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Ganz Rom war von dieser Begebenheit erfüllt. Der Schrecken des Kirchenstaats, Grizzifalcone, war von einem deutschen Fransciscanermönch getödtet worden. Bei den Meisten hieß es: Besser hätte der Messerstich, unter dem der Genosse des Mönchs zusammengesunken war, diesem selbst gebührt! Grizzifalcone wurde bemitleidet –! »Der Aermste starb ohne Beichte –!« sagten selbst diejenigen, die ihm vielleicht den längst verwirkten Tod gönnten. Mehr aber noch! In der Sphäre der Prälatur, des Adels, des gebildeten Gelehrtenstandes gingen seltsame Gerüchte. Da war Grizzifalcone keineswegs zufällig, sondern aus geheimen Absichten »ermordet« worden! Man sah die Kutsche des Cardinals hin- und herfahren. »Was man solchen Staatsmännern alles aufbürdet! Man beschuldigt sie, selbst ihre besten Freunde nicht zu schonen!« So lautete ein bittres Wort, das aus der Sphäre der »Verschwörungen«, wir wissen nicht, ob des jungen oder des alten Italien kam.
Die vom Cardinal in die fürstlich Rucca'sche Villa geschickten Aerzte erklärten, die Wunde, die der andre deutsche Mönch und Gefangene von San-Pietro in Montorio empfangen, wäre so besorgnißerregend, daß sie einen Transport zu den Benfratellen auf die Tiberinsel San-Bartolomeo für unerläßlich hielten. 75 Der Laienbruder Hubertus kam mit einem leichten Verband davon. Er ließ sich diesen nach seinen ihm eigenthümlich angehörenden chirurgischen Kenntnissen anlegen und bedauerte nur, nicht gleichfalls zu den Benfratellen kommen zu können, wofür nach Pater Vincente's Aeußerung keine Hoffnung war. Wenn der Tragkorb den Pater Sebastus abholte, wollten sie ihm das Geleit geben und dann in ihre luftige Höhe nach San-Pietro zurückkehren. Der Sack des Klosters war gestern über und über gefüllt gewesen; aber im Tumult des Ueberfalls, des Schießens, der allgemeinen Auflösung des Festes war er von irgendeiner vorsorglichen Seele aufbewahrt, d. h. gestohlen worden. Pater Vincente und Hubertus konnten sich auf einen schlimmen Empfang im Kloster gefaßt machen.
Der Stiletstich war dem verwundeten Sebastus in die Rippen gedrungen. Er hatte Besinnung, athmete aber schwer und durfte nicht sprechen. Was in seiner Seele vorging, mühte sich Hubertus statt seiner auszusprechen; doch traf er nicht alles. Pater Vincente, der neben den beiden auf Maisstrohbetten ruhenden Verwundeten und mit dem Luxus einer auf der Erde ausgebreiteten Matratze geschlafen hatte, berührte bereits das Unsagbare näher, wenn er sprach: »So ist es mit all unsrer Sehnsucht! Ich kann mir denken, daß ihr beide euer Leben lang nach dem Anblick Roms geschmachtet habt, und die erste Nacht, wo euch vergönnt war, euch am Ziel eurer Wünsche zu fühlen, sie mußte so verderblich enden! Im Coliseum priesen wir die menschlichere Zeit, die uns nicht mehr den wilden Thieren vorwirft! Raub und Mord sind darum von diesem Boden nicht gewichen –!«
»Man kann Italien nicht verwünschen, das neben Räubern auch einen Pater Vincente hervorbringt!« dachte Hubertus.
Das sah er wol, Klingsohr's Bewegungen kamen nicht von 76 den Phantasieen des Wundfiebers allein . . . Lucinde war in Rom –! Lucinde lebte in so glänzenden Verhältnissen! Hubertus war es, der die Landsmännin, bei ihrer Annäherung an die Bettlerschaaren, zuerst erkannt und Klingsohr auf sie aufmerksam gemacht hatte. Diesem war sie anfangs eine Täuschung der Sinne, eine Luftspiegelung. Soll diese erste römische Nacht mich gradezu toll machen! rief er. Bald aber entdeckte er, daß sie auch von Lucinde erkannt waren, daß diese vom Offizier, der sie begleitete, fortzukommen suchte und ängstlich ihren Anblick vermied. Nun wagte er dem muthigern Bruder Hubertus zu folgen. Sie umgingen den Stand des Feuerwerks, schlichen sich in den Park, in den Garten, sahen, wie sich Lucinde von ihrer Gesellschaft frei machte und vollends wie entfloh. Dennoch schnitten sie ihr den Weg ab. Nun schien sie ihnen Gehör geben zu wollen und schon hatte Hubertus manchem Fragenden den Brief und die Landsmannschaft als einen äußern Grund bezeichnet, welchen ihr Verlangen haben durfte, jene Dame zu sprechen. Endlich riefen sie ihr zu, redeten sie an – nun war sie gezwungen, sich ihnen zu stellen. Hubertus wußte ja, was Lucinde für Klingsohr gewesen. Und dieser selbst sah, gleich Lucinden, Rom schon längst als das Höchste auf Erden an, als das Paradies der Seligen schon hienieden.
Beim ersten Wort, beim ersten Gruß erging sich Klingsohr in jenem Entzücken seines geknickten Geistes, das ihm in so beglückender Situation, wie in den besten Zeiten seiner Vergangenheit, wiederkehren mußte. Selbst die Eifersucht loderte auf, als Lucinde nach den Offizieren spähte, dann die Aufschrift des Briefes im Dunkeln zu entziffern suchte. Zerreiße den Brief! rief er. Wir wollen ihn nie, nie geschrieben haben! Bist du hier nicht mächtiger, als ein Bischof! Wer feiert eine Hochzeit – als mit dir! Sieh diese Fackeln, diese Feuerflammen – wie 77 Nero möcht' ich Rom anzünden, um deine Epithalamien zu singen –!
Jesus hilf! sprach diesmal voll Bangen Hubertus statt seiner.
Dazwischen kam dann die Herzogin und bald der Trupp der Offiziere und der jungen Prälaten. Die beiden Bettler wurden verwiesen, hart bezeichnet mit Worten, die ihrer Keckheit gebührten. Aber die Ungeduld, die Freude, die Spannung auf Verständigung nach so langer Trennung hatte sie beide wie im Wirbel ergriffen. Diese wilde festliche Nacht konnte so nicht enden; sie schien alles zu erlauben. Sie ließen somit den Pater Vincente beim Sack des Klosters, den die Köche, Diener und vornehmen Damen füllten, streiften zum Garten hinaus, erkannten die Möglichkeit, ihm wieder von der Landstraße, vielleicht vom Felde her beizukommen. Nur ein Wort noch an Lucinde, nur noch eine Bitte um Wiedersehen, um die Begegnung in einer Kirche, etwa wie im Münster zu Witoborn zu den Füßen des heiligen Ansgarius –! Somit kamen sie in die Lage, jene schleichenden Räuber zu entdecken, wurden Zeugen des Ueberfalls, Lucindens Retter. Klingsohr's Erinnerung an die Zeit der Mensur hatte seinen entnervten Arm gestählt; ohne Waffe erhob er ihn, rang gegen das geschwungene Stilet des Banditen, riß diesen nieder und erlag im Stürzen nur einer größern Gewandtheit und der gereizten Wuth der Entfliehenden, die den Garten sich beleben sahen, während Hubertus schon aus den Zweigen des Oleanders, in denen Lucinde sich festhalten wollte, den Riesen zugleich mit seiner Beute niederzog. Er drückte das eroberte Pistol los – ohne Scheu, wie einem Jäger geläufig war, der schon manchen Wilddieb niedergeschossen hatte.
Pater Vincente erfuhr, daß die gerettete Dame den beiden Deutschen werth und näher bekannt war. Wieder offenbarte er die Vertrautheit mit einigen deutschen Worten. Ueber sich selbst 78 sprach er wenig. Selbst die Neigung des gesprächsamen Hubertus, sich, wo er nur konnte, in der Sprache des Landes der Schönheit und der Banditen zu vervollkommnen, ergriff er nicht als Anlaß weltlicher Unterhaltung, sondern immer erinnerte er an jene Bitten, die für Kranke zu sprechen die vorgeschriebene Regel des kirchlichen Lebens ist. Dann – ohne den Sack mit Lebensmitteln ins Kloster zurückzukehren –! Eine Aussicht auf einen Dorn zur Märtyrerkrone mehr!
Um elf Uhr sollte der Tragkorb jener Benfratellen kommen, die auch Wenzel von Terschka einst so wohl verpflegt hatten. Wäre Klingsohr nicht Mönch und bereits dem römischen Glauben gewonnen gewesen, jetzt hätte man ihn in eine Anstalt gebracht, wo in Rom »Neuzubekehrende« (Katechumeni und Convertendi) in solchen Fällen leibliche und geistliche Pflege zu gleicher Zeit erhalten. Das Geringste doch, womit sie für die Genesung beim Scheiden danken können, ist – der Uebertritt!
Schon um zehn Uhr kam die junge Signora vorgefahren, die gestern von den Räubern hatte entführt werden sollen und heute der Gegenstand des Gesprächs und der Aufmerksamkeit in ganz Rom war. Man nannte sie, wie solche Verwechselungen vorkommen, bald eine Fürstin, bald eine »spanische Herzogin«. Das »Diario di Roma«, die Staatszeitung Sr. Heiligkeit, war noch nicht mit dem aufklärenden Bericht erschienen, wenn die schweigsamste aller Zeitungen überhaupt von dem ärgerlichen Vorfall Act nahm.
In Italien ist noch bei Hochzeiten die Sitte des »Lendemain« üblich. Der Palazzo Rucca am Pasquino wurde von Wägen und den Abgeordneten der fünftausend privilegirten Bettler Roms (der »Clientela« der alten Römerzeit) den ganzen Tag nicht frei. Auch nach dem Befinden der Donna Lucinda mußte gefragt werden. Sie selbst hatte ein Dankopfer darzubringen für 79 ihre Rettung und der dem Ort der Gefahr nächstwohnenden Madonna gebührte der Sitte gemäß diese Huldigung. So hörte sie die Messe in San-Giovanni di Laterano, dem der Rettung nächstgelegenen Gottestempel.
Graf Sarzana hatte sie auf diese Sitten beim Nachhausefahren aufmerksam gemacht. Er war im Wagen zurückhaltender gegen sie gewesen, als vorher in der Gesellschaft. Am Pasquino war er ausgestiegen. Vom Wein, von den Abenteuern und dem Rendezvous bei der Messe – so ließen sich doch wol seine Andeutungen verstehen – erregt, declamirte er Verse an die Säule des Hadrian, an die Obelisken des Venetianerplatzes, an denen sie vorüberfuhren, misbrauchte jedoch keinesweges die Vortheile des Alleinseins mit einem offenbar zum Tod erschöpften schwachen jungen Mädchen. Als sie in der Nacht den Pasquinostein mit Gensdarmen besetzt fanden, sagte er: Ist diese Wache nicht selbst schon eine Satire?
Die Messe war wie immer in dem »stiefmütterlich« behandelten und gegen die St.-Peterskirche zurückgesetzten Gottestempel am Lateran einsam und der große, wie fast alle römischen Kirchen einem Concertsaal ähnliche Raum lag ganz in jenem Schweigen, das die Sammlung unterstützen konnte.
Lucinde kniete und träumte. Graf Sarzana fehlte –! Er hatte sich in aller Frühe schon wegen seines Ausbleibens aus dienstlichen Rücksichten entschuldigen lassen –
Im Duft des Weihrauchs sammelte sie sich. Secreta – Canon – »Wandlung« – sie unterließ keines der vorgeschriebenen Kreuzeszeichen und dachte dabei nur an die noch schlummernden jungen Ehegatten – an die Morgengeschenke, die schon in aller Frühe für sie Ceccone geschickt hatte – auch für Lucinden hatte eine kostbare Broche von venetianer Arbeit dabei gelegen – an Graf Sarzana's Schnurrbart und seine unheimlichen 80 Augen – an die schlaflose Nacht ihrer Feindin, der Herzogin von Amarillas – an Hubertus und seine Vertrautheit mit der ältesten Geschichte des Kronsyndikus – An Klingsohr's möglichen Tod – an Bonaventura . . . Dann sang der Priester: Ite missa est –! Er hatte geglaubt, die Andacht selbst zur Zuhörerin zu haben.
Mit gestärkter Kraft schritt sie über die bunte Marmormosaik des Fußbodens dahin. Sie trat aus den Reihen der großen Porphyrsäulen hinaus auf den Platz der »heiligen Treppe« und ließ sich von ihrem Bedienten in den Wagen helfen. Sie erfuhr jetzt, daß der ganze Weg bis zu Castel Gandolfo, wohin Se. Heiligkeit heute frühe gefahren, des Räuberüberfalls von gestern wegen mit Carabiniers besetzt wäre und eben noch würde er von einzelnen Trupps der Leibwache bestrichen, unter denen sich Graf Sarzana befunden hätte. Lucinde konnte erwarten, daß Se. Heiligkeit selbst sie nächstens berufen und ihr persönlich seinen Glückwunsch über ihre Rettung abstatten würde.
Daß die Regierung hier über den Tod Grizzifalcone's anders dachte, als jeder gewöhnliche Freund der Ordnung, wußte sie bereits. Besonders sollte der alte Fürst Rucca auf verdrießliche Art daran betheiligt gewesen sein. Er hatte ihr kaum einen guten Morgen! gewünscht, als er ihr auf der Marmortreppe seines Palazzo bei ihrer Ausfahrt begegnete und murmelnd in die Bureaux seines Parterre schlich.
Die Fahrt zur Villa Rucca dauerte nur wenige Minuten. Aber der Ueberblick einer Welt konnte sich für ein Wesen wie Lucinde in diesen kurzen Zeitabschnitt zusammendrängen. Das Nächste: Sollte Klingsohr die Nacht über gestorben sein? war bereits bei ihr abgethan. Vor einigen Jahren hätte Lucinde darin eine Gunst des Zufalls gefunden. Auf ihrer jetzigen Höhe war ihr ein in Clausur eines strengen Klosters lebender 81 ehemaliger Verlobter kein zu gefährliches Schreckbild mehr. Sie hätte lieber mit Klingsohr und Hubertus noch über mancherlei verhandelt. Wurde Klingsohr wiederhergestellt, so mußte es auf alle Fälle geschehen – der Herzogin von Amarillas wegen, die sie »unschädlich« machen wollte.
Wie stand sie überhaupt zu dieser »Posse des Lebens?«
Sie lehnte in ihrem offnen Wagen, die Hände ineinandergeschlagen und auf ihren weißseidnen Polstern ausgestreckt, jetzt wie eine Fürstin! Also das bot ihr denn doch in der That Rom! Seht her, so lohnte sich jener Gang zum Bischof, bei dem sie ihre »hessische Dorfreligion«, das Lutherthum, abgeschworen hatte. Der »Augenblick«, der goldene »Augenblick«, wie er jetzt dem Sonnenstrahl dort oben glich, der auf dem goldenen Kreuz über der Kapelle »zur heiligen Treppe« blitzte, gehörte ihr, ihr, der »vom Leben Erzogenen«, mit »Thränen Getauften« – – wie sie im Beichtstuhl zu Maria-Schnee in Wien, anzüglich genug für den ungetauften Bonaventura, gesprochen hatte. Diesen Augenblick wollte sie ihr Eigenthum nennen und ihn sobald nicht wieder fahren lassen. Sie wußte, daß sie gewiß wieder hinuntersteigen würde; das kannte sie schon als ihr altes Lebensloos –! Aber bei einem Sturz kommt es auf die Höhe an, von wo herab. Die Bedingungen des künftigen Elends, das sie vollkommen voraussah, richteten sich nach der Lage, die sie verließ. So dachte sie denn mit Entschlossenheit: Jetzt oder nie.
Was ist das mit dem Grafen Sarzana –? brütete sie. Warum will mich die Herzogin von Amarillas nicht bei sich behalten? Warum flüstert der Cardinal so lächelnd mit dem interessanten, geistvollen Offizier, der mir offenbar den Hof macht und – dennoch – warum lächelten beide so zweideutig? Seitdem Lucinde damals vor Nück zu Veilchen Igelsheimer entflohen 82 war, hatte sie für die Verwickelungen des Lebens Gigantenmuth bekommen und auch den Muth, vor nichts mehr zu erröthen. Sie ahnte, was zwischen Ceccone und dem Grafen Sarzana vor sich ging. Daß sie nicht um Kleines zu erobern war, hatte sie schon gezeigt. Haßte sie nicht eher überhaupt die Männer?
In »Maria-Schnee« hatte sie Zeit gefunden, Bonaventura alles zu gestehen, was zwischen ihr, Hubertus, Dionysius Schneid, Nück vorgefallen. Wir kennen es. Fügen wir hinzu: Sie hatte das Kattendyk'sche Haus um den Thiebold'schen Streit über die Kreuzessplitter verlassen müssen und war zur Oberprocurator Nück gezogen, die sie schon längst ihre wärmste Freundin und Bewundrerin nennen durfte. »Jede kluge Frau« – stand in Serlo's Denkwürdigkeiten – »macht die zu ihrer Freundin, die ihrem Platz bei ihrem Manne gefährlich zu werden droht. Kühlt sich durch eine nähere Bekanntschaft dann nicht schon an sich die Glut des Interesses bei dem Manne oder bei der Freundin ab, so hat die Frau bei ihrem Unglück wenigstens den Vortheil, der Welt die böse Nachrede zu verderben.« So dachte freilich die Oberprocuratorin nicht, aber die Wirkung blieb dieselbe.
Lucinde war bei den täglichen, mit Frau Nück gepflogenen Erörterungen über Kleiderstoffe, Farbenzusammenstellungen und die Echauffements ihres Teints nirgends vor dem Mann derselben sicherer als in dessen eigenem Hause. Doch verließ sie auch diese Freistatt, als sie die Bestätigung einer grauenhaften Sage erlebte, die über Nück im Munde des Volkes ging.
Nück hatte es ihr einmal selbst gesagt, daß sich ihm zuweilen eine Binde vor die Augen legte, die ihn verhinderte zu wissen, was er thäte. Dann müßte er Hand an sich selbst legen –! Es waren Thränen – »der Nervenschwäche«, die ihm flossen. als er sagte, in solcher Lage würd' er einmal sterben, wenn nicht ein Wesen um ihn wäre, das ihn vor 83 Wahnsinn bewahre. Was halfen die »Davidsteine« aus seiner Beichte bei Bonaventura –! Was half die Erkenntniß, daß jeder Geist, auch der reichste, untergehen muß, der anders spricht und handelt, als er denkt –! Am achten Tag nach Lucindens Einzug in sein Haus wollte sie ihm in seine Zimmer einen spätangekommenen Brief tragen und fand ihn unterm Kronleuchter hängend.
Der Anblick war furchtbar. Ihre Phantasie glaubte zu sehen, wie Hammaker den schwebenden Körper schaukelte; sie hörte die »Frau Hauptmännin« ein Wiegenlied dazu auf ihrer Guitarre klimpern; die Blätter in Serlo's Erzählungen vom Pater Fulgentius und Hubertus flogen auf – sie floh vor dem grauenhaften Anblick, ohne den Muth zu haben Lärm zu machen. Noch mehr, sie fühlte mit grausigem Gelüst der That des Hubertus nach – ihn getrost hängen zu lassen – den lebensmüden, gewissenszerrütteten Mann – von dem sie schon in so entsetzliche Verwickelungen des Lebens geführt worden war und von dem so viel Verleumdungen und Zweifel über sie selbst in Bonaventura's Urtheil verpflanzt wurden. Dann aber vor sich selbst, wie einer Mörderin, erbebend, konnte sie nichts thun als die Flucht ergreifen. Lucinde raffte ihre wichtigsten Sachen zusammen, klingelte und lief wie von bösen Geistern verfolgt zu Veilchen Igelsheimer in die Rumpelgasse. Die Nacht über mußte sie annehmen, daß der Oberprocurator – durch ihre Schuld! – todt war. Sie hielt sich einige Tage versteckt, ganz wie die Mörderin des Verhaßten. Allmählich erfuhr sie indessen, daß Nück lebte und nur heftig erkrankt war. Ueber diese Annäherungen ihres Lebens an Brand und Mord verließ sie die Residenz des Kirchenfürsten und folgte Bonaventura nach Wien. Gefeit gegen alles, zog sie Männertracht an und lebte wie ein Mann. Sie hatte seitdem nichts mehr von Nück gehört, als daß er, zurückgezogen von allen Geschäften, auf dem Lande wohnte.
84 So war sie nun reif für Rom geworden. Ihrem Auge hatte sich die sittliche Welt aller Hüllen entkleidet, wie nur einem katholischen Priester, der, um den Himmel lehren zu können, in den Vorkommnissen der Hölle unterrichtet sein muß. Sie haßte und verachtete, was sie sah – und im Grunde nichts mehr, als die Männer. Für diese hohen Würdenträger der Kirche, für diese Tausende von ehelosen Geistlichen, die Rom zählt, war ihr jeder Begriff von Tugend zur Täuschung geworden. Ist Rom »mit Ablässen gepflastert«, wie jener Pilger zu Bruder Federigo gesagt hatte, so sind die Sünden dort wie Straßenstaub. Die Beichtstühle der katholischen Welt scheinen in Rom mit den Geheimnissen der Menschen seit zwei Jahrtausenden umgestürzt und ausgeschüttet worden zu sein. Ja sogar der Heiligste der Menschen, der Bischof von Castellungo. war – »ungetauft« –! Sein Rival, Pater Vincente, hatte für einen geträumten »Kuß in der Beichte« gebüßt –! Lucinde nahm nichts mehr, wie es sich gab; sie zweifelte an Allem.
Dem »ungetauften Heiligen« hatte Lucinde in Wien Dinge gebeichtet, die bei diesem allerdings ihren Besitz der Urkunde Leo Perl's vollkommen in Schach halten konnten. Bonaventura durfte nach diesen Geständnissen ruhiger werden.
Sie hatte begonnen von Picard, von der Urkunde, vom Brande. Sie hatte erzählt von dem Eindruck, den auf eine nicht von ihr genannte, leicht jedoch zu erkennende Person (Bonaventura ergänzte sich: »Nück!«) die Mittheilung gemacht hätte, daß jener Hammaker seinem frühern Gönner eine tödtliche Verlegenheit hinterlassen wollte durch eine ins Archiv von Westerhof einzuschwärzende falsche Urkunde. Sie hatte Nück's Betheiligung als eine nur passive dargestellt, ihren eigenen Zusammenhang, sowol mit dem Brand wie mit dem Fund des Falsificats nur 85 als die äußerste Anstrengung, das Verbrechen zu hindern. Dennoch – sie gestand es – es war ausgeführt worden!
Ein kurzer Schauder Bonaventura's – ein Seufzen – »Was muß ein katholischer Priester in der Beichte hören und zugleich – verschweigen –!«
Dann fuhr sie fort und berichtete vollständig, Jean Picard hätte sogar für seine Rettung und Flucht den Beistand eines Mannes gefunden, der zufällig in ihm denjenigen erkannte, für dessen Wohl er noch die letzten Anstrengungen seines Lebens hätte machen wollen. (Bonaventura sagte sich: »Hubertus!« . . .) Was aus dem Brandstifter geworden wäre, wußte sie nicht. Nück hätte das Geschehene nicht ohne die größte Gefahr für seine Ehre aufdecken können, wäre auch durch nichts dazu gedrängt worden, da sowol ein Ankläger fehlte wie die anfangs von ihm so gefürchteten Gelderpressungen des Brandstifters, der sich von seinem Unternehmen mit gutem Grund die stete Beunruhigung und Ausschröpfung Nück's hätte versprechen dürfen. Picard war zu einem Grade verschollen, daß man selbst seinen Tod annehmen durfte – wer weiß, ob nicht von den Händen seines ungenannten, von Bonaventura errathenen Retters –!
Alle diese Vorgänge beichtete Lucinde in ihrer vollen Wahrheit, gedrängt von den Drohungen des Grafen Hugo. Sie warf ihre Sorge auf die heilige römische, alleinseligmachende Kirche, auf die nahe Beziehung derselben zu Gott, auf den Schatz der guten Werke, welcher die reichste Vergebung derjenigen Sünden gestattete, die das Gesetz, die Welt des Gesetzes, die Welt der Fürsten, ihrer Helfer und Helfershelfer »nicht zu wissen braucht – –«
Das war die Lehre der Kirche, die ihr von je so wohlgethan. Diese Lehre gab ihr Muth und das Talent, sogar 86 eine »Beate« zu erscheinen. Was auch an Angst über diese Verbrechen in ihrer Seele lebte, sie warf alles auf Bonaventura. Seiner Vermittelung der grauenhaften und für ihren Ruf, ihre Freiheit so gefährlichen Vorgänge vertraute sie – seiner »vielleicht noch für sie erwachenden« Liebe – seiner Furcht auch vor ihrem zweiten »Geheimniß« – über ihn selbst –! Zu ausführlicheren Enthüllungen über die Ursachen der Flucht Lucindens aus dem Nück'schen Hause blieb im Beichtstuhl die Zeit nicht gegeben.
Den Ton der tiefsten Entfremdung gegen sie, einen Ton aus dem Urgrund der Seele, den Bonaventura nicht überwinden konnte, milderten die priesterlichen Formeln. Da erklang der sanfte Ton der Güte, da das stille Murmeln des Gebetes, die ernste Ermahnung! Furcht über die Mitwissenschaft an seinem eigenen tiefen Lebensunglück beherrschte ihn nicht mehr. Schon beim ersten Nennen Bickert's unterbrach er sie mit den Worten: Jener Verbrecher, dessen Reue Sie immer noch unvollständig machen durch das Zurückbehalten seines Raubes! Warum erhielt ich nie, was Sie von ihm besitzen? Ist Ihr Bedürfniß, sich an mir zu rächen, immer noch so lebhaft? Warum sagen Sie mir nicht, was ich aus dem beraubten Sarge von Ihnen zu befürchten habe?
All diese Fragen ließ Lucinde ohne Antwort und ihn selbst verhinderte sein Stolz, sein Schmerz um seines Vaters so schwer bedrohtes Schicksal anzudeuten, daß er den Inhalt der Leo Perl'schen Schrift bereits zu wissen glaubte. Vollends mahnte die nächste Gefahr, die vom Grafen Hugo mit Erneuerung des Processes drohte, zu dringend, zu dringend sogar die Möglichkeit, daß Lucinde ihrer Freiheit beraubt wurde und die Beschlagnahme ihrer Papiere, mit ihnen der Schrift Leo Perl's, gewärtigen konnte.
Nachdem Lucinde in Bonaventura's Ohr geflüstert hatte, was sie vom Brand in Westerhof und aus Nück's Mittheilungen über 87 Hammaker's Vorhaben wußte, verlebte sie Stunden der höchsten Angst. Sie durfte irgendeine Unternehmung, eine Berührung mit dem Grafen Hugo erwarten. Es wurden jedoch Tage daraus – zuletzt Wochen. Niemand mehr erkundigte sich nach ihr, weder der Graf, noch Bonaventura. Hatte dieser den Grafen so vollständig beruhigt, so ganz die von ihr eingestandene Fälschung der Urkunde verschleiert? Sie hörte Bonaventura's italienische Predigt, theilte die Bewunderung der Hörer sowol über den Inhalt, wie über die Form, frischte selbst ihre alte Kenntniß des Italienischen auf und nahm noch ferneren Unterricht darin. Kein Wort kam indessen vom Grafen, kein Lebenszeichen von Bonaventura, der inzwischen nach Italien abgereist war – ohne wieder von ihr irgend Abschied genommen zu haben!
Anfangs sandte sie ihm einen zornigen Fluch nach, dann folgte der Schmerz, dann die Schadenfreude; denn Graf Hugo war wirklich nach Schloß Westerhof gereist und alle Welt erklärte die Heirath zwischen dem Grafen und Comtesse Paula für so gut wie geschlossen. Paula vermählte sich –! Es war das Gespräch der ganzen Provinz, wie sie von dorther erfuhr.
Inzwischen fing sie an bittre Noth zu leiden. Ihre Geldmittel erschöpften sich. Was sollte sie beginnen? Welchen Weg einschlagen, um sich in der so schwierigen Stellung eines alleinwohnenden Mädchens anständig zu erhalten? Durfte sie es ein Glück nennen, wenn sie hier plötzlich – Madame Serlo und ihren Töchtern wieder begegnete –?
Wol durfte die theaterlustige Stadt beide alte Gegnerinnen zusammenführen. Serlo's Kinder waren schnell herangewachsen und gefällige Tänzerinnen geworden. Sie protegirten Lucinden, die sie herabgekommen, eingeschüchtert, in schon schwindender Jugend wiederfanden. Sie boten ihr nicht nur ihren eigenen Beistand, sondern auch den ihrer Beschützer. Die Kinder 88 waren leichtsinnig. Nun »genoß« die Mutter, wie sie sagte, ihr Leben nach langer Entbehrung; sie genoß es auch im Behagen, prahlen zu können – »Herz« sogar zeigen zu können, gewährte ihr, ganz nach Serlo's Theorie, eine seltsame Genugthuung. Frau Serlo – das war ein elektrischer Leiter für die ganze begrabene Vergangenheit Lucindens –! Die Frau erzählte jedem, was sie von Lucinden und Klingsohr, von Jérôme von Wittekind, vom Kronsyndikus wußte. Daß Dr. Klingsohr in Rom gefangen saß, war allgemein bekannt; oft genug wurde Lucinde in die Lage gebracht, über diese Beziehungen Rede zu stehen.
Dabei wohnte sie in Wiens ärmlichster Vorstadt. Empfehlungen von Beda Hunnius und Joseph Niggl öffneten ihr zwar manches fromme Haus; die Gewohnheiten einer Convertitin behielt sie bei; sie blieb eine der eifrigsten Besucherinnen der Kirchen und der Andachten; aber ihre Lage wollte sich nicht bessern. Von Nück wollte sie nichts begehren. In ihrer steigenden Noth dachte sie: Du schreibst an den Dechanten! wie ihr damals Bonaventura durch Veilchen hatte rathen lassen. Sie unterließ es aber – »Wenn es nicht die Asselyns wären –!«
Sie suchte Stunden geben zu können. Ihre Musik suchte sie hervor. Sie versuchte sich sogar in der ihr gänzlich versagten Kunst des Gesanges. Dies Letztere, um zugleich in der italienischen Sprache sich vervollkommnen und sich rüsten zu können zu ihrer »Pilgerfahrt nach Rom« – »vor'm Zusammenbrechen« – Sie nahm Singstunden bei Professor Luigi Biancchi.
Bei diesem gesuchten Maestro waren die Stunden theuer; aber für jede Stunde, die sie in der Currentgasse nahm, gab sie dafür eine wieder in der Weihburggasse, wo Serlo's Kinder wohnten. Diese wollten den Cavalieren gegenüber, von denen die Tänzerinnen des Kärntnerthors ausgezeichnet wurden, ihre vernachlässigte Bildung nachholen. Eine Weile ging es leidlich. Aber wie 89 viel Stunden ließen die undankbaren Mädchen, die sie einst auf ihrem Schoos geschaukelt und so oft auf ihrem Arm getragen hatte, absagen und rechneten sie doch nicht an –! Zum Glück – bei ihrer Manie für die Ausbildung im Italienischen konnte sie wol von »Glück« sagen – wurden eines Morgens die beiden alten Männer Biancchi und Dalschefski – verhaftet –! . . . Der Italiener, der Pole verschwanden auf dem Spielberg bei Brünn, wo die »schwarze Commission« über die Revolutionen tagte.
Das Aufsehen, das dieser Vorfall in ganz Wien hervorbrachte, der Schrecken, den darüber vorzugsweise Resi Kuchelmeister und Jenny Zickeles empfinden mußten, führte Lucinden diesen beiden Damen näher. Vielleicht würde sie ganz in das Zickeles'sche Haus eingedrungen sein, wenn ihr dort nicht die noch immer bei Madame Bettina Fuld verweilende Angelika Müller, »die diese Abenteurerin schon seit Hamburg kennen wollte«, mit mehr als drei Kreuzen entgegengetreten wäre.
Kurz nach Weihnachten hatte Lucinde Tage der Verzweiflung. Sie sprach italienisch, wie eine geborene Italienerin, aber sie hatte Schulden – Schulden – bis zum Ausgewiesenwerden aus Wien. Schulden machen den Menschen erfinderisch. Sie wecken Genie bei dem, der sonst dergleichen nicht zu besitzen glaubt. Die Resultate des Nachdenkens jedoch über die Mittel, sich zu helfen, sind nicht immer der moralischen Vollkommenheit günstig. Lucinde war nie »gut«; Mittel und Wege, entschieden »schlecht« zu werden, boten sich ihr genug. Das wohlfeilste darunter, sich unter die Protection irgendwelches Mannes, der sie zu lieben vorgab, zu begeben, vermied sie – aus zunehmender Abneigung gegen die Männer überhaupt? Wozu hatte sie so gut Italienisch gelernt –! »Freund der Seele, ich komme, um meinen Spuk mit dem Fund aus dem Sarge zu entkräften. 90 Ich will ihn in deine Hände zurückgeben! Ich will mit dir die Frage erörtern: Was ist diese Welt, was Glaube, was unsere ganze dies- und jenseitige Bestimmung?« . . . Das blieb ihr denn doch noch immer übrig, noch einmal nach Robillante und Castellungo so schreiben zu können. Jetzt vollends, wo sich Paula in der That – dem Verbrechen der Fälschung? – hatte opfern müssen!
Lucinde rechnete und wühlte. Serlo's Kinder waren hübsch, doch ohne Geist. Ihre Lehrerin brauchte nur bessere Kleider anzuziehen, als sie sich erborgen konnte, und sie hätte schon die Aufmerksamkeit dauernder gefesselt. Wie sonst, so auch jetzt. Lucinde konnte verschwinden und auffallen; sie konnte als Magd und als Königin erscheinen; die Devotion war dann die Maske für beides. Blinzelte sie nur einmal mit der vollen Macht ihrer kohlschwarzen Augen, gab sie sich mit dem ganzen Vollgefühl ihres übermüthigen Geistes, so erstaunten Grafen und Fürsten, die, mit Serlo's Töchtern und Madame Serlo plaudernd, die schlanke schwarze Lehrerin im einfachen Merinokleide nicht beachtet hatten. Nach einem solchen Lächeln war ihr Mancher schon nachgesprungen, wenn die schlanke Kopfhängerin mit ihren französischen, von den Jesuiten de la Société de Marie herausgegebenen Geschichtsbüchern sich empfahl. Madame Serlo hatte sie dann beim Wiederbesuch mit einem Hohngelächter empfangen. Wäre Lucinde sentimental gewesen, sie hätte über dies ganze Familienleben ausrufen müssen: Wärst du doch, mir wenigstens zu Liebe, noch zugegen, du abgeschiedener Geist des armen Vaters dieser Kinder! Sähe dein erbittert Gemüth eingetroffen, was du schon alles ahntest, als du so ermüdet auf deinem Sopha lagst – und ich die Uhr zog, die ich vom Kronsyndikus damals noch hatte, um nach der Stunde zu sehen, wo du deine Arznei nehmen mußtest –! Wie oft hatte Serlo gesagt: Und gesetzt, 91 ich würde alt und erlebte, was ich voraussehe, ich kann mir denken, daß ich das Gnadenbrot bei den Meinigen annehme! Nicht wie den alten Lear hinausjagen würden sie mich; ich bekäme die Reste von den Orgien, die sie feiern; und ich würde dazu lachen wie ein alter Lustigmacher, würde leuchten bis zur Treppe und die Trinkgelder nehmen, die dem Papa in die Hand gesteckt werden – »Hunger – thut weh«! wimmerte Serlo dann und that das, wie Edgar im Lear.
An Menschenhaß und Weltverachtung nahm Lucinde immer mehr zu. Sie hatte schon im Spätherbst bei einem Besuch des Praters die Entdeckung gemacht, daß die aufgeputzte Besitzerin jener Menagerie von einem jungen Mann begleitet war, über den die alte Holländerin mit ängstlicher Eifersucht wachte. Lucinde wagte nicht ihn schärfer zu betrachten, seitdem sie entdeckte, daß dies Oskar Binder war, der entlassene Sträfling, der spätere Spieler unter dem Namen »Herr von Binnenthal« –! Und von einem ausgehobenen Spielclub hatte sie gehört, den ein Herr »Baron« von Guthmann gehalten. Die Entdeckung war bei einer polizeilichen Recherche erfolgt, von der die ganze Stadt sprach.
Frau Bettina Fuld wünschte bei ihrer Abreise Andenken zu hinterlassen und kaufte zu dem Ende allerlei Schmucksachen. Sie wollte ihre Kasse nicht zu sehr in Contribution setzen und wandte sich auf den Rath der praktischen »Frau von Zickeles«, ihrer Mutter, an eine Auction im Versatzhause. Wie erstaunte sie, dort jenes Armband verkäuflich anzutreffen, das ihr damals in ihrer Villa zu Drusenheim abhanden gekommen war! Das verfallene Versatzstück war auf den Namen einer Frau von Guthmann eingetragen, derselben, die damals bei ihr so gastlich aufgenommen gewesen –! Die Anzeige, die Arrestation erfolgte. Lucinde las in den Zeitungen die nähern Angaben. Wie versetzte die über diese Mittheilung Hellauflachende das in ihre erste 92 Jugendzeit. Vom Lauscheraugenblick, als jene Frau vor ihrem spätern Mann auf den Knieen lag, fing ihr ganzes dunkles Leben an.
Lucinde würde zur Verzweiflung gekommen sein, hätte ihr jenes Bild der Jugend nicht auch Trendchen Ley vorgeführt als freundlichere Erinnerung. Durch diese beschloß sie sich zu helfen. Sie schrieb an »Madame Piter Kattendyk« nach Paris, erzählte, daß sie in der größten Noth wäre, und bat um Hülfe. Bald kam ein zwar unorthographischer, aber höchst liebevoller Brief, der eine Anweisung auf hundert Dukaten einschloß. »Das Glück liegt irgendwo«, sagte sich Lucinde – »wer es nur immer fände –!«
In einem kurzen Sonnenschein des Glücks suchen wir diejenigen zuerst auf, die sich allenfalls darüber ärgern würden, dann die, denen wir gefallen möchten. So eilte Lucinde erst zu den Serlo's, dann zu Resi Kuchelmeister, deren gesunder Ton ihr in freundlicher Erinnerung geblieben war. Sie fand diese zu ausdauernder schmerzlichster Trauer um das Schicksal der beiden alten Männer aus ihrer Currentgasse. Resi war an sich so loyal, daß sie jedes dem Kaiserhause und ihrem großen schönen Vaterlande bedrohliche Unternehmen für eine Ausgeburt der Hölle erklärte; seitdem sich aber Dalschefski und Biancchi auf geheimen Umtrieben hatten betreten lassen, anerkannte sie wenigstens die psychologische Möglichkeit politischer Verirrungen – Frauen beurtheilen alles aus dem Herzen.
Biancchi war denn also nur so geizig gewesen zum Besten der Conspirationen. Ein weitverzweigtes Netz von London über Paris, nach Italien, Ungarn, Polen hatte sich auch um ihn geschlungen. Und der gute alte Dalschefski lächelte nur deshalb immer so ironisch, weil hier ein Greis mit Jugendmuth in den schmerzlichen Nachklängen des Finis Poloniae lebte. Emissäre hatte »das arme Lamm« nach Krakau und Galizien befördert, 93 Flüchtlinge, Mitverbundene – Spione! Dem »elenden Pötzl« schrieb Resi, vielleicht mit Unrecht, das ganze Unglück der beiden alten Männer zu, die mit ihren »verwöhnten Bedürfnissen«, mit ihren »großen edlen Fähigkeiten« jetzt in grauen Kitteln zwischen den Wällen des Spielbergs leben mußten. Resi's Unmuth war ebenso groß, wie ihre Erbitterung über die Gesinnungslosigkeit der Zickeles, wo plötzlich jetzt Jenny that, als erinnerte sie sich kaum des »Schöpfers ihrer Stimme« – sie hatte inzwischen einen neuen Maestro gefunden, der die Methode des vorigen verwarf, wunderbare Enthüllungen machte über den falschen Gang ihrer bisherigen Tonbildung und ihres Stimmansatzes – »eine dilettantische Sängerin ist zu allem fähig!« sagte Resi. Aber auch die Bühne gab inzwischen sie jetzt selbst auf.
Wer kann den unglücklichen Männern helfen! dachte Resi. Sie hatte so vielfache Beziehungen – die einflußreichste, Graf Hugo war zum Unglück nicht anwesend. Da fiel ihr ein: Der Cardinal Ceccone! Die Herzogin von Amarillas hatte so treu ausgeharrt bei Angiolinens Seelenmetten! Zu dieser ging sie in den Palatinus. Olympia, die sie immer noch die Mörderin Angiolinens nannte, war glücklicherweise nicht anwesend.
Als die Herzogin vernommen hatte, daß die vorgetragene Bitte darauf hinausging, sie möchte sich für einen Landsmann beim Cardinal, dieser beim Staatskanzler verwenden, wiederholte sie voll Staunen den Namen: Luigi Biancchi. Sie hörte allem, was Resi in leidlichem Italienisch von einem ihr so wohlbekannten Namen erzählte, mit größtem Interesse zu und versprach zu dessen Gunsten ihr Möglichstes zu thun.
Doch konnte sie nichts ausrichten. Zu Olympien durfte ja kaum der Name Biancchi ausgesprochen werden! Ebenso wenig wie zu Ceccone –! Die Herzogin verschleierte durch einige Zeilen ihr Unvermögen durch die Abneigung des Cardinals, sich 94 hier in politische Dinge zu mischen. Resi vergab ihr die Wortbrüchigkeit um des Antheils willen, den sie um Angiolinen gezeigt. Resi erzählte das Leben ihrer Freundin, soweit es ihr bekannt war. Die Herzogin war über ihre Mittheilungen zu Thränen gerührt.
Resi's leidliche Gewandtheit im Italienischen bestimmte die Herzogin bei einem Gegenbesuch, den sie ihr machte, von einem Verlangen der Gräfin zu sprechen, eine Deutsche als Gesellschafterin zu engagiren und sie vielleicht mit nach Rom zu nehmen. Olympia glühte noch ganz für Benno, Bonaventura und für alles, was deutsch war. Die Herzogin trug diese Stellung Resi selbst an. Diese ergriff anfangs den Vorschlag und schien nicht abgeneigt, darauf einzugehen. Dann legte sich aber doch die Anhänglichkeit der Wienerin an ihre Vaterstadt verhindernd zwischen Neigung und Ausführung und so brachte sie für diese Stellung »eine Schülerin Biancchi's«, ein Fräulein Lucinde Schwarz in Vorschlag.
Diese bewarb sich dann und reussirte. Das System, sich anspruchslos, unbedeutend, vorzugsweise nur an den Uebungen der Religion betheiligt zu stellen, stand Lucinden bei allen Anfängen ihrer Unternehmungen hülfreich zur Seite. So sehr sie es aufregen mußte, von jetzt an stets in einer fremden Sprache reden zu müssen, so mächtig dann Phantasie und Herz von den Zaubern Italiens ergriffen werden mußten, sie beherrschte sich, ihre Wallungen zu verrathen. Der Cardinal reiste erst später nach in Begleitung des jungen Fürsten Rucca. Olympia, die Herzogin und Lucinde gingen voraus.
Lucinde erkannte bald die Natur der Gräfin und hörte, daß man von ihr flüsterte, sie wäre die Tochter des Cardinals. Sie erstaunte über die Leidenschaft, die sie für Benno von Asselyn zur Schau trug. Jetzt erst erfuhr sie den eigentlichen 95 Zusammenhang. wie Bonaventura, ein Deutscher, zu einem Bisthum in Italien hatte kommen können. Benno wurde in Rom erwartet; die Gräfin sprach von ihm, als sollte ihre Vermählung nicht mit Ercolano Rucca, sondern mit Benno stattfinden.
Als sie in Rom ankamen und Benno dort nicht fanden, vielmehr hörten, daß er wenig Tage vor ihrer Ankunft abgereist war, wurde sein Name mit Verwünschungen genannt. Jetzt hütete sie sich wohl, zu viel von ihrer Bekanntschaft mit Benno zu verrathen. Der junge Principe Rucca erschien ihr eine Art von Piter Kattendyk; der alte Rucca ein Stück Kronsyndikus; die Fürstin Mutter, eine der vielen alternden Koketten, die sie in ihrem Leben schon kennen gelernt hatte. Der allmächtige Cardinal hatte im Geistigen alles von Nück; in seinen nicht minder verfänglichen Manieren war jedoch das Streben nach Glanz und Anmuth vorherrschend. Schon hatte sie einigemal schärfere Urtheile gefällt, Ansichten über die Zeit, über die Verhältnisse Deutschlands ausgesprochen; bei einigen Festen ging sie in gewählter Toilette; nun warf Ceccone verstohlene, glühende Blicke auf sie – Es ließ sich ganz so an, als wenn sie eines Tages seine Beute werden sollte. Sie dachte über die Bedingungen eines so außerordentlichen Sieges nach. Hätte sie sich je dergleichen von Rom träumen lassen! Nur die Herzogin von Amarillas wurde ihr mit einem jeweiligen, sonderbar verächtlichen Lächeln bedenklich.
Den Lebensbeziehungen Bonaventura's war sie wieder in einem Grade nahe, der ihr zur glänzendsten Genugthuung gereichen mußte. Sie sah, daß er sein Amt mit einem auffallenden Streit gegen den Erzbischof von Coni begonnen hatte. Der Gegenstand desselben gehörte den Gerechtsamen der Inquisition an, die zwar nicht mehr mit Scheiterhaufen, immer aber noch mit Einkerkerungen strafen kann. Die Dominicaner sind die 96 Wächter des Glaubens; sie halten auf ihre Vorrechte, mit um so größerm Eifer, als sie im übrigen von den Jesuiten überflügelt sind. Der gestürzte, von Bonaventura befehdete Fefelotti war nicht im mindesten in dem Grade unterlegen, wie Ceccone gewünscht hatte, und gegen einen unruhigen Bischof seiner Diöcese konnte ihn Rom vollends nicht fallen lassen. Noch mehr; Fefelotti kam in die unmittelbarste Nähe des Vaticans zurück. Er wurde der erste geistliche Minister Sr. Heiligkeit, wie Ceccone der weltliche war. Jetzt wurde Bonaventura's Lage vollends schwierig – Lucinde erfuhr, daß noch ein anderer Schlag gegen ihn in Vorbereitung war, die Verurtheilung der dem apostolischen Stuhl aus Witoborn vorgelegten Frage über den Magnetismus – »ob sich ein Priester nicht durch magnetisches Handauflegen verunreinige«?Thatsache.
Mitten im Gewirr dieser sich durchkreuzenden Gerüchte und leider nur halbverbürgten Nachrichten, hörte Lucinde, daß Paula's Bund mit dem Grafen Hugo wirklich im Frühjahr geschlossen war. Resi Kuchelmeister schrieb ihr diese Nachricht und schilderte, was sie vom Act der in der Liborikapelle bei Westerhof stattgefundenen (nun also doch nicht durch Bonaventura vollzogenen) Trauung gehört. Sie schilderte Paula's erstes Auftreten – in Wien – wie die geisterbleiche, mehr dem Himmel, als der Erde angehörende Gräfin ein Aufsehen sondergleichen mache, wie sie alle Schichten der Gesellschaft in Bewegung setze. Lucinde befand sich jetzt im Glück; das machte ihr Urtheil milder. Bonaventura hatte Paula aufgeben müssen; auch das ließ eine Weile ihre Eifersucht schweigen. Auf der Höhe des Verständnisses dieser unglücklichen Liebe stand sie ohnehin und empfand sehr wohl, was in Paula's Seele vorgehen mußte. Graf Hugo 97 hatte ihr eine schreckhafte Stunde des Lebens bereitet, er hatte zornig und drohend mit ihr gesprochen und so schrieb sie denn an Resi: »Das ist unser Frauenloos! Die Lilie vom See in einen Stall verpflanzt! Veilchenkränze vom Bachesufer in ein mit Tabacksqualm durchzogenes Zimmer! Hände, weich und weiß wie Schwanenflaum, jetzt in einem abgegriffenen Lebensbuch blätternd! Aber gewiß! Der Graf wird sie schonen! All die Künste der ›Egards‹, womit die Männer sich zu verstellen wissen, wird er entfalten. Er wird sich auf den Ton der Tugend und Achtung vor dem Schönen stimmen! Wie wird er um sie her einen Tempel aus bunten Lügen-Wolken bauen, einen Tempel mit schönen Säulen und Vorhängen, die undurchsichtig sind, um – den Stall, die Cigarre, den Wein, die Untreue zu verbergen! Aber manchmal verwickelt sich denn doch noch der Sporn des plumpen Fußes in die zarten Teppiche, die auf dem Boden gebreitet sind; manchmal wird dann all die Herrlichkeit der Lüge zusammengerissen. Da stürzen die alabasternen Vasen, zerbrechen die kleinen Hausgötter des Friedens, der erlogene Seladon wird zum schnurrbärtigen Barbaren, wie ich sie alle gefunden habe, diese Erlauchts, Excellenzen, Durchlauchts. Dann kommen Dinge zu Tage, die für uns Frauen wie Offenbarungen aus der Welt des Mondes sind! Seit dem Anfang der Welt belügen so die Männer die Frauen, misbrauchen mit ungroßmüthiger Kraft unsere urewige Schwäche, die immer wieder die Füße küßt, die uns getreten. Vielleicht führt der Graf seine Rolle wenigstens bis zum stillen Verlöschen des Lichtes durch, das ihm der Himmel zu hüten beschieden hat. Vielleicht besitzt er, da sie ihn gutmüthig nennen, wenigstens die Geduld des Ausharrens bis zum Ende. Ich kann mir den Glauben der Aerzte nicht geben, die Paula wie eine welk gewordene Blume an solchen Küssen und Umarmungen aufleben 98 sehen und eine gesunde Mutter mit sechs pausbackigen Jungen in Perspective erblicken. Zieht der Graf nach Schloß Salem, so fällt aus der dortigen Luft allein schon ein Mehlthau auf die zarte Pflanze; selbst wenn sie nie erfährt, wer die andre arme Seele war, die einst in den kleinen Entresols des Casinos gehaust hat.« Resi Kuchelmeister, die den Grafen verehrte und in seiner Heirath nur eine finanzielle Nothwendigkeit sah, nahm diesen Brief übel und antwortete nicht mehr.
Es war eben in der Welt nur Ein Mann, der Lucinden liebenswerth erschien. Hochthronender denn je unter allem Elend und aller Schwäche dieser Erde lebte er in seinem einsamen Alpenthale. Wie gern hätte sie ihn in seinem jetzigen Glanz erblickt! In seiner langen weißen Dalmatica, mit seinem silbernen Bischofsstab, unter seiner spitzen Bischofskrone, die ein Haar bedeckte, das bereits, wie sie bei ihrer Beichte zu Maria-Schnee gesehen, zu ergrauen begann! Wie gegenwärtig war ihr alles, was Bonaventura über diesen Bund Paula's empfinden mußte. Sie ängstigte sich um die Gefahren, die ihn bedrohten. Hätte sie nur mehr davon erfahren können. Sollte sie sich deshalb an den Cardinal wenden? Ceccone hatte den Kopf mit dem »Jungen Italien« und den Vorwürfen des Staatskanzlers voll und Olympia sprach nur noch, aus Zorn über Benno, mit Hohn über den von ihr zum »Heiligsten der Christen« und zum Bischof gemachten Deutschen. Die Herzogin schien ihr dann eher eine Bundsgenossin; doch mußte sie mit dieser – »erst einen Vertrag abschließen«.
Eines Tages hatte sich Lucinde, als Olympia nicht anwesend war, nach einem kleinen Diner bei der Herzogin, dem der Cardinal, einige Prälaten und Offiziere beiwohnten, den Scherz erlaubt, den großen rothen Cardinalshut des erstern aufzusetzen und damit vor den Spiegel zu treten. Das Gespräch war so 99 lebhaft, das Lachen so natürlich gewesen, daß sich Lucinde diesen kleinen Rückfall in ihre alten »Hessenmädchen«-Naivetäten glaubte beikommen lassen zu dürfen.
Una porporata! rief Ceccone mit glühenden Augen und beifallklatschend.
Der große rothe Sammethut mit den hängenden Troddeln von gleicher Farbe stand dem schwarzen Kopfe in der That allerliebst.
»Die Päpstin Johanna!« sagte ein Offizier, der Lucinden zu Tisch geführt hatte. Er schien sich gut mit ihr unterhalten zu haben. Man nannte ihn den Grafen Sarzana. Er stand bei der Nobelgarde und war noch nicht lange von Reisen zurück.
Der Cardinal drohte ihm für sein Wort schelmisch mit dem Finger, sagte, wie zur Strafe: »Nein! Die Gräfin Sarzana!« Damit setzte er Lucinden den schönen Helm des Offiziers auf.
Eine Purpurglut überflog sie. Ihre verunglückte Johanna d'Arc auf der Bühne stand ihr wieder vor Augen. Sie hatte keine Kraft, ein Wort zu sprechen, keine Kraft, den Helm abzunehmen, bis es Herzog Pumpeo that.
Seit dieser Zeit wurde sie mit »Gräfin Sarzana« geneckt und von niemand mehr als von Ceccone. Der Graf, der sie nach dieser Scene anfangs auffallend gemieden hatte, fing plötzlich sogar selbst an, den Scherz wahrmachen zu wollen. Er zeichnete sie aus. Lucinde wußte, daß Don Agostino ein Graf »ohne Baldachin« war, d. h. ohne Stellung zum hohen römischen Adel. Ein Marchese ist mehr als ein römischer Graf. Sie wußte, daß Graf Sarzana arm war und unter Cavalieren nach dem Schlag des alten Husarenrittmeisters von Enckefuß lebte. Galanterie und die Kunst, mit 1500 Scudi für sich und ihre Diener auszukommen, erfüllte das Leben dieser »armen Ritter« – unter denen sich Frangipanis und Colonnas befinden.
100 Wie sich aber die Neckereien mit der»Gräfin Sarzana« mehrten, trat ihr die Vergleichung des alten Enckefuß mit diesen römischen Rittern noch in einer andern Beziehung entgegen. Der alte Husarenrittmeister hatte Ehrgeiz, Ritterlichkeit, Treue, Aufopferung für gute Freunde, Tugenden, über welche man die Fehler seines Leichtsinns vergessen konnte. Seltsam aber, sagte sie sich, diese romanische Art besitzt von alledem wenig oder gar nichts und regiert dennoch die Welt! Die scheinbar anständigsten Menschen hatte sie hier gewinnsüchtig und schmuzig geizig gefunden; ein gewisser Adel der Auffassungen, der ihr selbst noch in der äußersten Entartung des heimischen Junkerthums, im Kronsyndikus, bei ernsten Krisen erinnerlich war, fehlte hier gänzlich. Sie sah anständig gekleidete Männer Abends in die Kaffeehäuser zu den Gästen treten, die Achsel zucken und den Hut hinhalten – um einen Bajocco zu erhalten. Selbst die Herzogin von Amarillas fand in solchen Vorkommnissen nichts als die allgemeine Consequenz des südlichen Lebens. Mit dem äußern Schein der Demuth verband sich, wo Lucinde hinblickte, eine Gewöhnlichkeit der Anschauungen, die sogar noch über die leichte Art zu denken und zu urtheilen, die ihr eigen war, hinausging. Im Theater, das sie wegen Olympiens Koketterie besuchen mußte, sah sie zwanzig Tage hintereinander dieselbe Oper oder Farce. An manchen Stellen, wo Rührung hervorgebracht werden sollte, zitterten wol die Stimmen der Sänger, der Schauspieler; die Taschentücher wurden gezogen; meist aber waren es Ausbrüche von Klagen, die ihr weit eher lächerlich erschienen. Anderes wieder, das selbst für sie roh und herzlos war, ging bejubelt oder als »großartig« vorüber. Maßstab aller Beurtheilungen war die Klugheit oder Dummheit, die man bewiesen. Eine geschickt ausgeführte List erntete Bewunderung. Und nicht anders im täglichen Leben! Der alte Rucca war, wie 101 sie alle sagten, ein Gauner. Aber er stand im besten Einvernehmen mit den Cardinälen. Sein Sohn hatte die Eitelkeit eines Affen. Seine Kameraden waren ebenso. Anmaßung, Unwissenheit herrschte überall. Einige der römischen Junker trieben Politik und hielten sich zur »nationalen« Partei. Ihre Unzufriedenheit bestand darin – daß im St.-Peter bei großen Festlichkeiten »die Gesandten und die Fremden die Plätze erhielten, die ihnen gebührten« –! Oder sie fanden, daß der Kirchenstaat zu sehr von Paris, Neapel und Wien beherrscht wurde; sie wollten die Herrschaft der alten Geschlechter wiederherstellen. Selten, daß sich einmal bei der Herzogin eine unterrichtete Persönlichkeit einfand. Die »Prälaten« besaßen Kenntnisse, mehr noch, angeborenen Geist; aber eine Einbildung verband sich damit, die jedes Maß überschritt. Nach ihnen war jede Wissenschaft in Italien zuerst entdeckt worden. Wenn Cardinal Ceccone »auf sein Alter Neuerungen liebte«, so bestanden diese nur in dem eifrigsten Verlangen, den Einfluß der fremden Cabinete zu beseitigen. Freilich hatte seitdem der Staatskanzler auch zu ihm von dem »Salz« gesprochen, das gesäet werden müßte auf das dem Erdboden gleichzumachende Italien. Doch ging darum doch alles keck, sicher und maßgebend her! Diese elende Verwaltung –! Die Zölle befanden sich in den Händen von Pächtern, die so rücksichtslos verfuhren, daß Zahlungsunfähige wider Willen zu Flüchtlingen, Räubern und Mördern wurden. Aus Anlaß des gestern von Hubertus niedergeschossenen Pasqualetto wußte Lucinde zwei Thatsachen. Einmal daß sämmtliche fremde Weine, die Ceccone trank und seinen Gästen vorsetzte, unversteuert waren. Zweitens daß Graf Sarzana gesagt hatte: Diese Kugel hat den Pasqualetto für seinen letzten Räuberspaß zu früh gestraft. Er wollte von morgen an ehrlich werden! Er war hier, um 102 nach Porto d'Ascoli mit einer ehrenvollen lebenslänglichen Pension zurückzukehren –!
Die scharfen und freisinnigen Urtheile des Grafen kamen nur in vereinzelten Augenblicken. Sie schienen einer Stimmung des Hasses gegen den Cardinal zu entsprechen, des persönlichsten Hasses – die sämmtlichen Sarzanas waren Creaturen des Cardinals und ihm auf Tod und Leben verpflichtet. Don Agostino hatte Verwandte, die nicht gerade des Abends in den Kaffeehäusern achselnzuckend bettelten, die aber für jede Gefälligkeit eine Bezahlung verlangten. Die Schwester des Grafen war einst eine Geliebte Ceccone's – alt geworden hütete sie seine Landökonomieen. Ein Bruder von ihm verwaltete des Cardinals Oelmühlen. Als er sich aus ihnen zu viel Privatvortheil gepreßt hatte, ließ ihm der Cardinal die Wahl zwischen dem Tribunale del Governo oder der Heirath einer seiner vielen Nichten, die er nicht alle so auszeichnen und unterbringen konnte wie Olympia. Ceccone trieb, das entdeckte ganz aus sich selbst Lucinde, die Ostentation mit dieser Nichte nur deshalb, weil auf diese Art der Schein gewonnen werden sollte, als hätte er überhaupt nur Eine dergleichen zu versorgen –! Der Cardinal lachte überlaut, als ihm Lucinde zwei Tage nach dem aufgesetzten Purpurhut diese Andeutung mit einem verschämten Blinzeln durch die Finger ihrer vors Gesicht gehaltenen linken Hand gab – Ein dritter Verwandter des Grafen war durch Verheirathung mit einer andern Geliebten des Cardinals Aufseher aller Häfen geworden. Und Don Agostino selbst –? Pah, dachte Lucinde, sieht Ceccone ein, daß du nicht, wie hier Sitte ist, durch eine Verheirathung mit seinem Majorduomo oder seinem Koch zu erobern bist? Sollst du deshalb, deshalb wol gar die Gräfin Sarzana werden –? In diesen Grübeleien lebte sie jetzt. Es gab Entschlüsse zu fassen fürs Leben. Es standen Erwägungen bevor, die eine 103 außerordentliche Anstrengung des Verstandes, der List, der Berechnung, vielleicht des Herzens kosteten.
Sie hatte noch keinen Entschluß gefaßt – Aber das stand fest: Benno von Asselyn urtheilt gering über dich und infolge dessen lächelt seine Mutter und zuckt die Achseln! Das will ich nicht mehr haben! Dies Lächeln der Herzogin von Amarillas soll ihr ein für allemal verdorben sein!
Lucinde wollte auf Villa Rucca den beiden ihr so nahe stehenden Mönchen keinesweges die Theilnahme alter Freundschaft und Dankbarkeit versagen, sich aber auch im übrigen durch sie vergewissern, ob die Herzogin jene Betrogene von Altenkirchen, jene Römerin war, von welcher auf Schloß Neuhof soviel Sagen gingen und die Hubertus doch wol wissen mußte. Einen fatalen Eindruck machte es ihr jetzt beim Anfahren, daß sie die Villa Rucca keinesweges in der Stille antraf, die sie zur Ausführung ihrer entschlossenen Absichten bedurft hätte. Nicht nur wurden eben von einer Menge Arbeiter die Spuren des gestrigen Festes entfernt, sondern auch eine Gerichtscommission war zugegen, von welcher die gestrigen Vorfälle aufgenommen wurden. Ihr Erscheinen kam letzterer gerade zu statten, um von ihr noch einige an sie gerichtete Fragen beantworten zu lassen. Der Cardinal sogar und der alte Fürst Rucca waren dieser Aufstellung der Thatbestände wegen zugegen. Sie hörte bereits, daß beide am Ort des gestrigen Ueberfalls mit den Mönchen Hubertus und Vincente im Gespräche verweilten. Ueber Sebastus erfuhr sie, daß es mit seiner Wunde nicht gut stand und die Benfratellen jeden Augenblick erwartet wurden, ihn abzuholen.
Auch dem Cardinal und dem Fürsten war sie im höchsten Grade und besonders auch als Dolmetscherin willkommen. Beide suchten mit dem drolligen Laienbruder, dessen Aeußeres vom Dienertroß genug belacht wurde, eine Verständigung, die nur 104 mühsam von Pater Vincente vermittelt werden konnte. Lucinde wurde sofort berufen, in den Garten zu kommen.
Am Ort des gestrigen Erlebnisses harrten ihrer die drei geistlichen Herren und der alte Rucca im lebhaftesten Gespräch. Hubertus grüßte Lucinden mit aufrichtigster Freude und drückte nur mit Trauer Befürchtungen wegen ihres gemeinschaftlichen Freundes Sebastus aus. Seine Augen sagten: Sei doch dankbar! Es geschah ja alles um dich! Bleibe uns ein guter Engel! Entsende den Brief – falls er noch nöthig ist gegenüber deinen mächtigen Verbindungen! Du weißt denn doch wol auch, was wir beide seit Witoborn gemeinschaftlich zu tragen haben –! Lucinde beglückte und beruhigte ihn durch einen ihrer gütigsten Blicke.
Pater Vincente und der Cardinal erhielten von ihr die Ehren dargebracht, welche der kirchlichen Stellung derselben gebührten. Pater Vincente – »der Rival Ihres Bonaventura um die nächste vacante Heiligenkrone« –! wie Olympia neulich zur Herzogin gespöttelt hatte – Ceccone, das Bild des Versuchers, der mit einiger Reserve über alle Schätze der Erde gebot, wenn man ihn anbetete. Lächelnd stand er und schien Lucinden mit geheimnißvollen Zeichen begrüßen zu wollen. Sie blieb voll Demuth.
Der alte Fürst glich einem luftschnappenden Hecht, der sich nicht in seinem Elemente befindet. Vor dem heiligen Pater Vincente mußte er Ehrfurcht bezeugen und ärgerte sich doch, daß dieser nicht geläufiger deutsch verstand. Mit gemachtem süßsauern Lächeln verwies er Lucinden auf den von Pater Vincente vorgetragenen Stand einer Verhandlung, der zufolge sie zuvörderst erfuhr, daß der Räuberhauptmann Pasquale Grizzifalcone in der That nach Rom gekommen war auf Veranlassung – zunächst des Fürsten Rucca.
Sie traute ihrem Ohre kaum. Der Fürst versicherte jedoch 105 ungeduldig: Ebbêne! und wendete sich zu Vincente mit einem drängenden Parla dunque! nach dem andern.
Lucinde hörte, daß der berüchtigte Verbrecher, der schon vielfach sein Leben verwirkt hatte, auf dieser Villa hier erwartet wurde zu einem durchaus friedlichen Gespräch, das der Fürst mit ihm unter vier Augen hatte abhalten wollen. Pasqualetto, wie er im Munde des Volkes hieß, hatte die Bürgschaft der Sicherheit verlangt. Diese hatte er erhalten auf das dem Fürsten gegebene Ehrenwort – des Cardinals! Dieser nickte bestätigend ein Ja! und setzte sich jetzt. Zur Summe, welche der Räuber als Bedingung seines Erscheinens verlangte, hatte »dieser dumme Kerl«, wie der Fürst sagte, noch eine »buona manchia« extra verdienen wollen; eine Summe von einer der »Prinzessinnen«, die sich vielleicht im Garten zu sicher gedünkt hatten. Vielleicht auch – eine Geißel für seine Sicherheit zu denen, die er schon in den Schluchten der Mark Ancona besaß. Dies setzte der Fürst mit einem seltsamen Streiflicht auf das »Ehrenwort« des Cardinals hinzu.
Sie hätten nun gestern beinahe noch zwei solcher Geißeln gefunden, aber Pasqualetto hätte leider dran glauben müssen! Leider! betonte der alte Fürst in allem Ernst und corrigirte sich nur pro forma: Der Bluthund –! Dabei sah er über die Mauer, wo die Spuren der gestrigen Verwüstung noch nicht getilgt waren.
Der Nimmersatt! ergänzte Ceccone ironisch und ließ zweifelhaft, wen er meinte.
Lucinde orientirte sich allmählich.
Der Fürst erging sich in der heftigsten Anklage eines Menschen, der hier den Staatsbehörden völlig in der Eigenschaft einer gleichberechtigten Macht gegenüberstand. Dabei richtete er 106 seine Vorwürfe geradezu wie die öffentliche Meinung gegen Hubertus.
Dieser Arme verstand sie glücklicherweise nicht und suchte sich nur mit seinen glühenden Augen, die in seinem Knochenschädel hin- und herfunkelten, zu deuten, was seine Ohren nicht begreifen konnten. So viel merkte er allmählich, daß er den hohen Herren keinen Gefallen mit seiner raschen Anwendung des Pistols gethan hatte.
Der Cardinal wiegte sich im Sessel, brach über sich Lorberblätter, die er in seiner flachen Hand zerklopfte, und beobachtete nur scharf fixirend Lucinden. Daß diese die Mönche Hubertus und Sebastus kannte, schien ihm insofern von Interesse, weil sich die kleinen pikanten Episoden der gewöhnlichen Devotion und amazonenhaften Kälte des fremden Mädchens zu mehren begannen.
Durch diesen Tod, krächzte der alte Fürst offen zu Hubertus heraus, haben Sie die heilige Kirche um eine große Gelegenheit gebracht, Gerechtigkeit zu üben! Sie hätten sich getrost von hier sollen entführen lassen, schöne Signora! scherzte er. Ich würde mit Vergnügen das Lösegeld gezahlt haben – Der Cardinal da hätte den Rest hinzugefügt – setzte er mit sardonischem Lächeln und seine Aufregung zügelnd hinzu.
Senza il supplimento –! Ohne das Agio! erwiderte der Cardinal ebenso trocken ironisch. Er streckte seine rothen Strümpfe vor sich auf die unteren Sprossen eines Sessels aus. Sein Bein war noch untadelhaft. Kopfnickend bestätigte er alles Erzählte, nur mit einer gewissen ironischen Bitterkeit.
Sie können alles wieder gut machen, fuhr der alte Fürst zu Hubertus fort, wenn Sie sich die Gnade des Pater Campistrano erwerben und wirklich diese Reise nach Porto d'Ascoli unternehmen wollen.
107 Nach Porto d'Ascoli? fragte jetzt Lucinde staunend über die Anrede, die sie übersetzt hatte. Beim Namen des Pater Campistrano blickte Pater Vincente besonders ehrfurchtsvoll – es war der General der Franciscaner. Hubertus stand unbeweglich, dem alten knorrigen Myrtenstamm ähnlich, woran er sich lehnte. Er hatte schon vorhin von einer Reise nach der Küste sprechen hören – das war richtig – er verstand nur noch zu dunkel den Zweck und sah auf Lucinden als dolmetschende Hülfe.
Diese wollte sich erst vollständiger zurecht finden, wollte auch, ehe sie vermittelnd eingriff, die Interessen des Cardinals erst sondiren. Wie den Cardinal diese Klugheit entzückte, die er vollkommen durchschaute! Ceccone schien gleichgültig, spielte mit seinem Augenglase, fixirte bald Lucindens Toilette, bald das Curiosum der Gesichtszüge und der Gestalt des deutsch-holländischen Laienbruders, die er zuweilen für sich herzlich belachte.
Hubertus hatte allerlei Dinge von einem Pilger gesprochen, von einem Deutschen, die ihrerseits Lucinde nicht verstand. Erst allmählich lüftete sich ihr folgender, größtentheils von Pater Vincente vermittelter Zusammenhang. Der Räuber Pasqualetto war, wie es üblich im Musterstaat der Christenheit, im Eldorado der katholischen Sehnsucht, unter dem Versprechen der Sicherheit nach Rom entboten worden, um für eine bedeutende Summe dem Fürsten Rucca Mittheilungen über die Lage seiner Interessen an der adriatischen Küste zu machen. Der Gewinn, den der gefürchtete Räuber von seinen Unternehmungen zog, mußte mit seinen Gefährten getheilt werden; diesmal jedoch wollte er die Frucht langer Verhandlungen, eine lebenslängliche Pension ganz für sich allein, wollte seine Wohnung inskünftige in der frommen Stadt Ascoli nehmen und sein bisheriges Leben ganz der Nachsicht der Behörden anempfehlen. Solche letzte Friedensschlüsse der Regierungen mit den Frâ Diavolos der Landstraßen sind in 108 Italien nichts Seltenes und für die geplagte Bevölkerung das bei weitem Erwünschtere, weil Sicherste. Wenn auch zugestanden werden muß, daß sich Ceccone und das Tribunal gegen diese Uebereinkunft sträubten, so wußte Fürst Rucca seinen Wünschen doch Nachdruck zu geben und nicht blos im Scherz sagte er zu den höchsten Richtern: Fürchtet ihr etwa auch, daß eure Namen auf der Liste derer stehen werden, die mir die Füllung des Schatzes des Heiligen Vaters mit der Zeit unmöglich machen werden? Besonders sah Ceccone ohne Zweifel den Enthüllungen des Pasqualetto mit unheimlicher Spannung entgegen. Der Fürst hatte heute ganz den übeln Humor, der jeden Gastgeber am Morgen nach einem Feste, ob es auch noch so schön ausfiel, zu erfüllen pflegt. Er äußerte in aller Offenheit seine Meinung mit den Worten: Ich glaube, diesen Mord des armen Pasqualetto hat jemand auf dem Gewissen, der sich fürchtete, auf zehn Jahre zurück seinen Champagner versteuern zu müssen!
Der Cardinal zog verächtlich die Lippen. Lucinde sah, daß, falls hier der Cardinal etwas fürchtete, doch wol mehr auf dem Spiele stehen mußte als nur sein unversteuerter Champagner. Doch auch schon diese Beschuldigung durfte den Cardinal mit Recht reizen. Er verwünschte alle die, die der Kirche und ihren Cardinälen Uebles nachsagten.
Hubertus horchte nur.
Der Räuber war, erfuhren er und Lucinde, am Tiberstrand mit einigen alten Kameraden aus San-Martino, einem bekannten Räubernest im Albanergebirg, in Berührung gekommen und hatte blos den Spaß am Feste seines versöhnten Feindes noch als »Zugabe zum Fleisch« ausführen wollen. Die Verständigung zwischen dem Fürsten Rucca und Pasqualetto war auf brieflichem Wege vor sich gegangen – wenn auch mit der größten Schwierigkeit. Der Schmuggler und Räuberhauptmann konnte 109 selbst weder lesen noch schreiben. Für sein Vorhaben, sämmtliche Hehler unter den Kaufleuten und die mit ihnen und den Schmugglern unter einer Decke wirkenden vereideten Zollbedienten anzugeben, mußte er sich eines höchst verschwiegenen Beistandes bedienen, der eben schreiben und lesen können mußte. Für solche Fälle gibt es in Italien die Mönche, falls auch die – schreiben können! Aber selbst den Mönchen hatte Pasqualetto nicht getraut. In Ascoli wollte er seine Tage in Ruhe beschließen; er war gerüstet, die Rache der von ihm Verrathenen zeitlebens gewärtigen zu müssen, hatte sich auch deshalb für die Schlimmsten unter den Defraudatoren die Verzeihung erbeten; aber er vertraute sich sogar nicht gern den Mönchen an. Wo fand sich bei ihnen soviel Muth, um Vermittler eines so eine ganze Provinz in Furcht und Schrecken versetzenden Strafgerichts zu werden! Die Mönche mehrerer Klöster, bei denen er anklopfte, baten ihn himmelhoch, keine dergleichen Thorheit zu begehen und in solcher Form reuig werden zu wollen! Wendet Euch doch an uns und an die Madonna! sagten sogar die Aebte. In der Kathedrale von Macerata gab es ein wunderthätiges Marienbild, das alles vergab. Kurz Pasqualetto war loyaler, als die ehrwürdigen Väter und vollends als die einsam wohnenden Landpfarrer, die sich mit einer solchen Provocation der Rache der Betheiligten am wenigsten einlassen wollten. Wie sehnte sich der riesige Pasqualetto, der im Stande war, eiserne Pfosten aus Brettern auszubrechen, nicht aber schreiben konnte, nach einem Dolmetscher seiner Wünsche –! Kaum daß er einige Mönche so weit brachte, für die Verständigung mit dem Generalpächter der Steuern die ersten Einleitungen zu treffen!
Hier wollte der Fürst nun wieder selbst erzählen; denn Pater Vincente trug ihm alle diese Geschichten mit einem zu elegisch 110 eintönigen Klange und wie von der Sündhaftigkeit dieser Welt wenig erbaut vor.
Mau hörte indessen doch aus des Priesters Munde: Se. Hoheit waren seit lange in ihren Einnahmen nicht so verkürzt gewesen, wie in den letzten Jahren. Während die statistischen Ausweise aller Staaten eine Zunahme der Zollerträgnisse nachwiesen, sanken in schreckenerregender Weise die des Kirchenstaats. Ein Gewebe von Defraudationen hatte sich gebildet, das neben dem geregelten Steuerwesen des Staats und der Pächter ein zweites der Schmuggler, der treulosen Zollbedienten und der Consumenten bildete. Fürst Rucca schwur, daß er im vorigen Jahr den Ausfall einer halben Million gehabt hätte und in diesem Jahr würde das Uebel noch ärger werden. Er wollte ein Gericht mit Schrecken halten. Wozu war Ceccone's Nichte seine Schwiegertochter geworden –!
Pater Vincente sprach letzteres nicht alles. Lucinde ahnte, was er sagen wollte. Der Pater senkte die langen schwarzen Augenwimpern. In der That sah er heilig aus. Ceccone fing an, ihn schärfer zu beobachten. Er dachte: Fefelotti will dich zum Cardinal machen? Das ist von meinem Gegner theils Koketterie mit der neusten Mode der Frömmigkeit, theils eine erneute Schaustellung der Lebensweise Olympiens und eine Verurtheilung Deines Systems! Die geistliche Intrigue ergreift jedes weltliche Mittel. Ceccone versank in brütendes Nachsinnen.
Hubertus aber und Lucinde erfuhren: Pasqualetto wollte sich durchaus noch immer nicht nach Rom begeben, aber auch seine Liste von Kaufleuten, von reichen Grundbesitzern, vielen vornehmen Männern in Rom, vorzugsweise von Zollbedienten und Helfershelfern der Schmuggler blieb von seiner oder eines Fremden Hand ungeschrieben. Das Geschäft rückte nicht vorwärts. Endlich begab sich Pasqualetto mit seinen nächsten Vertrauten 111 gelegentlich in die Gegend von Loretto. Dort wollte er nächtlich einen Pfarrer überfallen und ihn mit geladener Flinte zwingen, niederzuschreiben, was ihm »unter dem Siegel der Beichte« würde dictirt werden. Hier nun, vor Loretto, fiel ihm ein Hause Pilger in die Hände. Diese, so arm sie waren, plünderte man aus und entdeckte, daß einer derselben, der von allen der ärmste schien, nur eine Bibel (ein verbotenes und allen Steuerbeamten als zu confisciren bezeichnetes Buch) und ein Taschenschreibzeug besaß. Diesen glücklichen Fund hielt man fest. Ein Gefangener, der schreiben konnte! Ein Bettler, der sich, wenn es sein mußte, aus der Welt schaffen ließ, ohne daß viel Nachfrage danach war! Diesen Unglücklichen schleppten die Räuber mit sich und hielten ihn seit Monden gefangen. Es war ein kranker, hinfälliger Greis, er kam von den Alpen her, hatte nach dem südlichen Italien wollen – dieser Gefangene nun war der Vertraute dieser hochwichtigen Staatsaffaire geworden.
Hier eben war es, wo schon bei früherer Erörterung dieser Dinge Hubertus in seiner regsten Theilnahme aufwallte. Ingleichen gab Vincente jetzt wie schon vorhin über diesen gefangenen, dem Verderben preisgegebenen Pilger Zeichen eines gesteigerten Interesses.
Den Pilger zwangen die Räuber, Nachts über die wildesten und schroffsten Felsenwände zu klettern und mit ihnen in einsamen Höhlen zu campiren. In einer verlassenen Zollwächterhütte am Meeresstrande fand sich nach drei Tagen das nothwendige Papier und nun begann die Correspondenz mit Rom. Das war ein Verkehr wie zwischen zwei Cabineten. Grizzifalcone ging vorsichtig zu Werke. Die Actenstücke seines Verrathes mehrten sich. Der Pilger mußte Namen und Orte, alle Waaren, die seit Jahren nicht versteuert gewesen zu sein sich die Schmuggler entsannen, alle Hehler, auch die Schlupfwinkel niederschreiben, 112 wo die Waaren geborgen wurden, Fischerhütten bei San-Benedetto, Leuchtthürme am Fosso Bagnolo, Felsenschluchten bei Grottamare, Zollwächterhäuser beim Hafen von Monte d'Ardizza – nichts blieb ungenannt. Der unglückliche Pilger hatte Bogen vollgeschrieben mit Geständnissen, die dem Fürsten Rucca Gelegenheit zu einem Strafgericht geben sollten. Und nun entstand die Frage: War dies hochwichtige, künftig eine halbe Million sicherstellende Convolut mit Pasqualetto mitgekommen? Wo befand es sich? Man hatte es überall gesucht und es fehlte.
Hier fragte Lucinde, warum sich der Fürst diese Papiere nicht schon früher hätte zuschicken lassen.
Er erwiderte, er mistraute der Post! Wer kann sich auf Eure Post verlassen! sagte er bitter und zornig.
Ceccone entgegnete, indem er sich bekämpfte: Ah bah, die Post! Sie wollten nur noch mehr vom Pasqualetto erfahren, als was dieser wagen würde niederschreiben zu lassen! Deshalb beeilten Sie die Uebersendung nicht!
Lucinde sah, daß es den alten Fürsten mächtig gereizt hatte, gerade die Würdenträger der Kirche, die festen Säulen der Prälatur, einer Aristokratie, die noch immer in ihm den Nachkommen eines Bäckers sah, wenn nicht zu bestrafen oder irgendwie zu compromittiren, doch necken und in Schach halten zu können. Er hatte sicher nicht geglaubt, daß der Räuber diese und ähnliche Namen schriftlich angeben würde. Deshalb hatte er dessen persönliches Erscheinen gewünscht.
Vincente's Stimme erhöhte sich jetzt seltsam. War es deshalb, weil sich die Zahl der Unglücklichen, die in den Händen der Räuber lebten, mehrte und es dem Frevel galt, daß sogar das gesalbte Haupt eines Bischofs in diese blutigen Dinge verwickelt wurde –? . . . Lucinde hörte, daß Grizzifalcone nun hatte kommen wollen. Vorher ließ der Räuber aber noch, zur Mehrung seiner 113 Sicherheit, den Bischof von Macerata verschwinden. Vom Besuch eines Weinbergs, zwischen den Bergen dahinreitend, war der hohe Prälat nicht wieder nach Hause gekommen. Pasqualetto hatte sich seiner versichert, um für ihn als Geißel zu dienen. Im »Diario di Roma« wurde die Schuld dieses Ueberfalls allerdings dem Pasqualetto zugeschrieben; aber wie sehr man versicherte, daß die bewaffnete Macht ausgezogen sei, den gefangenen Prälaten zu befreien, man konnte seiner nicht habhaft werden und wollte es auch nicht – das sagte jedermann und jetzt sagte sich's auch Lucinde. In der officiellen Zeitung stand nichts von diesem geheimen Zusammenhang eines so betrübenden Vorfalls mit einem großen Staatsact der dreifachen Krone.
Nun endlich sichergestellt, erschien Pasqualetto. Vielleicht, um sich noch sicherer zu stellen, raubte er vom Hochzeitsfest des Fürsten Rucca einen der Gäste. Da unterliegt er selbst! Alle Hoffnungen sind dahin! Die Verhandlungen eines Jahres sind gescheitert!
Der Stand der ganzen Frage beruhte jetzt auf dem Leben zweier Gefangenen, von denen der eine ein hoher kirchlicher Würdenträger war, der andere die Kenntniß der Liste hatte. Wäre nur wenigstens diese Liste gerettet! seufzte der Fürst. Die Gerichtspersonen hatten ausgesagt, daß sich, als man die Kleider des Erschossenen untersuchte, in den Taschen Amulete, Muttergottesbilder, geweihte Schaumünzen genug vorgefunden hätten, auch sämmtliche Briefe eines Kochs des Fürsten, der die Correspondenz geführt; aber weder in den Taschen, noch in der Spelunke, wo Pasqualetto abgestiegen war, noch bei gefangenen Complicen fand sich die Liste, auf welche die ganze Sehnsucht des Fürsten brannte. Nun bereuete er, den schriftlichen Verkehr durch die Post nicht vorgezogen zu haben. Nun bereuete er seine gestrige Angst, die ihn bestimmte, so eilends zu entfliehen. Wie bitter deutete er dem Cardinal an, daß dieser die Liste 114 wahrscheinlich gestern sogleich aus der Tasche des Ermordeten zu sich gesteckt hätte.
Es waren nur Blicke und Flüsterworte, durch welche diese und ähnliche Vermuthungen ausgesprochen wurden. Lucinde verstand sie aber. Der Cardinal nannte in allem Ernst den giftig Zischelnden einen Hanswursten und verlangte von ihm – ja von Ihnen, Altezza! rief er – den Bischof von Macerata heraus!
Pater Vincente hatte vom Schicksal des Bischofs mit bebendem Ton gesprochen.
Pasqualetto ist todt! rief Ceccone. Wo finden wir das gesalbte Haupt eines der frommsten Priester der Christenheit wieder –! Sie sind es, Fürst, von dem wir ihn zurückfordern müssen!
Ha! Wo find' ich – die – die von dem Pilger geschriebene Liste! fiel der Fürst nicht minder erzürnt und drohend ein. Der Koller des Zorns ergriff den kleinen Mann zum Schlagtreffen. Wenn er den fremden Franciscanerbruder nicht um seine vorschnelle Art, hier in Rom auf Spitzbuben Pistolen abzuschießen, persönlich mishandelte, wenn er sich durch die Ankunft der Donna Lucinda hindern ließ, die Worte, die er vorhin gesprochen, zu wiederholen: »Ihr hättet eine Zofe wie diese, und wäre es auch Eure spanische Herzogin selbst gewesen, zehnmal sollen zum Teufel fahren lassen –! Wo in aller Welt ergreifen hier Mönche die Waffen!« so war es, weil er wiederholt von Hubertus verlangte, daß dieser seine Uebereilung durch eine That voll Muth, Entschlossenheit, Discretion wieder gut machen sollte.
Hubertus stand erwartungsvoll und im höchsten Grade bereit dazu. »Wie soll ich es?« fragte nur über die nähern Einzelheiten statt seiner die erstaunte Lucinde.
Sie hörte jetzt noch mehr von jenem schreibkundigen Pilger. Hubertus hatte erklärt, diesen Pilger zu kennen. Unfehlbar müsse 115 es derselbe sein, mit dem er über die Apenninen geklettert und zuerst beim Besuch der »heiligen Orte« des St.-Franciscus auf der Penna della Vernia zusammengetroffen war. Das Leben dieses Pilgers hing ohne Zweifel an einem Haar. Falls er noch unter den Räubern geblieben war und sich unter den Zollbedienten die Kunde seiner Beihülfe zum Verrath verbreitete, die Kunde seines vielleicht abschriftlichen Besitzes der Liste, so war er verloren. Hubertus hatte schon so viel von diesem Pilger erzählt, daß Lucinde begreifen konnte, warum Pater Vincente ebenso lebhaft für ihn eingenommen sein konnte und einmal über das andere das Schicksal des armen Gefangenen beklagte.
Lucinde hörte das Gepolter des Fürsten. Sie hörte ein Durcheinander, das sie unmöglich vollständig übersetzen konnte. Die Schilderung der unzugänglichen Schluchten am Meer, wo Pasqualetto zu hausen pflegte; die Schilderung der List und Verschlagenheit, womit man allein sich diesen eigenthümlich organisirten Banden zu nähern vermochte; die Schilderung der Ehren und Auszeichnungen, die den Pilger hier in Rom erwarten sollten, wenn ihn Hubertus glücklich ausfände und über die Gebirge brächte. Sie übersetzte eine wiederholte Aufforderung des Fürsten an Hubertus, die dahin lautete: Reiset nach der Gegend von Porto d'Ascoli! Sucht, da Ihr muthig und unerschrocken seid, das Gefängniß des Bischofs von Macerata und des Pilgers von Loretto! Alle Briefe, die Pasqualetto seit Monaten schon mit mir wechselt, sind von diesem frommen Mann geschrieben worden! Gewiß halten ihn die Räuber zu diesem Behuf in den unwegsamen Höhlen verborgen.
Ceccone ergänzte: Der Bischof von Macerata ist ein Greis – . . .
Der Bischof von Macerata ist ein Greis, sagen Se. Eminenz – fuhr Lucinde fort. Aber mit allen Fähigkeiten der Jugend ausgestattet, setzen Se. Hoheit, den Pilger betreffend, hinzu: Seine 116 Briefe – der Cardinal meinen die Klagen des armen Bischofs – sind gewandt und in jeder Beziehung vollkommen, meinen Se. Hoheit – Beide sprechen zu Euch: Kann eine fromme Seele dulden, daß die Mittel, die den Stellvertreter Christi auf Erden in seiner nothwendigen Würde erhalten sollen, durch Schurken, ungetreue Haushalter, Judasse verkürzt werden? Hätt' ich das Verzeichniß, spricht der Fürst, das dieser Mann unter den Flinte der Räuber schreiben mußte! Oder könnte den Pilger, wenn Ihr ihn findet, Eure Entschlossenheit überreden, Euch die vorzüglichsten Namen zu nennen, die auf diesem Papier zur Schande der Christenheit zu lesen waren! Die Namen von Herzögen und Excellenzen behält man doch wol –! Ich will ihm hier in Rom die glänzendste Wohnung einrichten, will ihn schadlos halten für alles, was er erduldete! Suchtet Ihr den Pilger und – den Bischof, sagen der Cardinal, so würdet Ihr eine Krone mehr im Himmel gewinnen! Ich fahre sofort, sagen Se. Hoheit, nach Santa-Maria und werfe mich dem Pater Campistrano zu Füßen, um Eure Verzeihung, Eure Freiheit zu gewinnen, damit Ihr einen Zweck vollführt, der Euch in jeder Beziehung den Dank der Christenheit erwerben wird –!
Hubertus übersah nunmehr in voller Klarheit das an ihn gestellte schwierige und jedenfalls lebensgefährliche Begehren. Seine Bereitwilligkeit aber, einer so ehrenvollen, wenn auch den Tod – und nicht allein von Räuberhand! – drohenden Aufgabe sich zu unterziehen, gab sich mit der ihm eigenen Liebe zu Abenteuern um so mehr kund, als ihm die Gewißheit innewohnte der Identität des Pilgers mit jenem Deutschen, welchen er trotz seiner Ketzerei auf der Reise nach Rom so liebgewonnen hatte. Zuletzt konnte er hoffen, durch solche Dienste, welche er dem Heiligen Vater leistete, auch für seine Wünsche über die Person Wenzel's von Terschka ins Reine zu kommen. Hatte er erst bei 117 seinem General die Freiheit und vollends die Wanderfreiheit gewonnen, so wollte er unerschrocken seine desfallsigen Wünsche vortragen, noch ehe er die Reise antrat. Das Vertrauen, heil und gesund nach Rom zurückzukehren, besaß er vollauf.
Jetzt ergänzte mit verklärten Augen Pater Vincente seine Mittheilungen. Alles, was Hubertus erzählt und Lucinde übersetzt hatte, traf auf die Erinnerungen zu, welche Pater Vincente vom Bruder Federigo zu Castellungo hatte. Auch Lucinde kannte diesen Deutschen, bei dem sich Porzia Biancchi die Fähigkeit erworben hatte, sich als Müllerin Hedemann in Witoborn mit ihren deutschen Mägden verständlich zu machen. Endlich sprach sogar zu ihrem höchsten Erstaunen der Cardinal: Nun denn, gelobt sei unsere gute Mutter Kirche! Diesem Pasqualetto verdanken wir, wie es scheint, mehr als einen großen Gewinn! Nicht daß ich die Hoffnung hege, Ew. Hoheit in den Stand gesetzt zu sehen, Ihre Klagen über die Diener der Gerechtigkeit und über unsere Subalternen bestätigt zu erhalten – ich würde nur auf die Aussagen eines Räubers am Fuß des Schaffots, nicht auf die Lügen eines Bösewichts etwas geben, der sich mit lächerlichen Hoffnungen schmeichelte, ja noch als Bürgermeister von Ascoli ein Leben der Achtung führen zu können wähnte –; aber darin hat er uns einen großen Gewinn verschafft, daß er den edeln Söhnen des heiligen Dominicus Gelegenheit gibt, eine Beweisführung der Milde zu geben, die sie gegen die Ketzer schon zu lange ausüben! Signora, Sie fragten mich vor kurzem nach den Streitigkeiten des Bischofs von Robillante? Hören Sie nun, was so überraschend eintreffen muß! Wenn der apostolische Eifer des Herrn von Asselyn sein neues Vaterland beschuldigt, daß Ungläubige hier spurlos in den Kerkern der Inquisition verschwinden können – so erleben wir die glänzendste Genugthuung! Frommer Bruder, rettet den Bischof von Macerata! Wagt Euch 118 in die Klüfte, wo diese Räuber hausen! Rettet aber auch den Pilger! Gebt den Beweis, daß dieser Flüchtling, den von uns die sardinische Regierung reclamirt, den die Gesandtschaften Englands, Schwedens, der Niederlande, Preußens in den Händen der Dominicaner vermuthen, in keinem heiligen Inquisitionsofficium, weder sonstwo, noch hier in Rom, festgehalten wird! Er ist gefangen! Von den Räubern! Er muß, auf den Tod bedroht, diesen die Beförderung der öffentlichen Wohlfahrt erleichtern, wodurch ihm Verzeihung werden könnte für die viele Mühe und Sorge, die uns bereits die Nachfragen nach dem Verschollenen nicht blos von Castellungo und Robillante aus, sondern bereits von Turin, London, Berlin und Wien gemacht haben. Fefelotti wird mir, so wenig er es sonst um mich verdient hat, dankbar sein, wenn ich ihm den Beweis an die Hand liefere, daß nichts mehr im Wege steht, sich mit seinem feuerköpfigen Nachbar zu versöhnen! Guter Bruder! Ihr seid von einem Blut, das Euch zu leicht in Euern schönen Kopf steigt! Wandert getrost, wandert immerhin! Leiht unserm Vorschlag eines Eurer drolligen Ohren! Laßt für Euch in Santa-Maria Se. Hoheit jenen Fußfall thun! Euch wird es Segen bringen und einem so vornehmen Mann, wie ihm, kann's auch nicht schaden –!
Ceccone hatte sich lächelnd erhoben und schüttelte Hubertus, dessen Augen vom Feuer seines Unternehmungseifers blitzten, die Hand. Dieser küßte die seinige voll Demuth. Pater Vincente stand aufhorchend und feierlich. Lucinde staunte des Zusammenhangs aller dieser seltsamen Unternehmungen. Nur der alte Rucca zwinkerte mit den Augen und zweifelte – Ceccone schien ihm auf alle Fälle eine doppelte, wahrscheinlich doch nur ihm feindliche Rolle zu spielen.
In diesem Augenblick hörte man in der Ferne das Läuten einer kleinen Handglocke. Das Glöcklein der Benfratellen! sagte 119 der Cardinal. Sie kommen mit der Tragbahre, den zweiten unsrer tapfern deutschen Lanzknechte des Heilands abzuholen! Frater Hubertus, gebt ihm vorläufig das Geleite; grüßt Euern Guardian in San-Pietro und dann – ans Werk! Ihr seid, bei St.-Peter, der rechte Mann für diese Aufgabe, welche ich niemand in Rom so gut wie Euch anzuvertrauen wüßte. Ihr aber, Pater Vincente, wandte sich Ceccone ehrerbietig zu diesem, – die junge Fürstin Rucca hatte gestern das dringendste Verlangen nach Euerm Segen! Ich hoffe, Euer Kloster wird mit dem Thier nicht unzufrieden sein, das, statt Eines Sackes, jetzt deren zwei zu tragen, die frischgefüllt wurden, Euch draußen empfangen soll! Die Zeiten müssen wiederkehren, wo unsere rothen Hüte auf die Stirn von Priestern gedrückt werden, die dem Volk das Schauspiel der Demuth geben. Laßt mir die Ehre, den rothen Zaum von einem meiner Rosse zu nehmen und den Esel zu schmücken, den Eure Hand durch die Straßen Roms führen wird –!
Dies war keine jener südländischen Artigkeiten, denen zufolge der Spanier sein eigenes Haus demjenigen anbietet, welcher die Lage desselben reizend findet; es versteht sich von selbst, daß das Anerbieten abgelehnt wird. Bei Pater Vincente lag in der That eine Bezüglichkeit des Ernstes nahe. Er durfte voll Erröthen und mit Nachdruck die angebotene Auszeichnung ablehnen. Grüßen Sie die junge Fürstin, sprach er leise zum Cardinal, und sagen Sie ihr, daß ich oft für das Heil ihres neuen Bundes beten werde –! Er faltete die Hände. Das Glöcklein der Benfratellen erklang düster und traurig. Vincente's Auge erhob sich, wie von einem sanften Liebesstrahl entzündet. Die beiden so weltlich gesinnten Männer mußten erleben, daß Pater Vincente sie zum Beten zwang. Ecce, Domine, sprach er mit dem Psalmisten in einer eigenthümlich erhöhten Stimmung, tu cognovisti omnia, novissima et antiqua! Quo ibo a Spiritu tuo? Et quo a 120 facie tua fugiam? Si ascendero in coelum, tu illic est! Si descendero in infernum, ades! Vide, si via iniquitatis in me est et deduc me in viam aeternam! Amen –!
Es war ein Gebet ganz wie die Sühne für die sündhafte Weltlichkeit aller dieser Verhandlungen.
Vincente's Augen blieben gehoben wie mit der Bitte, ein Strafgericht des Himmels abzuwenden. Der Geist Bartolomeo's von Saluzzo, der Geist des Filippo Neri schien über ihn gekommen. Sein schöner, weicher Mund betonte scharf die Worte: »Via iniquitatis!« Er richtete damit die Falschheit und Unreinheit dieser Welt und schüttelte fast den Staub von seinen Füßen, als er Hubertus' Hand ergriff und ihn beinahe so fortführte, als würde ihm eine Seele abwendig gemacht, die ihm anvertraut worden.
Bei alledem blieb es entschieden, daß der Fürst wirklich zum General der Franciscaner fuhr und diesen unternehmenden Mönch sich auserbat, der zwar den Grizzifalcone ohne Beichte getödtet hatte, nichtsdestoweniger aber den Muth besaß, noch den Bischof von Macerata und den Pilger von Loretto retten zu wollen. In dem Muth, der zu einer solchen Unternehmung gehörte, lag allein schon die Bürgschaft des Erfolgs. Dem Italiener imponirt jede Kühnheit. Bald mußten über den »Bruder Todtenkopf in der braunen Kutte« Sagen hinausgehen – märchenhaft und wie ein entwaffnender Schrecken.
Ceccone starrte mehr noch dem Pater Vincente. Ist das Papst Sixtus V., der sich als Cardinal so lange unbedeutend stellte, bis er als Papst die Maske abwarf? dachte er. Nun sah er sogar den alten Heuchler, den Fürsten Rucca, beim Abschied an der Villa den Strick des Paters ergreifen, diesen küssen, dann sogar niederknieen, Hubertus und Lucinden gleichfalls, alle um den Segen des begeisterten Sprechers zu empfangen. Diesen Segen 121 ertheilte Pater Vincente denn auch mit dem bekannten verzückten Liebesblick des St.-Franciscus.
Die Jesuiten haben ihren Popanz für den Stuhl der Apostel gefunden! sagte sich Ceccone. Er blickte staunend den beiden Mönchen nach, die sich jetzt empfahlen, begleitet von dem alten, gleich einem Aal sich bis in die Villa windenden Fürsten Rucca. Das Glöcklein der Benfratellen tönte draußen fort und fort.
Miracolo! rief Ceccone Lucinden zu und pries galant die Dienste, die sie geleistet.
Lucinde stand gedankenverloren. Sie sah nun die Gefahren, die den Bischof von Castellungo umgaben.
Der Cardinal konnte sich jetzt nicht weiter aussprechen. Die »Candatarien«, die ihn an eine Sitzung im Vatican und die Anwesenheit seines Secretärs zu erinnern hatten, standen harrend in der Nähe. Er plauderte, wie gleichgültig, von der heutigen Speisestunde im Palazzo Rucca und seufzte über seine Sorgen. Eine »Hochzeitsreise« hatte Olympia abgelehnt. Sie feierte ihren »Lendemain« nach italischer Sitte. Vor hunderttausend Zeugen! Heute Abend sollten zwei Musikchöre die halbe Nacht hindurch am »Pasquino« spielen. Große Feuerbecken beleuchteten dann den Platz. Fässer, mit Reisholz gefüllt, Pechkränze wurden abgebrannt. Der Volksjubel sollte nicht enden.
Der Fürst war in der That schon nach Santa-Maria zum General der Franciscaner gefahren. Die Benfratellen befanden sich im Nebenbau, um den Pater Sebastus zu holen. Pater Vincente leitete das bequemere Heraustragen. Hubertus suchte noch einen Moment Lucinden beizukommen, der sich eben der Bischof von Camuzzi genähert hatte.
Lucinde verbeugte sich ausweichend dem Priester, der sie gestern eine »Creolin« genannt, und versicherte Hubertus, soweit es in 122 der Eile ging, daß er sich aus seiner Haft als entlassen betrachten dürfte. Darum gab sie aber doch den Brief an Bonaventura nicht zurück. Eine Gelegenheit, sich dem Bischof in Erinnerung zu bringen, behielt sie fest. Und konnte sie ihm doch auch jetzt Aufklärungen und Warnungen über den Bruder Federigo schreiben. Sie forderte Hubertus auf, sie erst noch im Palazzo Rucca zu besuchen, wenn er wirklich den Bischof von Macerata und den Pilger entdecken und befreien gehen wollte. Ihr unternehmt das Erschreckendste und doch thut Ihr beinahe, als rieth ich in Witoborn gut, als ich damals sagte: Flieht in einen hohlen Baumstamm? fragte sie lächelnd.
Hubertus, der unruhige Waldbruder, hätte die endlich errungene Freiheit des Wanderns und des Lebens wieder in freier Luft laut ausjubeln mögen. Ohne die mindeste Furcht zu zeigen, bejahte er die Frage und zeigte nur traurig auf den verdeckten Tragkorb, den eben die schwarzen Söhne des heiligen »Johannes von Gott« aus dem Hause brachten.
Lucinde zuckte bedauernd die Achseln und neigte sich auch diesen Mönchen.
Der Cardinal fuhr inzwischen in seinem Wagen mit den weißen, purpurgeschirrten Rossen zur Porta Laterana hin. Die »Candatarien« fuhren in einem zweiten Wagen hinterher. In einem dritten mußte Monsignore Camuzzi, Bischof in partibus, der erste Secretär des Cardinals, folgen.
Lucinde wartete, bis das Glöcklein der Benfratellen verklungen war. Hinter dem verdeckten Korbe, der ebenso eilends dahingetragen wurde, wie Klingsohr in letzter Nacht die Leiche hatte tragen sehen, trottete der vorher erwähnte, von Ceccone's Majorduomo besorgte Esel mit den zwei übermächtig, gewiß das Kloster versöhnenden, gefüllten Säcken. Pater Vincente schritt mit demüthig gesenktem Haupt und hielt den Esel an einem einfachen Zügel. 123 Hubertus hatte einen Jasminblütenzweig am Portal der Villa gebrochen und wehrte damit, gedankenvoll in sich selbst verloren, dem Thier die Fliegen ab.
Nun setzte Lucinde sich in ihren Wagen und fuhr mit blitzschneller Eile an dem unheimlichen Tragkorb und dem Esel vorüber. Unter dem weißen ausgespannten Leintuch des Korbes lag Klingsohr –! Sie schauderte – als sie im Vorüberfahren wie auf ein Leichentuch blicken zu müssen glaubte.
Der Wagen fuhr am Coliseum vorüber, durch den Bogen des Titus, die Basilika entlang. Der Kutscher ließ das Capitol links und lenkte zur Säule des Trajan. Lucinde lebte innenwärts. Sie merkte nicht, daß sie schon an Piazza Sciarra, dicht in der Nähe des »Schatzes der guten Werke« war. Hier hielt der Wagen.
Der Kutscher blickte sich fragend um, ob sie nicht zur Herzogin von Amarillas wollte, die hier wohnte. Sie winkte: Weiter! Weiter! Sie mußte zu Olympien. Die höchste Zeit war es, diese – nach ihrer Brautnacht zu begrüßen! Sie durfte nicht fehlen zur Chocolade, die heute das junge Paar allen Gästen, die ihre Aufwartung machten und die Neuverbundenen mit lächelnder Zweideutigkeit nach ihrem Befinden fragten, nach römischer Sitte in goldenen und silbernen Tassen mit eigener Hand zu credenzen hatte.