Friedrich Wilhelm Hackländer
Namenlose Geschichten - Zweiter Band
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Dreißigstes Kapitel. Das Ende des Traumes.

An jenem denkwürdigen Morgen, wo der Jäger Lukas aus der Wohnung des Schultheißen in die Berge hinaufgeeilt war, um von dem verschwundenen Mädchen eine Spur aufzufinden, an jenem Morgen, wo er das Ende seines Traums erleben sollte, blieb der Schultheiß des Dörfchens, Gottlieb Baumberg der Ältere, als er den Jäger bis an das Ende seines Gartens begleitet, kopfschüttelnd stehen und sah dem sonderbaren Fremden einen Augenblick nach in tiefe Gedanken versunken, dann rückte er sein Morgenkäppchen auf dem weißen Haar unschlüssig hin und her, stützte sich auf das Gartenthor und überdachte die sonderbaren Reden, die der unbekannte Mann geführt. Sein sorgfältiges Erkundigen nach dem Bergsee da droben, nach der Tiefe desselben und ob er recht einsam vom Wege abläge, dieses Alles schien ihm sehr verdächtig.

»Hollah, hollah!« sagte er zu sich selber, »die Sache will mir durchaus nicht gefallen, da muß ich schon ein Bischen meine Vorkehrungen treffen! Peter! Anton!« rief er, während er eilig durch den Garten nach seiner Wohnung zurückschritt, »Anton! Peter! wo steckt ihr?«

Bald erschienen die Gerufenen, zwei handfeste Bauernbursche, unter dem Scheuernthor und liefen zu ihrem Herrn in den Garten. »Paßt mir auf,« sagte der Schultheiß, »und merkt euch, was ich jetzt will! Ihr Beiden, ohne aber vorher im Dorf mit Jemand darüber zu sprechen, lauft, was ihr könnt, zu meinem Gevatter nach der Sägmühle, da nehmt ihr die beiden Söhne des Gevatters mit – ich lasse meinen schönen Gruß machen und darum bitten – und nehmt zugleich den leichten Nachen vom Mühlteich und fünfzig Klafter Strick, ein paar lange Stangen und springt hinauf, was ihr könnt, an den wilden See. Ich werde noch vor euch da sein, – na! schaut mich nicht so an! macht, daß ihr fortkommt! Ich habe euch noch niemals eine Dummheit befohlen und schlechte Witze mache ich auch keine; – aber eilt, was ihr könnt, 's gilt ein Menschenleben!«

Jetzt flogen die Bursche davon über das bethaute Gras hinweg nach der Mühle, die in einer Schlucht am Fuße der Berge lag. Der alte Schultheiß ging an das Gartenthor zurück, hielt die Hand als einen Schirm gegen die Sonne an die Augen und blickte nach dem fremden Manne. Dieser war rüstig aufwärts gestiegen und stand jetzt auf der Brücke des Waldwassers in demselben Augenblicke, wo Anton und Peter die Mühle erreichten. Jetzt nickte der Schultheiß zufrieden lächelnd vor sich hin, ging in's Haus zurück, entledigte sich seiner Schuhe und zog dafür ein paar hohe Stiefel an; dann setzte er den runden Hut auf, ging in seinen Stall, sattelte ein kleines, gedrungenes braunes Pferd, und nachdem er noch einige Befehle für das Haus zurückgelassen, schwang er sich auf den Rücken des Thieres und trabte ebenfalls den Bergen zu.

Anton und Peter hatten, wie gesagt, die Mühle erreicht, hatten den Gevatter des Schultheißen bei Seite genommen und ihm eilig den Wunsch, beziehungsweise Befehl desselben zugeflüstert.

»Da hat's Eile!« meinte der alte Müller, brachte seine Finger an den Mund und pfiff so gellend, daß es das Geklapper der Mühle übertönte. Augenblicklich darauf ließ sich an einem der oberen Fenster ein weiß gepuderter Kopf sehen sowie ein paar breite Schultern, worauf der Kopf saß, und bald darnach kam ein zweites Gesicht zum Vorschein, welches dem erstern über die Achsel sah, und Beide zusammen verschwanden wie der Blitz, als ihnen der alte Müller eine Geberde machte, welche sie eiligst Herabkommen hieß. Mit wenigen Worten theilte nun der Vater seinen beiden Söhnen mit, um was es sich handle, worauf Tau und Stangen in der größten Geschwindigkeit herbeigeschafft und der leichte Nachen aus dem Mühlenteich gehoben wurde. Darauf traten sie ihre Wanderung in's Gebirge an, und da abwechselnd zwei und zwei den Nachen trugen, so kamen sie rasch vorwärts.

Bald hatten sie die Höhe des Berges erreicht und brauchten auf dem Kamme desselben nur noch ein paar tausend Schritte zu gehen, um den »wilden See« zu erreichen. Rings um war Alles still und auch nicht der leiseste Wind rauschte in den Blättern der Bäume; daher kam es denn auch, daß sie, obgleich noch eine gute Strecke von dem See entfernt, auf einmal deutlich ein Geräusch vernahmen, als plätschere etwas in dem Wasser. Dies hören und im schnellsten Laufe herbeieilen, war bei den vier kräftigen Burschen Eins und dasselbe. Jetzt sahen sie den See vor sich liegen und sahen, wie das Wasser nur noch kaum bemerkbar weite Kreise warf.

In diesem Augenblicke kam auch der Schultheiß auf seinem Pferde herbeigesprengt, warf sich vom Sattel und leitete mit großer Umsicht die Rettungsanstalten. Der Nachen wurde in das Wasser geschoben und schnell an das Ende eines großen Tannenbaums gerudert, der umgefallen war und weit in den See hineinragte. Einer der Söhne des Müllers, ein tüchtiger Schwimmer, warf seine Kleider ab, wand das Ende des Strickes um die Faust und stürzte in den See. Schnell sank er unter, doch vergingen einige bange Sekunden, ehe an dem Seil durch eine zitternde Bewegung ein Zeichen gegeben wurde, es hinaufzuziehen. Heftig zogen nun die vier starken Männer, theils im Nachen stehend, theils sich an dem Baumstamme haltend, das Tau in die Höhe, und bald darauf kam der Retter in die Höhe, den Geretteten fest am Kragen nach sich ziehend.

Der Schultheiß nickte vergnügt mit dem Kopf, als sie nun den unbekannten Mann auf das weiche Moos am Ufer des Sees niederlegten und derselbe nach wenigen Sekunden tief aufathmete, die Augen öffnete, sie aber bald darauf wieder schloß. Der Schultheiß, der auf Alles vorbereitet war, hielt ihm ein Fläschchen an die Lippen und flößte ihm etwas Stärkendes ein; dann befahl er den jungen Burschen, in die Mühle zurück zu gehen und einige Kleidungsstücke für den Fremden herauf zu bringen. Dieser schlug nach einiger Zeit abermals die Augen auf, schaute den alten Mann, der neben ihm kniete, mit großen Augen an und richtete sich langsam in die Höhe.

»Wir haben uns ja heute Morgen schon gesehen,« sagte der Jäger mit matter Stimme, und blickte schaudernd um sich auf das stille Wasser an seiner Seite.

»Allerdings, mein Freund,« erwiderte der Schultheiß lachend, »bevor Sie an den See gegangen und auf jeden Fall aus Unvorsichtigkeit hinein gefallen sind.«

»Ja, das muß wohl so sein,« entgegnete Lukas; »aber habe ich nicht jenes Mädchen suchen wollen, das drunten im See liegt?«

»Possen! wer wird drunten im See liegen?« versetzte der alte Mann; »das Mädchen wahrhaftig nicht.«

»Doch, doch!« entgegnete der Jäger; »ich habe sie gesehen, so glaube ich wenigstens; ihre langen blonden Haare habe ich gesehen, es ist schade um das arme schöne Geschöpf.«

»Na, wenn Sie wollen, so können wir nachher den ganzen See nochmal mit Stangen und Seilen untersuchen,« sagte der gutmüthige alte Mann; »doch wenn die Unglückliche wirklich da unten liegt, so thut ihr kein Finger mehr weh. Aber wie fühlen Sie sich? Wie ist Ihnen zu Muthe?«

»Mir ist außerordentlich wohl zu Muthe,« antwortete lächelnd der Jäger, »mir ist eine schwere drückende Last von der Brust genommen, ich habe das Gefühl, als sei ich aus einem tiefen, lang anhaltenden Traume erwacht. – Ganz richtig!« sagte er nachsinnend, »ich ging nach der Residenz mit Briefen von meinem Herrn, den ich liebe und verehre, und dann traf ich unterwegs jenes Mädchen und schickte sie mit meinem Wagen in das Dorf da unten – das ist doch Alles wahr, Schultheiß? Ich habe also eigentlich nie geträumt! Wie man doch so seltsames Zeug denken kann! – Richtig! richtig! der See hat mich angezogen; denn ich erinnere mich aus meiner Jugend einer ähnlichen Geschichte, wie ein armes Mädchen ebenfalls in einen See sprang und wie man lange nach ihr suchte, sie aber nie fand. Damals fiel ich in eine schwere Krankheit, und als ich genas, war es dunkel und trübe in meinem Kopfe; aber jetzt hat sich's aufgeklärt, – ja, Gott sei Dank! es hat sich aufgeklärt, das kalte Bad hat mir wohl gethan.«

Der Schultheiß hatte diesem Selbstgespräch lächelnd zugehört und sah sichtlich erfreut, wie die finsteren Schatten auf dem Gesichte des fremden Mannes einem angenehmeren, milderen Ausdrucke Platz gemacht. Nur so oft er an das verschwundene Mädchen dachte, flog es wie tiefer Kummer über seine Züge, und er konnte sie nicht vergessen.

Nachdem die Kleider gekommen, ging der Schultheiß mit dem Jäger langsam nach dem Dorfe zurück, und die vier jungen Männer gaben sich nochmals alle Mühe, wie es der Schultheiß versprochen, und untersuchten den See mit Tau und Stange ohne Erfolg nach allen Richtungen.

Nach ein paar Stunden brachten diese die Botschaft in's Dorf hinab, zugleich aber ein kleines Papier in der Form eines Briefes, das sie auf dem Waldwege am See gefunden. Lukas las diesen Brief, und obgleich man in dem See nichts gefunden, so war er doch überzeugt, daß sich das arme Mädchen ein Leides angethan, um so mehr, als ihm der Schultheiß gestand, daß man den tiefen See eigentlich nicht gründlich untersuchen könne.

Wie der Jäger schon droben auf dem Berge gesagt, so war es ihm wirklich zu Muthe. Er fühlte sich befreit wie aus beengenden Banden, wie aus einem tiefen Schlafe erwacht, und da er sich wie im Traume in den See gestürzt hatte, so schauderte er wohl zurück, wenn er daran dachte, er habe so leichtsinnig und frevelhaft seinem Leben ein Ende machen wollen; doch wurde der Kummer darüber gemildert durch das Andenken an jenen Zustand, in welchem er so Manches fast willenlos gethan. Jetzt lag ein neues, angenehmes Leben vor ihm, er brauchte nicht mehr wie früher ein schreckliches Erwachen zu befürchten; das lag hinter ihm, wie dunkle Wetterwolken, wie das Leuchten falber Blitze und wie das tiefe, unheimliche Rollen des Donners. Vor ihm aber hatte sich der Himmel aufgeklärt und er sah einen hellen Schein auf der Zukunft seines Lebens.

Wenn er rückwärts blickte, so erschütterte ihn nur Eins, das war nämlich das Bild jenes fremden und ihm doch so bekannten Mädchens, das aus dem dunklen Gewölke die Arme stehend ausstreckte und ihn bat: rette mich! Zuweilen erschien ihm dieses Bild auch, wenn er in die Zukunft blickte, und stand alsdann licht und freundlich vor seinem inneren Auge.

Die Aufschrift jenes Briefes hatte er hundert Mal gelesen, kannte aber den Namen der Frau nicht, an welche der Brief gerichtet war, beschloß jedoch, bei seiner Rückkunft in die Residenz genaue Erkundigungen einzuziehen über Alles, was das verschwundene Mädchen beträfe; und das that er auch. – – – – – – – – – – – – –

Wenige Tage nach diesem Vorfalle hielt abermals eine Extrapost in dem kleinen Dorfe D., und während der Postillon von Metthausen aus-, und der neue Postillon, den wir bereits kennen, lächelnd einspannte, unterhielt sich der Herr Lukas, der soeben von der Residenz zurück kam, neben dem Wagen stehend auf's Freundlichste mit dem alten Schultheißen.

Beide schüttelten einander herzlich die Hände, und als nun der Jäger wieder in seine Kalesche stieg, und während der Schultheiß vergnügt sich die Hände rieb, da er überzeugt war, er habe einem wackeren Mann geholfen, rollte der Wagen des Jägers von dannen, das Verdeck zurückgeschlagen, in der milden, warmen Frühlingsluft. Hinter sich ließ er die Residenz mit vielen finstern und unheimlichen Erinnerungen, die in den letzten Tagen noch um eine vermehrt werden waren; neben sich hatte er in einer ledernen Tasche den so sehr wichtigen Brief für den Baron Karl, traurig und angenehm zugleich, und so fuhr er dahin durch die grünen Felder auf der langen, langen Chaussee, durch Dörfer und Städtchen, ein sehr glücklicher Mensch. –

Reisen, namentlich im Frühjahr, ist etwas sehr Angenehmes, und wenn uns der geneigte Leser im nächsten Kapitel folgen will, so wollen wir mit Zaubermacht dem dahin rollenden Wagen voraus eilen und uns selbst nach dem Baron Karl umsehen, der schon so lange aus unserem Gesichtskreis entschwunden.


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