesiegbare!« Aber die weißen Kendah schrien: »Magie!« und »Behext! Behext!«
»Jawohl,« gellte Simba, »keine Kugel kann Jana, den Gott, verletzen. Nicht einmal die Kugel des weißen Lords, den ihr von so weit her geholt habt, um Jana zu töten.«
In diesem Augenblick sprang Hans auf die Brüstung des Walles, hob die kleine Büchse Intombi hoch und kreischte: »Wir wollen einmal sehen, ob dieses Vieh wirklich ein Gott oder ein Elefant ist.«
Damit berührte er den Abzug. Und gleichzeitig mit dem Knall hörte ich den dumpfen Aufschlag der Kugel und sah Blut auf der Haut des Elefanten, gerade an jener Stelle, wohin ich soeben ohne Resultat gezielt hatte. Selbstverständlich war die von einer nur kleinen Pulverladung getriebene winzige Kugel nicht imstande, bis zu den inneren Organen vorzudringen. Wahrscheinlich hatte sie nur die Haut durchgeschlagen, und vermutlich war sie einen Zoll tief im Fleische steckengeblieben.
Jedoch ihre Wirkung auf diesen »unverwundbaren« Gott war bemerkenswert. Er fuhr wie vom Schlag getroffen herum; er schwang seinen Rüssel und kreischte vor Schmerz und Wut. Und dann raste er davon. Mitten in die dichtesten Reihen seines eigenen Volkes hinein! Mit solch einer Geschwindigkeit sauste er davon, daß die Speerträger die Ketten loslassen mußten, während der König und der Priester sich nur dadurch auf ihren Sitzen zu halten vermochten, daß sie sich an die Ketten und an den Strick um seinen Nacken anklammerten.
Das Resultat war also, insoweit es die Zerstörung magischer Illusionen betraf, zufriedenstellend, aber mich selbst brachte es in eine noch schlimmere Situation denn zuvor. War jetzt nicht erwiesen, daß das, was Jana vor meinen Kugeln geschützt hatte, nichts Übernatürliches gewesen war, sondern nur mein schlechtes Schießen?
Mit einem donnernden Gebrüll erwachte die Armee der schwarzen Kendah zu neuem Leben. Der Angriff begann.