Friedrich Wilhelm Hackländer
Namenlose Geschichten - Zweiter Band
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Zweiundzwanzigstes Kapitel. Anna.

Man kann sich leicht denken, daß die plötzliche Abreise des Barons Karl noch zu weit mehr Gerede und Vermuthungen Anlaß gab, als seine Ungnade bei Hofe. Die, welche den Grund derselben wußten, bedauerten ihn von Herzen, und wenn auch Keiner den Muth hatte, die allgewaltige Hofdame direkt ihr Unrecht einigermaßen fühlen zu lassen, so konnten doch Manche nicht umhin, ihre indirekten Bemerkungen so laut und deutlich zu machen, daß sie der Frau von C. zu Ohren kommen mußten und ihr nothwendig sagten, wie man in der Gesellschaft über sie dachte.

Von dem Hoffräulein hatte Niemand mit ihr gesprochen, seit sie in den ersten Tagen nach deren Abreise auf dergleichen Fragen die kurze Antwort gab: sie sei zu Verwandten gereist. In der Gunst der alten und der jungen Herzogin stand die Hofdame fester als je. Da sie es nicht Verschmähte, hie und da eine Andere ihre Macht fühlen zu lassen, so war sie wohl gefürchtet, aber nicht gesucht, und man fing schon an, in den Cirkeln einer gesellschaftlichen Opposition den Baron Karl, er mochte nun begangen haben, was er wolle, in Schutz zu nehmen, und begann über den Abwesenden nur Gutes zu reden.

Eigentlich wäre es auch schwer gewesen, ihm etwas Böses, etwas Unrechtes oder nur Unliebenswürdiges nachzusagen: er war ein vollendeter Gesellschafter, ein excellenter Tänzer, stets gefällig und liebenswürdig, sowie aufopfernd bis zum Exceß für seine Freunde und Bekannten. Die Schaar der letzteren – eigentliche Freunde hatte er, wie jeder vernünftige Mensch, wenige – fühlten auch seine Abwesenheit recht schwer. Das kleine Haus vor der Stadt war und blieb verschlossen; aus dem Schornstein der Küche schlängelte sich kein Rauch mehr empor, und im Innern ward kein Diner mehr servirt, keine Spieltische aufgestellt; die nächsten Bekannten empfanden dies um so schmerzlicher, und unter diesen am allerschmerzlichsten der Graf Alfons, welcher, ohne sich durch großen Verstand oder sonst etwas auszuzeichnen, mit dem Baron sehr liirt war, weil er, wie man im gewöhnlichen Leben sagt, ein guter Kerl war.

Der Graf hatte soeben einen Spazierritt beendigt, er hatte eine Promenade um die Stadt herum gemacht und ließ seinem großen englischen Pferde den Zügel, als er jetzt bei dem kleinen Hause seines Freundes vorbeikam, und stemmte den Arm in die Seite, um mit mehr Muße, und, wie er sich selbst glauben machte, gedankenvoll nach dem Fenster hinaufzuschauen. Da war aber Alles öde und leer und nichts Lebendiges zu sehen und zu hören als der große Hofhund, der seinen Kopf auf die Vordertatzen gelegt hatte und leise heulte, als er einen eleganten Reiter vorbeikommen sah, der nicht sein Herr war.

Nachdem sich der Graf einige Sekunden lang mit dem Gedanken gequält, wo der verfluchte Kerl wohl sein könne, ob er das Mädchen gefunden habe oder finden werde, nahm er die Zügel wieder in die Hand und verfolgte in schnellerer Gangart den Weg nach seinem Hause zu. In einer der Hauptstraßen bemerkte er den Wagen seiner Schwester Clara und sah sie selbst aussteigen und die hohe Treppe eines Hauses hinangehen, und da sie oben auf dem Ruheplatz vor der Thür angekommen mit ihm zu Pferde nun in gleicher Höhe sich befand, so ritt er näher, um ein paar Worte mit der Schwester zu wechseln.

»Wie geht's bei dir zu Hause?« fragte der Bruder; »was macht dein Mann, hat er ausgeschlafen? Tröste ihn nur über seinen Verlust im Whist gestern Abend; ich habe ihn in der Tasche und sein Gold ist somit in der Familie geblieben.«

»Nichts Neues?« fragte die Gräfin, die das Gespräch über die Whistparthie vollständig überhörte.

»Gar nichts, mein Kind; wie kannst du auch von mir Neuigkeiten verlangen? Du, die immer an der Quelle des Neuen, des Schönen und alles Heiles sitzt, zu den Füßen deiner angebeteten Adelaide?«

Die Gräfin machte ein verdrießliches Gesicht und sprach: »lasse doch deine ewigen ungenießbaren Spässe, sage mir lieber, ob du von dem Baron Karl etwas weißt.«

»Und wenn ich etwas wüßte, mein Kind?« fragte lachend der Graf.

»So wäre ich begierig darauf, es zu hören,« entgegnete die Schwester.

»Nun, so viel kann ich dir schon anvertrauen,« antwortete der Graf, »daß man wohl annehmen kann, daß er dem Aufenthaltsort des Fräuleins auf der Spur ist.«

»Und wenn er sie findet,« sagte die Gräfin mit hoher Miene und kaltem Tone, »so wird es ihm doch nichts nützen, ehe er nicht zurückkommt und die Verzeihung der Frau von C. erfleht; sie allein hat das Schicksal Paulinen's zu bestimmen und wird zu solch' einer improvisirten Heirath, wie sie der Baron vor hat, nimmermehr ihre Einwilligung geben.«

»Das mag sie halten wie sie will,« antwortete der Graf achselzuckend, »aber in dem Falle heirathen wir ohne Einwilligung.«

»Das wollen wir sehen!« entgegnete die Schwester und winkte zum Abschiede leicht mit dem Kopfe, worauf der Bruder seinen Hut lüftete und nach Hause ritt, während er zwischen den Zähnen summte:

»Einsam wandelt dein Freund im Frühlingsgarten, Adelaide.«

An dem Thorweg seines Hauses angekommen, wurde ihm derselbe von einem Stallbuben geöffnet; – er stieg gemächlich von seinem Pferde herunter und ging in seine Zimmer, welche sich im Parterrestock des großen Hauses befanden und mit dem größten Theil ihrer Fenster auf einen großen und zierlich angelegten Garten gingen.

Der Graf Alfons war ein Blumenfreund, er hatte zur ersten Zeit des Frühjahrs die schönsten Camelien und pflegte sie mit eigener Hand.

Während der Kammerdiener einen schweren Vorhang emporhob, unter welchem er in ein kleines Vorzimmer und dann in seine Garderobe kam, die an's Schlafzimmer stieß, flüsterte ihm der Diener leise zu: im Salon befinde sich eine Dame, die schon seit länger als einer Viertelstunde auf den Herrn Grafen warte.

»Wer ist's, Friedrich, eine meiner Bekannten? Kennst du sie?«

»Der Herr Graf werden entschuldigen, aber ich habe sie, glaube ich, noch nicht gesehen; sie ist groß, scheint ziemlich schlank, aber dicht verschleiert.«

»Sie kam zu Fuß?«

»Nein, Herr Graf, in einer Droschke, die unten wartet.«

Der Graf gab Hut, Reitpeitsche und Handschuhe in die Hände des Kammerdieners, fuhr mit der Hand leicht über das Haar, als er an einem kleinen Spiegel vorbeikam, drehte seinen schwarzen Schnurrbart aufwärts und trat in seinen Salon, sehr gespannt, wer die Dame wohl sein möge.

Da saß dieselbe in einem kleinen Fauteuil in sehr eleganter Morgentoilette, ein grauseidenes Kleid, blauer Atlashut, in einen großen Shawl gewickelt; sie hatte ihren Schleier zurückgeschlagen, doch konnte der Graf im Augenblicke des Eintretens ihr Gesicht nicht sehen, da sie angelegentlichst den Blumentisch voll prachtvoller Camelien, der etwas seitwärts stand, zu betrachten schien. Bei dem Geräusche aber, das der Eintritt des Grafen verursachte, wandte sie ihren Kopf herum und Jener blieb erstaunt in der Mitte des Salons stehen, mit dem überraschten und freudigen Ausrufe: »Anna! – Anna, sind Sie es wirklich? Sehe ich Sie endlich einmal wieder, Sie böses Mädchen? Schöne blonde Fee, die plötzlich erschien, um spurlos wieder zu verschwinden!«

»Ich bin es selbst, Herr Graf,« entgegnete das Mädchen mit ruhiger Stimme und heftete die großen dunkelblauen Augen fest auf ihn; »ich muß gestehen, ich bin mir einer Schuld gegen Sie bewußt.«

»Einer großen, Anna, einer sehr großen! Sie hatten mir versprochen« – er wollte eigentlich sagen: »du hattest mir versprochen, aber das Mädchen imponirte ihn – »Sie hatten mir versprochen, ich dürfte Sie wieder sehen und haben Ihr Versprechen nicht gut gehalten! wie gesagt, Sie waren spurlos verschwunden – o Gott, Anna! wenn Sie wüßten, wie sehr ich nach Ihnen geforscht, wie ich die ganze Stadt nach Ihnen durchsucht! Nein, Sie haben mich unverantwortlich behandelt!« – Der Graf lehnte sich bei diesen Worten an den Fenstervorhang und versank in stille Bewunderung beim Anblick dieser reizenden Gestalt und dieses edlen, schönen Gesichts mit den seelenvollen Augen.

»Aber sagen Sie mir,« fuhr er nach einer Pause fort, »wo waren Sie in all' der Zeit? ich glaube, es ist ein halbes Jahr. Hatten Sie die Stadt verlassen? – hatten Sie? – haben Sie Freunde gefunden, Anna, die es redlicher und besser mit Ihnen meinen, als ich, daß Sie mich so ganz vergessen konnten?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf und sagte mit fester Stimme: »nein, Herr Graf, ich habe Sie nicht vergessen, ich habe Ihrer beständig freundlich gedacht.«

»Nur freundlich, Anna?«

Das Mädchen zuckte mit den Lippen und wollte sie trotzig aufwerfen, und man sah schon ihre schneeweißen Zähne hervorblitzen; doch fuhr ein schmerzliches Lächeln über ihre Züge, und sie sagte: »gewiß, Herr Graf, freundlich, recht freundlich; wie kann ich Ihrer anders gedenken?«

»Mit Liebe, Anna, mit ein klein wenig Liebe,« versetzte der junge Mann und faßte ihre kleinen Hände, die sie ihm ruhig ließ.

»Mit Liebe?« entgegnete das Mädchen, und ihre Zähne wurden abermals unter der Oberlippe sichtbar; – »mit Liebe? Ei, Herr Graf, die läßt sich nicht gebieten, die haben Sie auch nicht von mir verlangt.« – Diese Worte sagte sie in dem scharfen und schneidenden Tone, mit welchem sie in vergangener Nacht zu ihrer Mutter gesprochen.

»Ei, ei, Anna!« sagte der Graf lachend, »Sie sind immer noch dieselbe Schwärmerin, eines der sonderbarsten und liebenswürdigsten Mädchen, die ich je gesehen. Aber jetzt Scherz bei Seite! ich freue mich wirklich ganz ungemein, Sie wieder zu sehen, und ich hoffe, Sie werden nicht wieder so spurlos verschwinden.«

Die Züge des Mädchens hatten den früheren ruhigen und ernsten Ausdruck wieder angenommen; ja, sie blickte schmerzlich auf, und doch leuchtete ihr Auge im nächsten Augenblick freudig, als sie antwortete: »wer weiß, Herr Graf, vielleicht verschwinde ich noch spurloser, als bisher! das heißt, vielleicht, ja, wahrscheinlich werden Sie mich nie wieder sehen; und daß ich Ihnen das sage und daß ich Ihnen darauf mit einer großen Bitte lästig falle, soll Ihnen beweisen, wie gut ich von Ihnen denke, ja, wie sehr freundlich ich stets Ihrer gedacht.«

»Schönste Anna,« sagte der junge Mann entzückt, »Sie haben eine Bitte? Sprechen Sie sie aus, und wenn es mir möglich ist sie zu erfüllen, so soll es gewiß geschehen! Wollen Sie ein reizendes Appartement, eine kleine niedliche Equipage? – befehlen Sie, ich will Alles thun, was Sie wünschen – ich bin so froh, Sie wieder zu sehen!«

Das Mädchen schüttelte mit dem Kopfe und sagte: »es wird mir schwer, meine Bitte auszusprechen, aber ich gebe Ihnen die heilige Versicherung, daß das, was ich von Ihnen wünsche, nicht für mich ist.«

»Sprechen Sie, Anna,« entgegnete der Graf und küßte die Stelle ihrer Hand, die zwischen Handschuh und Kleid sichtbar war.

»Wohlan,« sprach das Mädchen und zog ihre Hand zurück; »ich brauche fünfzig Louisd'or – – – – – nicht für mich, Herr Graf, bei Gottes Barmherzigkeit, auf die ich hoffe, auf die wir ja alle hoffen müssen, nicht für mich!«

»Liebes Kind,« sagte der Graf lachend, »ob Sie die Kleinigkeit für sich brauchen, oder für Jemand anders, ist mir wahrhaftig gleichgültig; ich schätze mich nur glücklich, Ihnen diesen unbedeutenden Dienst leisten zu können.« – Damit eilte er in sein Schreibzimmer und holte eine kleine Rolle, die er in die Hand des Mädchens legte.

»Gott lohn' es Ihnen!« versetzte sie, und zwei große Thränen zitterten in ihren Augen, – »Gott lohn' es Ihnen, Herr Graf, Sie haben vielleicht das Glück eines Menschen gemacht!«

»Das soll mich freuen!« sagte der leichtsinnige, aber gute junge Mann; »wenn ich Ihnen nur einen frohen Augenblick gemacht habe, ist mir's genug. Aber Sie wollen mich schon verlassen?« setzte er hinzu, als er sah, wie sich Anna aus ihrem Fauteuil erhob und den Schleier über ihr Gesicht fallen ließ. »Wann werde ich Sie wiedersehen, Anna?«

»Ich weiß es nicht, Herr Graf; Sie sehen, ich will ehrlich gegen Sie sein, ich weiß wahrhaftig nicht, wann ich Sie wieder sehen werde; aber bemerken Sie den heutigen Tag, Sie haben ein sehr gutes Werk gethan! Dieses Geld wird zu einem schönen und edlen Zwecke benützt.«

»Und das ist Alles, was Sie mir heute sagen?« entgegnete der Graf und stützte sich auf den Fauteuil, den das Mädchen eben verlassen; »nicht einmal ein Versprechen geben Sie mir, wann ich Sie wieder sehen soll?«

»Ich kann nicht,« sagte Anna und reichte ihm die Hand zum Abschiede; glauben Sie aber, wir sehen uns gewiß wieder. Nehmen Sie nochmals meinen herzlichsten und innigsten Dank für Ihre Güte – leben Sie wohl!«

»Leben Sie wohl!« erwiderte der junge Mann und zog das nicht widerstrebende Mädchen leicht an sich, alsdann drückte er einen Kuß auf den Schleier, der ihr Gesicht bedeckte, und als er durch denselben ihre Thränen fühlte, geleitete er sie ehrfurchtsvoll bis an die Thür.

Gleich darauf rollte unten ein Wagen fort, und der Graf, der an das Fenster getreten war, fuhr mit der Hand über das Gesicht und sagte zu sich selber: »dieses schöne Mädchen ist wahrhaftig eines der sonderbarsten Geschöpfe, die ich je kennen gelernt, und daß ich sie einstens kennen gelernt, ist für mich eine der seligsten Erinnerungen! – – – So gern ich aber auch ihre Bitte erfüllte, muß ich doch gestehen, daß fünfzig Louisd'or für einen Kuß auf einen Schleier, selbst wenn der Schleier ein so schönes Gesicht bedeckt, theuer genug bezahlt ist.«

Die Droschke, worin das Mädchen saß, rollte durch die obere und untere Stadt, verließ den Bezirk der ehemaligen Stadtmauer und die eigentlichen Grenzen der jetzigen Stadt, und der Kutscher lenkte nach einer Vorstadt, wo kleine Häuser mitten in Gärten lagen, und worin der Wohlfeilheit der Miethpreise halber sich Offiziers-Wittwen, pensionirte Beamte, junge Kaufleute und Künstler aller Art zusammengefunden hatten. Ehe sie die Vorstadt erreichte, ließ das Mädchen den Wagen halten, stieg aus und ging, in ihren Shawl gewickelt, tief verschleiert weiter.

Der Kutscher, der diese Fahrt schon öfters gemacht zu haben schien, wandte seinen Wagen um, stellte sich mit demselben hinter eine alte Gartenmauer, befestigte für sein Pferd einiges Heu auf der Spitze der Deichsel, und fiel alsdann auf seinem Bock in einen sanften Morgenschlummer.

Das Mädchen schritt durch einige enge Straßen, wandte sich rechts, dann links und kam jetzt an ein großes Gartenthor, das sie öffnete und durch das sie eintrat.

Dieser Garten schien von bedeutender Ausdehnung zu sein, war größtenteils zum Gemüsebau angelegt, auch sah man Frühbeete und Glashäuser, und einige hundert Schritte vom Eingang war eine Baumgruppe, zwischen welcher versteckt ein kleines Haus lag, heimlich und reizend im frischen jungen Grün, das eben aus den geschwellten Knospen hervorgebrochen war, umduftet von Tausenden von Veilchen, die an der Mauer und unter den Bäumen in großen Partieen wuchsen, und umspielt von einer großen Menge Singvögel, die an diesem schattigen, schönen Plätzchen ihre lustigen Morgenlieder erschallen ließen. Es lag etwas Geheimnißvolles und dabei Anmuthiges über dem kleinen Hause, das, nach der Höhe und Länge zu rechnen, nur zwei Zimmer haben konnte; von der Wand sah man fast gar nichts, denn sie war dicht mit Epheu bekleidet und die schlanken grünen Ranken umspannen bereits die Fenster und wiegten sich in diesem Augenblicke sehnsüchtig auf den vollen Tönen eines Fortepiano, die aus dem Zimmer erschallten.

Das junge Mädchen blieb einen Augenblick horchend stehen, und ihre ernsten, ja trotzigen Züge lösten sich in angenehme Weichheit auf, als sie rasch auf das Häuschen zueilte und in demselben verschwand. Sie durchschritt das erste Zimmer und blieb auf der Schwelle des zweiten stehen, laut und fröhlich lachend über die ausgezeichnete Unordnung, die sich hier ihren Blicken darbot.

An dem Clavier saß ein junger Mann, der bei ihrem Eintritte hastig emporsprang, und, obgleich man ihm die Freude wohl ansah, welche ihm dieser Besuch verursachte, doch einen Augenblick schüchtern an seinem Stuhle stehen blieb, dann aber auf das Mädchen zueilte, welches sich ihm leidenschaftlich in die Arme warf, worauf er ihren lachenden Mund mit Küssen bedeckte.

»Warum lachst du wieder über mich?« sagte der junge Mensch nach einer kleinen süßen Pause; »ich habe geglaubt, ich hätte das Uebermögliche gethan, um mein Zimmer in Ordnung zu bringen.«

»Das muß ich gestehen,« entgegnete lustig das Mädchen, »wenn du meinst, ein Uebermögliches gethan zu haben, so möchte ich einmal sehen, wie es hier aussähe, wenn deine Zimmer nach deinen eigenen Begriffen einmal in Unordnung gerathen wären.« – Bei diesen Worten ließ sie sich auf einen Stuhl nieder, der junge Mann blieb neben ihr stehen, legte seine Hand auf ihre Schulter und folgte aufmerksam und selbst mitlachend den Bewegungen ihres Sonnenschirms, mit welchem sie die erwähnte Unordnung klassificirte.

»Dort, mein Herr,« sagte sie, »um bei Ihrem Handwerkszeug anzufangen, steht auf dem Clavier eine Kaffeetasse, die Zuckerdose auf der Fensterbank und die Kanne hiezu auf dem Ofen.«

»Aber das ist keine Unordnung, mein Herz!« versetzte der junge Mann; »am Clavier habe ich aus der Tasse getrunken, auf der Fensterbank steht mein Vogelbauer, ich habe deinem Vogel Zucker gegeben, und die Kanne habe ich auf den Ofen gestellt, damit sie warm bleiben solle.«

»Richtig! auf den kalten Ofen, damit sie warm bleiben solle! Dort auf dem Violinkasten liegt eine weiße Halsbinde und malerisch über jene Pfeife gehängt ein paar hellgelbe Glaçe-Handschuhe. Pfui, mein Herr! Waren dieselben gestern Abend in einer Soiree?«

»Leider!« entgegnete der junge Mann; »leider muß ich sagen, denn ich fühle mich in diesen Cirkeln entsetzlich unbehaglich. Weßhalb werden wir armen Künstler auch eingeladen? Um unser selbst willen, um unserer Kunst willen? – Gott bewahre! sondern nur um das, was wir gerade zum Tödten der Zeit zu leisten vermögen oder leisten wollen .... Ich wollte diesen Leuten ja gern den ganzen Abend vorspielen, wenn ich nur nicht wüßte, daß meine Leistung von der Dame des Hauses schon vorher genau aufgerechnet ist – von Acht bis halb Neun Conversation, – natürlich nicht mit mir, man beschäftigt mich mit Aussuchen von Noten an dem Flügel, um der Gesellschaft gleich zu sagen, wer ich eigentlich bin, sie zu warnen vor mir, einem Musiker, einem Paria – also von halb Neun bis Neun singt der Herr X. eine Arie, dann spiele ich, und so weiter. Und wenn dergleichen musikalische Quälereien nur großartig betrieben würden, wie z. B. bei den Engländern, wo man eben so gut weiß und ausgemacht hat, was mein Spiel kosten wird, wie die Gänseleberpasteten und die Austern des Souper, und wo ich nachher meinen Hut nehme und mich stolz wie ein König entferne! – O, nein! das geht hier nicht, – man ist ein Mittelding zwischen eingeladenem Gast und Bedienten, wenigstens der, der es sich gefallen läßt. Und wenn man abgesungen und abgespielt hat, wenn man von Leuten, die von der Kunst nicht so viel verstehen, wie mein Handschuh, ein Dutzend Mal: Göttlich! – Charmant! – Bezaubernd! gehört hat, so soll es vorgekommen sein, daß der Bediente, während die Gesellschaft zum Souper ging, dem Künstler ein Glas Wein und ein paar Butterbrode mit vielsagendem Blick auf das Clavier gestellt – das soll vorgekommen sein, ich habe mich freilich kluger Weise immer gehütet, so was zu erleben.«

Der junge Mann hatte dies halb lustig, halb zornig von sich gegeben und rannte dabei unter dem Lachen des gänzlich verwandelten Mädchens im Zimmer auf und ab, um die Ordnung unter Mobilien und Geräthschaften wieder etwas herzustellen, vermehrte aber durch den Eifer, in welchen er gerathen war, die Unordnung bedeutend, indem er unter anderem das Kaffeegeschirr auf ein Blumenbrett vor's Fenster setzte und Halsbinde und Handschuhe in den Papierkorb warf.

»Nein, das ist arg! Charles, laß' das Aufräumen nur sein, ich will es gleich besorgen. Aber wie kann man sich über so eine Soiree so ereifern?«

»Nun,« sagte der junge Mann, »wer sich über dergleichen unwürdige Geschichten nicht ereifert, der ist kein Mann, oder wenigstens kein Künstler. Ich freilich habe es nie bis zu einer Demüthigung kommen lassen, und wenn mitten in einem Musikstücke so ein rothnasiger Bedienter meldet, daß das Souper servirt sei, so mache ich augenblicklich meinen Schluß, denn ich weiß, daß alsdann doch das Bischen Aufmerksamkeit für uns vorbei ist und sich den gedeckten Tischen zuwendet. Die Dame des Hauses sagt mir mit einem sauersüßen Gesichte: Sogleich werden wir soupiren! und ist unendlich froh, wenn ich meinen Hut nehme und ihr versichere, daß eine kleine Gesellschaft guter Freunde, der ich versprochen, noch zu kommen, mir nicht erlaube, diese Auszeichnung anzunehmen, und ich mich deßhalb bis nächstens zu Gnaden empfehlen müsse. – Aber verzeih', geliebte Anna,« fuhr der junge Mann fort, nachdem er gezeigt mit welch' tiefem Compliment er sich alsdann beurlaube, »verzeih' mir, du gehörst ja auch zu jenen vornehmen Leuten, zu der sogenannten Gesellschaft.«

Das Mädchen hatte lustig in die Hände geklatscht und entgegnete geschwinde: »ich als Dame des Hauses würde sagen: Monsieur Charles, geben Sie mir Ihren Arm, dort neben jener alten Fürstin und jener dicken Gräfin ist ein Platz für Sie, ich will jene beiden Damen ehren.«

»Das würdest du allerdings thun, theures Mädchen,« sprach der junge Musiker; »wenigstens hast du in diesen bescheidenen Zimmern den guten Willen, es zu thun; ob sich aber dein Herz nicht ändert, wenn du das stille Leben, das du in hiesiger Stadt führst, wieder verlassen mußt, um in deine Salons zurückzukehren? Aber, meine Anna, ich glaube das nicht, du bist ein herrliches Geschöpf, voll Gluth für alles Schöne, voll Poesie, du allein bist im Stande, meinen Widerwillen gegen diese höhere Gesellschaft zu überwinden, du – selbst dieser höheren Gesellschaft angehörend, die dabei den armen Künstler liebt, der nichts hat, als den redlichen Willen, etwas Großes zu schaffen und sich einen Namen zu machen.«

»O Charles, mein Freund,« sagte das Mädchen plötzlich sehr ernst werdend und nahm eine seiner Hände zwischen die ihrigen, »o sprich nicht so mit mir! du bist dir deines herrlichen Talentes bewußt und in deinem Geiste liegt eine große glänzende Zukunft; du wirst dich empor schwingen, du wirst dir einen Namen machen, du wirst gefeiert dastehen – aber ich ...«

»Aber du?« entgegnete der Musiker und küßte ihre schönen, weißen Hände innig und herzlich, »aber du? du gehörst einer reichen, mächtigen Familie; und der selige Traum,« setzte er leiser hinzu, »dich einstens zu besitzen, wird immer ein Traum bleiben, und das, Anna, meine geliebte Anna, das wirft schwarze entsetzliche Schatten in mein Leben.«

Das Mädchen zitterte leicht und schauerte zusammen, während ihre Augen feucht wurden.

»Wenn ich auch noch so hoch steige,« fuhr der junge Mann fort, »kann ich die Schranken niederwerfen, welche deinen Stand von dem meinigen trennen? Und doch ist es meine einzige, meine seligste Hoffnung, dich zu verdienen, dich zu erringen, dich, die du mit deinem großen liebevollen Herzen zu mir herabstiegst, die du mich aufgemuntert und unablässig angespornt hast, wenn mich die Kraft verlassen wollte und ich Verzweifelte, ob ich je das Ziel erreichen würde, das ich mir vorgesteckt!«

Das Mädchen erhob sich von ihrem Stuhle, legte ihren Shawl und Hut ab und begann, ohne eine Sylbe zu antworten, in dem Zimmer aufzuräumen. Der junge Mann blickte entzückt auf ihre Beschäftigung, und als sie fertig war und sich in der Ecke des Zimmers still auf einen Schemel niederließ, da wußte er, was sie jetzt wünschte, und setzte sich an das Instrument und ließ herrliche, jauchzende, glückselige Töne erklingen.

Der junge Musiker war ein schöner Mann, vielleicht vier- bis sechsundzwanzig Jahre alt, hatte ein edel geformtes Gesicht, dunkle Haare, eben solche Augen und Bart, feingeformte Hände und eine natürliche Grazie in allen seinen Bewegungen. Während er auf dem Instrumente phantasirte, blickte er weit, weit hinaus in die Ferne oder schwärmerisch gen Himmel, und nur zuweilen, wenn er den wilden Strom seiner Töne zügelte und in ein reizendes Thema überleitete, blickte er seitwärts auf das Mädchen, die da saß, ihre beiden Hände vor das Gesicht gedrückt. Er bemerkte aber dabei nicht, daß zahlreiche Thränen durch ihre Finger quollen und daß ihr Busen krampfhaft auf und nieder flog.

»Der zweite Akt meiner Oper ist fertig,« sagte der Musiker, »und das Duett in demselben ist mir, glaube ich, sehr gelungen. Natürlich ist das nur dein Verdienst, Anna, denn ich sprach zu dir, während ich spielte, dein Bild umgab mich in süßen Tönen – ja, wahrhaftig, wenn ich ein Maler wäre, oder wenn man in den Tönen Farben erkennen könnte, so würde man überall dein hellblondes, dichtes, liebes Haar durchflattern sehen. Für mich haben allerdings die Töne Farben, und die Menschen sind mir Tonarten. Des-dur mit seiner tiefen Liebe, seinem Wohlklang, seiner sanften Innigkeit bist du, meine Anna, ich möchte meine ganze Oper in Des-dur schreiben, wenn das anginge – aber was ist dir, mein Mädchen? du weinst ja!« fuhr der junge Mann fort und sprang auf, »was fehlt dir, Anna? Um Gottes willen, was hast du?« Er kniete neben ihr auf den Boden hin, und sie drückte die blonden Locken fest an sein Gesicht und er fühlte, wie das ihrige fieberhaft brannte.

Mehrere Minuten lang hielt er sie fest umschlungen, und ihr Schmerz schien sich allmälig zu legen; sie erhob den Kopf wieder, machte sich sanft aus seinen Armen los und legte ihre beiden Hände auf seine Schultern.

»Charles,« sagte sie, »mein Freund, mein Geliebter, wir müssen scheiden! Vielleicht auf immer!«

Der junge Musiker sprang in die Höhe und sprach feierlich: »Scheiden? – So sei es drum, wenn es sein muß! Du hast mich auf diesen Augenblick lange Vorbereitet – aber auf lange, auf immer? – Nein, Anna, gewiß nicht! Du weißt, ich habe dir nie nachgeforscht, weil du es nicht gewollt; ich weiß nicht einmal den Namen deiner Familie, und warum sollte ich auch? Eine Liebe, wie die unsrige, ist ein Band für das ganze Leben, ein Band, das nicht zerrissen werden kann.«

»Ist das wahr, Charles?« entgegnete das Mädchen; »ist das gewiß und wahrhaftig wahr, glaubst du wirklich daran?«

»Du zweifelst, Anna?« versetzte der Musiker; »hast du mir nicht dasselbe zu meinem größten Entzücken selbst gesagt, und jetzt willst du zweifeln?«

»Aber es gibt Verhältnisse,« sagte das Mädchen mit lautloser Stimme, »die mächtiger sind, als unser Wille; ja, mächtiger, als unsere Liebe.«

»Nicht als die meinige!« entgegnete der junge Mann mit fester Stimme; »mag kommen, was da will, Anna, ich will es wenigstens versuchen, dich zu verdienen, und dieser Versuch muß gelingen!«

Abermals schauderte das Mädchen zusammen und barg ihr Gesicht in die Hände, und der junge Mann fuhr fort:

»Ich glaube so fest an dich, daß, wenn du mir sagst: wir sehen uns wieder! oder wenn du mir versprichst, mir bald eine Nachricht von dir zu geben, ich auch jetzt nicht forschen will, wohin du gehst und was dich von hier forttreibt; aber gib' mir nur die kleinste Hoffnung, daß ich dich wieder sehen werde, daß du einstens die Meinige wirst, so will ich ruhig fortarbeiten, will aufwärts ringen, bis ich hoch genug stehe, um sagen zu können: Anna, die Welt sieht mich, siehst du mich auch?«

Das Mädchen schien vor Schmerz zu vergehen, sie schüttelte leicht mit dem Kopf und sagte: »ich glaube nicht, daß ich je die Deinige werden kann, ich fürchte Charles, daß wir auf immer getrennt werden; aber wir wollen hoffen! Ich verspreche dir bald, ja recht bald, Nachricht von mir zu geben; Gott ist barmherzig, warum sollte er sich nicht auch meiner erbarmen?«

Sie faltete krampfhaft die Hände und sank zu den Füßen des jungen Mannes auf ihre Kniee nieder; sie schien einen Augenblick leise zu beten, dann erhob sie sich rasch, strich die Locken aus dem erhitzten Gesichte, nahm schweigend ihren Hut und reichte ihre Hand dem Freunde zum Abschiede hin.

»Ist es denn wahr, o Gott! ist es wahr?« rief dieser leidenschaftlich erregt, schloß das schlanke Mädchen ungestüm in seine Arme und drückte brennende Küsse auf ihren Mund, während sich seine Thränen mit den ihrigen vermischten. Einen Augenblick gab sie seiner Umarmung nach, drückte sich fest an seine Brust und erwiderte Kuß um Kuß, gleich wild, gleich leidenschaftlich; dann wand sie sich aus seinen Armen, nahm seine Hand und drückte sie gegen ihr Herz und an ihre Lippen und eilte der Thür zu, während sie ihm durch eine gebietende Bewegung befahl, zurück zu bleiben.

Sie glitt durch die Thüre in den Garten hinaus, eilte festen Schrittes auf die Straße, und erst, als das Gartenthor hinter ihr zufiel, schien das Mädchen zusammenbrechen zu wollen und mußte sich an der Mauer festhalten. Sie stieß einen leisen, aber entsetzlichen Weheruf aus und blickte verzweifelt gen Himmel; ihr Auge war glänzend und glühend, wie das dunkle Blau da droben; der Himmel lächelte ruhig und freundlich auf sie herab und schien es nicht zu wissen, nicht zu verstehen, daß hier unten ein Geschöpf im tiefen Seelenschmerze fast verging.

Der junge Musiker lag nahe am Fenster auf seinen Knieen, und als er sich erhob, fielen die Strahlen der Sonne schräg in das Zimmer. Er war betrübt und legte häufig die Hand auf die Stirn, wobei er den Kopf schüttelte und zuweilen glaubte, das alles sei nichts als ein böser finsterer Traum gewesen, und doch fühlte er die Wahrheit des Erlebten in seinem zerrissenen Herzen. – Wie hatte er das Mädchen geliebt, wie liebte er sie mehr denn je! – Als er durch das Zimmer schritt, sah er neben einem ihrer Handschuhe, die sie zurückgelassen, ein kleines Packetchen liegen; es war eine Geldrolle, in einen Brief gewickelt, den er hastig erbrach und las:

»Mein geliebter Freund!

Lebe wohl! rufe ich dir nochmals zu – hoffen wir auf Gott, daß er uns wieder zusammenführt, und wenn er so gnädig ist, um uns dieses Glück zu Theil werden zu lassen, so ist es vielleicht möglich, daß wir uns nicht mehr trennen! Ich sage: vielleicht; meine Liebe für dich ist unwandelbar. O, mein Freund, wie habe ich dich geliebt, wie liebe ich dich noch! wie schaute ich zu dir empor, wie faßte ich jedesmal zitternd deine liebe Hand und betete Nächte lang, diese Hand möge mich einstens emporziehen an dein gutes und edles Herz! O mein Karl, vergiß nie dieses mein Gebet! und wenn wir uns wiedersehen, wenn mir das Glück zu Theil wird, so ziehe mich empor an dein Herz, laß' mich dorthin flüchten vor all' dem Entsetzlichen, was ich in dieser Welt schon erlebt!

Wenn du mich wahrhaft liebst, so mache Gebrauch von dem Beigeschlossenen, ich will daran deine Liebe erkennen und bin ja reich, so unendlich reich! Es ist ja nicht für dich, dieses kleine Anlehen, es ist für die heilige Kunst; ich lege es bei dir an, du wirst mir einstens, wenn du willst, schwere Zinsen dafür entrichten müssen. Sei fröhlich, Karl, hoffe auf ein Wiedersehen, wie ich darauf hoffe.

Deine Anna.«

Als es nun ganz Nacht geworden war, da schlichen sich durch die Straßen der Stadt zwei ärmlich gekleidete Gestalten, eine ältere Frau und ein junges Mädchen. Beide waren in grobe Halstücher gehüllt, beide trugen kleine Bündel in der Hand und gingen dem Thore zu, ohne zusammen zu sprechen und ohne die ihnen Begegnenden zu beachten. Auch sie wurden nicht beachtet, nur ein einziges Mal blieb auf ihrem Wege ein Mann stehen, und sah ihnen einige Sekunden nach. Dieser Mann war der Herr Stadtsoldat Steinmann, dem die beiden Weiber verdächtig schienen; doch ließ er sie ihres Weges ziehen und ging den seinigen in entgegengesetzter Richtung; denn er hatte für heute Nacht andere und höchst wichtige Geschäfte.


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