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Der Augustusplatz

E Erregte schon die Größe des Leipziger Marktplatzes in früheren Zeiten die Bewunderung der Fremden und das Entzücken der Heerführer, die hier mit Vorliebe ganze Armeen zur Parade aufmarschieren ließen, so darf sich unsere Stadt seit Ausgang der dreißiger Jahre des letzten Säkulums wiederum eines Platzes rühmen, wie nur wenige der europäischen Hauptstädte hinsichtlich der räumlichen Ausdehnung einen solchen aufzuweisen haben. Es ist der jüngste unter den Leipziger Plätzen, der Augustusplatz. Wenn wir seiner Größenberechnung den Stadtplan unseres Adreßbuches zu Grunde legen, so ergibt sich als Maß seiner größten Längenausdehnung (vom Museum bis zum Neuen Theater) die stattliche Spanne von 220 Metern, während seine Breite vom Ausgange der Grimmaischen Straße bis zur Hauptpost etwa 180 Meter beträgt, weder Berlin noch Wien, weder London noch Paris besitzen einen allseitig von Gebäuden eingeschlossenen, freien Platz von ähnlichen Dimensionen. Unter den Plätzen deutscher Städte ist es wohl nur der Friedrichsplatz in Kassel, der unsern Augustusplatz an Größe etwas übertrifft. Wesentlich größer sind hingegen zwei Plätze italienischer Städte, die dreieckige Piazza Vittorio Emanuele (Prato della Valle) in Padua, deren Seiten 500, 400 und 300 Meter messen, und der Petersplatz in Rom mit einer Länge von 500 und einer Breite (zwischen den Kolonnaden des Bernini) von 250 Metern. Zum Vergleiche sei noch erwähnt, daß der Marcusplatz in Venedig 180 Meter lang und an der breitesten Stelle 100 Meter breit, der Domplatz in Mailand 200 Meter lang und 120 Meter breit ist. Der Kölner Neumarkt hat dieselbe Länge wie der Augustusplatz, ist aber bei weitem schmäler.

Aber nicht die Größe allein macht die Bedeutung eines städtischen Platzes aus, weit wichtiger ist die ihn umgebende Architektur und das sich auf ihm bewegende Leben. In diesen beiden Punkten kann nur der Petersplatz in Rom mit dem Leipziger Platze konkurrieren. Zwar fehlt weder dem großen Platze in Padua noch dem in Kassel die schöne architektonische Umgebung, aber beide wirken öde und verschlafen, weil ihnen das frisch pulsierende Leben mangelt, daß unserm Augustusplatz zum besonderen Schmucke gereicht. Ein großer Platz inmitten des städtischen Weichbildes, der nicht die natürliche Verbindung verkehrsreicher Stadtteile bildet, nicht von belebten Straßen getroffen oder durchschnitten wird, muß, so erfreulich er sich dem Auge des Beschauers auch präsentieren mag, eher als ein Verkehrshindernis gelten. An diesem Fehler kranken so viele Plätze kleiner und mittelgroßer Residenzen. Die Laune der Fürsten, die sie einst anlegte, konnte wohl über den Raum gebieten, vermochte aber nicht auch für die reiche, ewig bewegte Staffage zu sorgen, ohne die der schönste Platz eine öde Fläche bleibt, die niemand gerne durchmißt. Der Augustusplatz ist nicht auf das Machtwort eines fürstlichen Städteerbauers entstanden, er verdankt weder einer Laune noch einem Zufalle seine Entstehung, sondern er ist ein organisch gewachsener Teil des Stadtkörpers und zugleich der künstlerische Ausdruck der schnellen, aber gesunden Entwicklung, die Leipzig im letzten Jahrhundert durchgemacht hat. Ein fremder Besucher unserer Stadt, der ohne jede Kenntnis ihrer Kulturbedeutung plötzlich in die Mitte des Augustusplatzes versetzt würde, könnte sich in wenigen Augenblicken ein durchaus richtiges Bild von Leipzigs Charakter machen, wenn er erführe, daß die vier Prachtbauten, die den Platz begrenzen, die Universität, das Theater, das Hauptpostamt und das Museum sind. Kann der alte Ruhm Leipzigs als Stadt der Gelehrsamkeit und des Handels besser gekennzeichnet werden, als durch die imposanten Fassaden des Augusteums und der Reichspost? Können der Kunstsinn und die Opferfreudigkeit seiner Bewohner sich schönere Denkmäler wünschen als die vornehmen Fronten des Neuen Theaters und des Museums?

Wenn auch die Anfänge des heutigen Augustusplatzes, der bekanntlich erst im Jahre 1837 seinen Namen erhielt, nicht viel weiter als bis zur Mitte der dreißiger Jahre zurückdatieren, so müssen doch mehrere, an sich geringfügige Ereignisse aus früheren Zeiten hervorgehoben werden, weil sie die spätere Anlage eines so ausgedehnten Platzes an dieser Stelle der damaligen Stadtperipherie vorbereiteten oder, richtiger, weil sie die lokalen Grundbedingungen dazu schufen. Schon 1643 beseitigten die Schweden, die zu jener Zeit Leipzig besetzt hielten, das Stück der Stadtmauer von der Moritzbastei bis zum Georgenpförtchen und legten dafür zu beiden Seiten des Grimmaischen Tores weit vorspringende Schanzen an, die sich bis zum Jahre 1784 erhielten und auf allen Prospekten der Stadt aus jenem Zeitraume deutlich zu erkennen sind. Als diese Befestigungswerke in dem genannten Jahre niedergelegt wurden, fanden die hier aufgehäuften Erdmassen als Material zur Ausfüllung des alten Stadtgrabens Verwendung. Sie reichten hierzu nicht nur völlig zu, sondern es blieb auch noch ein stattlicher Rest übrig, aus dem die einstmalige pièce de resistance der Leipziger Anlagen, der berühmte Schneckenberg, entstand. Der durch Beseitigung der beiden Schanzen gewonnene völlig ebene freie Platz wurde mit in den Promenadengürtel gezogen und erhielt als bescheidenen Schmuck zwei kreisrunde Rasenplätze. Von den vier großen Gebäuden, die heute den Augustusplatz einschließen, war damals noch keines vorhanden. Erst in den Jahren 1834 bis 1836 wurde nach Schinkel's Entwürfen das Augusteum erbaut, dessen für unsern Geschmack etwas nüchterne, zu jener Zeit aber allgemein bewunderte Fassade erst vor wenigen Jahren durch Roßbach's Kunst ein architektonisch bedeutendes Aussehen erhalten hat. Der Grund, auf dem sich das prächtige Gebäude erhebt, hat eine Vergangenheit, die sich zugleich mit der Geschichte Leipzigs deckt, Hier drohte eine der drei vom Markgrafen Dietrich um das Jahr 1217 erbauten Zwingburgen, deren Besatzung, namentlich unter dem Regiment der streitbaren Witwe Dietrichs, der Markgräfin Jutta, die Bürgerschaft so lange knechtete, bis diese endlich die Geduld verlor und unter dem Beistande des Landgrafen Ludwig von Thüringen, des Vormunds von Dietrichs minderjährigem Sohne, die Burg stürmte und dem Erdboden gleichmachte. Der Grund und Boden wurde den Erfurter Dominikanermönchen überlassen. Damit trat an die Stelle ritterlicher Willkür und Tyrannei das segensreiche Wirken gebildeter Mönche, der wahren Kultur-Pioniere des Mittelalters. Der Bau des von ihnen hier errichteten Filialklosters wurde mit solchem Eifer betrieben, daß ein großer Teil des Gebäudekomplexes samt der dem heiligen Paulus geweihten Kirche bereits 1240 in Gebrauch genommen werden konnte. Bemerkenswert für Leipzig als den heutigen Hauptsitz des Buchgewerbes ist der Umstand, daß im Dominikanerkloster die erste Leipziger Druckpresse Aufstellung fand. Der Sturm der Reformation, der gerade in unserer Stadt so vernehmlich tobte, erschütterte auch die stille Heimstätte der frommen Brüder am Grimmaischen Tore. Im Jahre 1539 schon wurde ihr Kloster säkularisiert und zwei Jahre später auf Bitten des Rektors Börner vom Herzoge Moritz der Universität überwiesen, die bald darauf das Erbe der Mönche antrat und aus der Enge ihrer alten Kollegienhäuser in die geräumigen, später noch wiederholt erweiterten Klostergebäude übersiedelte. Zugleich mit dem Kloster ging auch die dazugehörige Paulinerkirche in den Besitz der Universität über. Sie hatte schon 1519 bedeutende bauliche Veränderungen erfahren, wobei das über den Zwinger hinausragende Thor zurückgezogen und verkürzt worden war. Im Jahre 1710 wurde sie wiederum renoviert, in den Tagen der Völkerschlacht diente sie als Lazaret und erst 1839 erhielt sie durch Umbau der Ostseite die bekannte nüchterne Fassade, die erst in der jüngsten Zeit dem köstlichen, gotischen Filigranwerk Meister Roßbachs gewichen ist.

In das letzte Drittel der dreißiger Jahre fällt auch die Erbauung des Postamtes auf dem Grunde des ehemaligen »Weißen Schwanes«. Natürlich hielt sich der Bau zu Anfang noch in bescheideneren Dimensionen und ist erst durch wiederholte Erweiterungen und Verschönerungen zu dem stattlichen mit Kaffsacks allegorischen Statuen geschmückten Palaste geworden, der heute die Bewunderung jedes Fremden auf sich zieht.

Rechnen wir zu den besprochenen Gebäuden noch das 1834 an Stelle des alten Torturmes erbaute, weltbekannte Café Français, so haben wir ein Bild des Augustusplatzes, wie es sich etwa bis um die Mitte der fünfziger Jahre dem Beschauer präsentierte und wie es uns in Enslens, an interessanten Einzelheiten so reichem Panorama im Leipziger Museum erhalten geblieben ist. Da sehen wir den mit zahlreichen kostümlich bemerkenswerten Figürchen, unter denen Kommunalgardisten, Postboten, Studenten, türkische Kaufleute, ein griechischer Geistlicher und Kindermädchen in thüringischen Trachten nicht fehlen, belebten Platz im sommerlichen Schmucke grüner Gesträuche und blühender Malvenstauden, vom Gipfel des Schneckenbergs winkt Öfters berühmtes Gellert-Monument, und dahinter gewahren wir die wohlbekannten Fronten des »Rothen Kollegs« und des »Schwarzen Brets«. Eine wesentliche Bereicherung erfuhr die Umgebung des Platzes durch Langes 1858 vollendeten Museumsbau, dem in den achtziger Jahren die beiden Flügel hinzugefügt wurden, und endlich, in der Mitte der sechziger Jahre, durch die grandiose Architektur des Neuen Theaters nach Langhans Entwürfen. Damit hatte der Platz den ihm gebührenden architektonischen Rahmen erhalten.

Die von einem Leipziger Schriftsteller vor etwa fünfzig Jahren geäußerte Befürchtung, daß Leipzig niemals die Mittel aufbringen werde, einen Platz von solcher Ausdehnung mit einem würdigen Monumente zu schmücken, hat die durch ein einziges Vermächtnis ermöglichte Errichtung des Mende-Brunnens widerlegt. Das schöne Linienspiel des breiten Beckens und des in einen schlanken Obelisken ausklingenden figuralen Aufbaues bietet in Verbindung mit der von Blumenbeeten flankierten Basis und dem rauschenden Wasser einen so erfreulichen Anblick wie wenige andere Monumentalbrunnen neuerer Zeit.

Man muß dieses Bild an einem Sommerabende auf sich wirken lassen, wenn die letzten Sonnenstrahlen die Bronzeleiber der Nymphen und der Tritonen mit warmem Schimmer überkleiden, wenn die fallenden Tropfen wie Rubinen glänzen, und der Granit des Obelisken im rosigen Lichte einer Memnonssäule glüht. In solchen Momenten offenbart sich uns überhaupt erst der ganze Reiz des Augustusplatzes. Die tagsüber so hellen Fassaden des Augusteums und der Paulinerkirche liegen dann im Schatten und verlieren die harten Töne, die dem hellen Sandstein vorläufig noch anhaften, die Front des Theaters zeigt die schöne Gliederung des Hauptgebäudes und der zurücktretenden Flügel, die Vorderseite der Hauptpost leuchtet in rötlichem Licht, und der feine bläuliche oder violette Duft, der über dem Platze lagert, alle scharfen Konturen verwischt und alle Farben mildert, gibt dem Bilde die letzte verbindende Lasur, ohne die jedes Architekturstück zur nüchternen Vedute wird.

Bis zum Jahre 1907 wurde der Platz ebenso wie der Markt alljährlich dreimal den Budenreihen der Kleinmesse eingeräumt, was man einer Stadt, zu deren Lebenselementen die Messen gehören, kaum verdenken konnte, so sehr auch der Ästhetiker diese Tatsache von seinem Standpunkte aus bedauern mußte. Der altertümlichen Umgebung des Marktplatzes paßten sich die verwetterten braunen Holzbuden gar nicht übel an, in dem modern vornehmen Rahmen des Augustusplatzes dagegen wirkten sie immer wie ein Anachronismus, über den man nur schwer hinwegkam. Aber das ist nun zum Glück anders geworden, seit der große neue Meßplatz vor dem Frankfurter Tore das bunte Getriebe der Kram- und der Schaumesse fern vom Stadtzentrum zusammengefaßt und zu einem Volksfest im Stile der Dresdener Vogelwiese umgestaltet hat.

Aber einmal noch alljährlich entwickelt sich auch heute noch auf dem Augustusplatz ein eigenartiges Leben: in den Tagen kurz vor dem Weihnachtsfeste, wenn die von den Höhen des Erzgebirges und Thüringens herabgestiegenen Fichten und Tannen hier, zu einem neuen Walde vereinigt, der Käufer harren. Das dunkle Grün nimmt sich auf jedem Hintergrunde ansprechend aus, zumal wenn zu der grauen Stimmung des Wintertages das blendende Weiß des Schnees tritt und die Illusion, als hätten wir einen winterlichen Nadelwald vor Augen, noch erhöht. Oder sollte es nur der Zauber des nahenden Christfestes sein, der uns dann versöhnlicher stimmt?

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