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Im äußersten Osten

D Das rasche Wachstum unserer Städte ist eine Erscheinung der letzten zwei oder drei Jahrzehnte, der ältere Kulturperioden nichts ähnliches an die Seite zu stellen haben, und die unseren Vorfahren schon deshalb völlig unverständlich sein müßte, weil ihnen die Voraussetzungen, die ihr zu Grunde liegen, durchaus fremd waren. Jahrhunderte hindurch hatte sich die Physiognomie einer Stadt wie Leipzig so gut wie gar nicht verändert. Mauer, Wall und Graben, die sich wie ein eiserner Gürtel um die Stadt legten, verboten naturgemäß jede Erweiterung des Weichbildes. Aber auch als die Befestigungswerke gefallen waren und freundlichen Promenaden Platz gemacht hatten, dehnte sich Klein-Paris nur sehr langsam aus. Heute sehen wir in wenigen Jahren nicht nur ganze, dichtbebaute Straßen, sondern richtige Stadtteile neu entstehen, Stadtteile, die auf den ersten Blick verraten, daß sie lediglich dazu bestimmt sind, der immer mehr der Stadtperipherie zudrängenden Bevölkerung Wohnungsgelegenheit zu bieten. Die geschäftliche Ausnutzung des räumlich beschränkten Stadtzentrums hat eine Steigerung der Mietspreise zur Folge gehabt, die das Wohnen in der Innenstadt für viele zur Unmöglichkeit macht, der wirtschaftlich verhängnisvolle Zuzug vom Lande, die fortwährend steigenden Ansprüche an geräumige Quartiere und die Leichtigkeit, sogar aus größeren Entfernungen das Zentrum zu erreichen, haben eine Bauspekulation gezeitigt, die sich keineswegs darauf beschränkt, der augenblicklichen Wohnungsnachfrage zu genügen, sondern eine Tätigkeit entwickelt, die dem Wachsen der Bevölkerungszahl vorauseilt.

Was wir mehr oder minder bei allen europäischen Großstädten finden – nur Madrid macht meines Wissens eine Ausnahme – die scharfe Trennung eines auf der Ostseite liegenden, vorzugsweise von der Arbeiterbevölkerung bewohnten billigen Viertels von den vornehmern Westteile, trifft auch bei Leipzig zu. Man hat diesen merkwürdigen Zug nach Ost und West mit dem Hinweis darauf zu erklären versucht, daß der im Erwerbsleben Stehende sich gerne von der aufgehenden Sonne wecken lasse, während der ruhig Genießende den Ausblick auf den Abendhimmel vorziehe. Bei Leipzig mag übrigens auch der Umstand mitgewirkt haben, daß hier den größten Teil des Jahres über der Wind aus Westen weht. Die Westseite der Stadt hat deshalb weniger unter Rauch und Dünsten zu leiden; die Wohnungen dort waren mithin von jeher gesuchter und darum teurer. Erfreulicherweise macht sich bei dem zukunftsreichsten Teile unserer Stadt, dem schönen Südviertel, das Wohnungen in jeder Preislage bietet, der soziale Gegensatz nicht mehr geltend.

Aber uns sollen hier die neuen Quartiere im Osten beschäftigen. Sie sind freilich alles andere als schön, ihre nüchterne Regelmäßigkeit läßt sie vielmehr im höchsten Grade langweilig erscheinen, und dennoch bieten sie dem aufmerksamen Beobachter, wie alles im Werden begriffene, manches Interessante. Man merkt es diesen Häusern an, daß ihre Erbauer keine andere Absicht hatten, als möglichst rasch und möglichst billig Mietskasernen ohne jedes individuelle Gepräge zu errichten: Durchschnittswohnungen für Durchschnittsmenschen, wie unsere Zeit sie eben verlangt. Da wird nicht der leiseste Versuch gemacht, die unabsehbare Reihe der schablonenhaft gleichmäßigen Fronten durch eine architektonisch reizvollere Fassade zu unterbrechen oder zu beleben; man kennt eben die Anspruchslosigkeit des Publikums in Sachen des Geschmacks und hütet sich wohl, das Verlangen nach einer auch äußerlich anheimelnden Wohnung in ihn, wachzurufen. Man ahnt, daß die Liebe, mit der auch der minder begüterte Bürger früherer Zeiten sein Heim errichtete und ausstattete, an diesen Bauten unschuldig ist. Wie leicht hätten sich hier durch maßvolle Verwendung farbiger Backsteine hübsche Wirkungen erzielen lassen, ohne dass dem Unternehmer daraus wesentliche Mehrkosten erwachsen, wären! Eine Backsteinfassade hat vielmehr den großen Vorzug, niemals eine Erneuerung zu beanspruchen, während der elende Bewurf samt den plumpen Verzierungen aus schlechtem Stuck den Keim des Verfalles vom ersten Tage an in sich tragen und, wenn das Haus nicht in kurzer Zeit einer Ruine gleichen soll, in regelmäßigen Zwischenräumen Reparaturen erfordern.

Der ungemütliche Eindruck dieser neuen Stadtbezirke wird durch den Mangel an Verkehr noch wesentlich erhöht. Nur in den frühen Morgen-, den Mittag- und Abendstunden, wenn die hier wohnenden zu ihren Arbeitsstätten gehen oder nach Hause zurückkehren, entwickelt sich einiges Leben. Selten verirrt sich ein Fremder hierher; eine Droschke erregt bei den spielenden Kindern geradezu Aufsehen und wird wie ein Gegenstand aus einer fremden Welt angestaunt. In den wenigen, dürftig ausgestatteten Läden bemerkt man selten Käufer. Wen könnten auch die verstaubten Waren reizen, die hinter den schmalen Schaufenstern langsam verbleichen und selten durch frische ersetzt werden! Man bringt seinen bescheidenen Bedarf aus der Stadt mit, wo alles bester und billiger, jedenfalls in größerer Auswahl zu haben ist.

Die Bewohner dieser Mietshäuser scheinen sich bald an die Nüchternheit und Öde ihres Wohnsitzes zu gewöhnen. Eine fatalistische Gleichgiltigkeit gegen die Außenwelt macht sich bei ihnen bemerkbar. Als ich jüngst an einem Sonntagvormittag eine dieser stillen Straßen durchwanderte, konnte ich beobachten, mit welch' köstlicher Unbefangenheit man bei offenstehenden Fenstern in den Parterrewohnungen Toilette machte, unbekümmert um etwaige vorübergehende, von denen man anzunehmen schien, daß ihnen nichts Menschliches fremd sei.

Wohltuend berühren den Fremden die vielen Blumenstöcke, mit denen fast jedes Fenster geschmückt ist. Leider sind nicht alle wohlgepflegt, wie auch die meisten der Topfgewächse solchen Pflanzengattungen angehören, die keinen Anspruch auf sorgfältige Behandlung erheben. Kakteen sind reichlich darunter vertreten, wie überhaupt das Bizarre dem eigentlich Schönen vorgezogen zu werden scheint; die Wachsblume ( Hoia) findet sich gleichfalls häufig, und selbst die Stapelia erfreut sich trotz des entsetzlichen Gestankes ihrer Blüten noch allgemeiner Beliebtheit. Am häufigsten steht man die Meerzwiebel, die alte Lieblingspflanze des Landmannes, die hier gleichsam die Vermittlerrolle zwischen der langsam vorwärtsrückenden Stadt und der vor ihr zurückweichenden Ländlichkeit übernommen hat. Was von blühenden Gewächsen gerade an den Fenstern zu gewahren ist, wird durch grellfarbige Topfhüllen aus Seidenpapier als Geburtstagsgabe gekennzeichnet und erscheint in der Zimmerflora dieser Gegend als vergänglicher und bald vergessener Eindringling. Vereinzelt bemerkt man abgeblühte Azalienstöckchen, an deren Zweigen knallrote Papierblumen befestigt sind – ein trauriges Surrogat für den fehlenden Blütenschmuck, den ein wenig Verständnis und Liebe durch die Pflege geeigneter Topfpflanzen leicht ersetzen könnte. Natürlich finden wir hier und da auch ein Exemplar der berüchtigten engen Goldfischgläser, in denen ein oder zwei der unglücklichen Schuppentiere ihre Lebensjahre zwischen Gesottenwerden und Erfrieren hinbringen, mit blöden Augen den Boden absuchen oder von einer Wahnvorstellung gepackt, blitzschnell im engen Kreise umherjagen.

Zu dieser Versündigung an der Natur gesellt sich leider nicht minder häufig eine ästhetische Barbarei: die mißverstandene Anwendung des unseligen Imperativs »Schmücke Dein Heim!« Was man hier unter »Schmuck« versteht und, wohl um dem lieben Nächsten zu imponieren, auf dem Fensterbrette aufstellt, sind schlechte Statuetten aus bronciertem Gips, einen Schäfer und eine Schäferin darstellend, oder jene entsetzlichen Möpse aus rohbemaltem Ton, wie sie die hausierenden Söhne des kunstfrohen Italiens in richtiger Erkenntnis deutscher Geschmacklosigkeit bei uns körbeweise an den Mann zu bringen wissen.

Unser Spießrutenlauf durch solche kleine Denkmäler menschlicher Verirrung nimmt ein Ende. Wir betreten die Brücke, die den breiten Bahnkörper überspannt, und schauen auf die zahllosen mannigfach verschlungenen Schienenstränge hinab. Güterzüge, bis unter die Wölbung der Brücke mit Holz beladen, rollen vorüber; prustend sendet eine Rangiermaschine ihren Dampf empor, der uns auf Augenblicke in eine weiße Wolke hüllt.

Unten, inmitten des Schienengewirres, steht ein Weichenstellerhäuschen, von einem kleinen Garten umgeben – eine Oase in der Wüste. Wilder Wein schlingt sich um das Dach der kleinen schwarzen Baracke, in der wir bald einen ausgedienten Eisenbahnwagen erkennen, wie muß dem alten Kasten zu Mute sein, wenn er seine jüngeren Brüder in langen Reihen an sich vorbeiziehen sieht, während er, der Räder beraubt und an die Erde gefesselt, zur ewigen Ruhe verurteilt ist? Ob ihn der Duft der roten Rosen, die ihn umblühen, für die ungestillte Wanderlust zu entschädigen vermag, ob ihm der knorrige Hollunderstrauch, der gerade im Schmucke seiner weißen Dolden prangt, die grünen Wälder ersetzen kann, die er einst durcheilte und deren Hauch zuweilen der Wind bis zu ihm in sein Exil hinunterträgt?

Auf der anderen Seite des Eisenbahnkörpers ändert sich der Charakter der Gegend wesentlich. Eine schnurgerade von uralten Bäumen beschattete Allee führt von der Brücke aus durch grüne Wiesen und Kornfelder nach dem nahen Dorfe, dessen Häuser sich hinter Baumgruppen verstecken. Nur der spitze Turm des hochgelegenen Kirchleins zeichnet sich weithin sichtbar am Himmel ab, während der zum herrschaftlichen Gut gehörende Park sich nach Westen hin kulissenartig vorschiebt und dem anmutigen Landschaftsbilde den schönsten Abschluß verleiht. Aber die vorwärtsstrebende Großstadt verfolgt uns auch hier noch. Eine lange Reihe ganz gleicher Häuser zieht sich parallel der Allee dahin, von unserem Standpunkte auf der Brücke sehen wir nur die Rückseiten mit ihren rohen Ziegelmauern, den stereotypen Vor- und Anbauten und den jedes Blumenschmuckes entbehrenden Fenstern.

Wo diese erste städtische Straße auf neuerobertem Boden mit der nach Osten führenden, gleichfalls von der Brücke ausgehenden Landstraße zusammentrifft, hat sich auch diese schon verwandelt: die Felder auf der linken Seite sind bereits mit Mietskasernen bebaut, deren Reihe freilich hier und da noch eine Lücke aufweist, wo diese freigebliebenen Bauplätze mit einer Plankenwand abgesperrt sind, tritt die Vegetation wieder in ihr Recht. Vereinzelte Getreideähren nicken zu uns herüber, und roter Mohn leuchtet durch die Fugen der Bretter. Hier führen Stadt und Land einen stillen aber desto fürchterlicheren Kampf. Der Sperling, der echte Großstädter, der sich früher nur zur Zeit der reifen Garben in diese Gegend verlor, macht sich schon allenthalben unliebsam bemerkbar, aber noch trippelt vor unseren Füßen die zutrauliche Haubenlerche dahin, um sich plötzlich mit lautem Jubelrufe in die Luft zu heben und schwerfälligen Fluges das Kornfeld aufzusuchen.

Auf der rechten Seite der Straße ist ein schmaler Feldstreif zu einer kleinen Gartenkolonie umgewandelt worden, die dazu bestimmt scheint, die Bewohner der gegenüberliegenden Häuser für die mangelnde Gelegenheit zu großstädtischen Genüssen zu entschädigen. Der Eifer und die sichtliche Freude, mit denen sich die Leute der ihnen sicherlich noch neuen Beschäftigung hingeben, sind wahrhaft rührend. Jeder hat sein kleines Grundstück – die meisten sind von rautenförmiger Gestalt – durch einen niedrigen Lattenzaun oder zum mindesten durch ein Drahtgehege gegen die Straße und die Nachbargärtchen abgegrenzt, um die Früchte seines Schweißes nicht mit ungebetenen Gemüseliebhabern teilen zu müssen. In keinem der Gärtchen fehlt ein Sommerhaus, ein Flaggenmast und ein Starenkasten an langer Stange. Es ist ergötzlich, zu beobachten, wie jeder sich bemüht hat, in der Gartenhausarchitektur etwas besonderes zu leisten und die Phantasie der Nachbarn zu übertrumpfen. Ein kuppelgeschmücktes Bauwerk aus Kistendeckeln, das mit seinem neuen, lebhaft bunten Anstrich alle anderen ausstach, erinnerte mich an die farbige Pracht orientalischer Kioske.

In einem anderen Gärtchen hatte man ein stattliches Zelt aus Stangen und Packleinwand errichtet, das allerdings so durchsichtig war, daß man die darin frühstückende Familie von der Straße aus unbehindert beobachten konnte. Was alle Gärtchen gleichmäßig charakterisiert, ist das Bestreben der Besitzer, auf dem beschränkten Raume möglichst vielerlei unterzubringen. Laube, Blumenbeete, Gemüserabatten, Obstbäume, ein Geflügelgehege, manchmal auch noch eine Schaukel, alles das findet sich auf einer Fläche von wenigen Quadratmetern zusammen. Es ist fast wie in China, wo ja auch der Ärmste ein Gärtchen und darin einen Berg, einen Teich und eine darüberführende Brücke, alles natürlich in Sedezformat, haben muß.

Hübsch wissen sich die Ansiedler zu helfen, wo Raum oder Geldmittel nicht recht ausreichen. Um Bohnenstangen zu ersparen, hat man zwei Pfähle oben durch eine Schnur verbunden und von dieser aus viele dünnere Fäden abwärts geleitet, an denen die Bohnen wie an den Saiten einer Harfe emporranken. Allerlei Gefäße, ursprünglich zu profanem Gebrauche bestimmt und wegen irgend eines Gebrechens aus dem Haushalte verbannt, sind zu Blumenvasen und Ampeln umgewandelt worden, große Konservenbüchsen, mit Erde gefüllt und mit Sommerblumen bepflanzt, flankieren auf hölzernem Sockel den Eingang zu einer Laube. An jenem Sonntagmorgen bildete gerade das Wachstum der Kohlrabi den Gegenstand des allgemeinen Interesses. Einzeln oder in kleinen Gruppen gingen die »Pflanzer« von Garten zu Garten, um den Stand dieses zarten Gemüses zu kontrollieren und Umfang und Aussehen der Knollen mit denen der Erstlinge des eigenen Feldes zu vergleichen. Überhaupt merkte man den Leuten ihre Freude an der Beschäftigung mit der Natur an; alle waren eifrig tätig und schienen den ziemlich weiten weg, auf dem sie das Wasser zum Begießen aus ihren Häusern holen mußten, durchaus nicht zu scheuen. Nur ein Gärtchen nahm ich wahr, das mir durch seine Dürftigkeit sofort auffiel. Als ich näher kam, erkannte ich die Ursache der mangelnden Pflege: Der Besitzer saß mit drei anderen Männern bei Kartenspiel und Bierflaschen in der Laube.

Unmittelbar hinter dem letzten dieser Gärtchen treten Roggenfelder bis dicht an die Straße. Das Ländliche hat über das Städtische gesiegt. Ob dieser Erfolg von Dauer sein wird? Wohl kaum. Rastlos rückt die Großstadt vorwärts. Hier vielleicht noch schneller als an anderen Stellen, denn der Vorort, auf den die Chaussee wenige hundert Meter weiter stößt, dehnt sich der Stadt verlangend entgegen. Schon zeigen die ihr zugewandten neuen Häuser dasselbe nüchterne Gepräge wie die, an denen wir vorher vorüberschritten. Drinnen im Orte selbst verrät freilich noch manches den dörflichen Ursprung. Häuser inmitten kleiner Gärten, krumme Straßen und unbenutzt gebliebene Winkel deuten auf eine Zeit, die sich noch nicht an einen von der Behörde ausgearbeiteten Bebauungsplan zu binden hatte. Aber die Segnungen der Kultur sind schon bis hierher vorgedrungen: die stattliche Bezirksschule überragt die Nachbarhäuser um ein Erhebliches, eine Annoncenuhr gibt Zeugnis von dem kommerziellen Unternehmungsgeiste unserer Zeit, und an der Giebelwand eines Eckhauses verkünden Riesenlettern, daß die und die Zeitung das gelesenste Insertionsorgan der Stadt sei. Der Handel, hier noch nicht durch die Konkurrenz der Altstadt behindert, wird hauptsächlich durch den »Kaufmann«, bei dem, ganz wie in den ersten Ansiedelungen in den Urwäldern Amerikas, alles zu haben ist, vertreten. Daneben hat sich schon ein Cigarrengeschäft aufgetan, und einige Häuser weiter prangen im schmucken Glaskasten eines Buchbinderlädchens bunte Ansichtspostkarten. Trotz der großstädtisch prächtigen Schule halten die Kinder noch an dem schönen ländlichen Brauche, den Fremden zu grüßen, fest. Auch in ihrer Geschmacksrichtung sind sie noch nicht von der Blasiertheit der großen Welt beeinflußt worden. Ich sah dort, wo die Straße den Ort verläßt und, von Obstbäumen eingefaßt, wieder durch Felder führt, sieben- oder achtjährige Bürschchen in abgefallene unreife Äpfel beißen, bei deren Anblick sich mir der Magen im Leibe umdrehte.

Der nächste Ort, den die Landstraße berührt, oder richtiger gesagt, in den sie wie in eine Sackgasse festläuft, hat ein völlig anderes Ansehen. Ursprünglich, d. h. in der Feudalzeit, bestand er nur aus dem herrschaftlichen Gute mit seinen ausgedehnten Wirtschaftsgebäuden, an die sich die Heimstätten der Lehnspflichtigen anschlossen. Dem entsprechend führt die Straße unmittelbar auf das Portal des heutigen Schlosses, wo für den Wanderer plötzlich die Welt mit Brettern vernagelt ist. Reich und vornehm liegt der Bau auf einer sanft ansteigenden Höhe, von prächtigen Gartenanlagen und einem uralten Parke umgeben und halbversteckt hinter mächtigen Baumgruppen. Ringsumher herrscht tiefe Stille, nur eine Amsel schlägt droben auf dem Dachfirst, und vom Parke her schallt in kurzen Zwischenräumen der Ruf des Kuckucks. Die Aufschrift am Portale »Unbefugten ist der Eintritt verboten« benimmt uns den Mut, einen Blick in diese grüne Einsamkeit zu tun, wir müssen ein gutes Stück Weges zurückgehen, ehe wir einen Seitenpfad finden, der uns am Parke entlang nach der anderen Seite der Vorstadt zurückführt. Über die sanftgewellten mit vereinzelten alten Eichen bestandenen Wiesen schweift das Auge immer wieder zu dem idyllischen Herrensitz zurück. Noch stört kein »Unbefugter« die ländliche Ruhe des schönen Anwesens, noch darf der glückliche Besitzer von der alten Zeit träumen, da seine Vorgänger in dieser Gegend wie kleine Fürsten schalteten und sich alles vom Leibe halten konnten, was ihre Behaglichkeit zu stören geneigt war. Aber drüben von Westen rückt es heran wie eine Lawine, die nichts auf ihrem Wege verschont und auch vor der parkumschatteten Idylle nicht Halt machen wird. Unheimlich starr und nüchtern drohen die langen Häuserreihen, die Medusenarme der sich dehnenden, alles verschlingenden Großstadt, die Avantgarden einer neuen Zeit!

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