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Zur selbigen goldenen Morgenfrühe saßen Onkel und Neffe in dem traulichen, dufterfüllten Studirzimmer des Dechanten beim Frühstück. Nach der löblichen Sitte katholischer Geistlichen wandelten sie nicht etwa noch in Schlafröcken und Pantoffeln, sondern waren schon ganz in ihren üblichen schwarzen Kleidern.
Nun erst, an der Morgensonne, nahmen sich die grünen Decken und seidenen Vorhänge über den Büchergestellen, Bildern und Alabasterstatuetten, die schön eingebundenen Kupferstichsammlungen, französischen Ganzfranzbände mit dem Wappen der Asselyns besonders freundlich und vornehm aus. Nichts sah vergilbt, verblaßt aus. Die vielen Bekanntschaften, die der Dechant in der Nähe und Ferne sorglichst pflegte, hielten alles jung und der heitersten Gegenwart angehörig.
Schon längst war zwischen Oheim und Neffen über ihr verschiedenartiges Verhalten zu ihrem gemeinschaftlichen Beruf ein Abkommen getroffen. Bonaventura liebte den Oheim wie seinen Vater. Er konnte noch jetzt, wie einst als Kind, die weiße, wohlgepflegte Hand des Greises an seine Lippen ziehen: so zärtlich empfand er für ihn. Sammelt sich doch ohnehin der gestaute Schatz von Liebe im Herzen eines katholischen Priesters und muß irgendwie und irgendwo hinausströmen, um das übervolle Herz nicht zu zersprengen!
56 In Bonaventura war dieses Bett seiner Empfindungen die Kirche, sein Beruf, seine Heerde. Und doch konnte er den Dechanten seinen weisen, menschenfreundlichen, lieben Philosophen nennen und der Dechant wieder nannte ihn seinen Heiligen, seinen künftigen Franz von Sales oder Carlo Borromeo und decretirte ihm, wie Paula, die Seherin, noch einst die Mitra eines Erzbischofs, den Purpur eines Cardinals.
Von dem Liebesdienste, den ihm gestern in so später Stunde, gleich nach seiner nicht mehr erwarteten Ankunft, Bonaventura abgenommen, wurde nicht viel gesprochen. Das Kommen und Gehen der Menschen, Geburt, Leben und Tod ist die tägliche Erfahrung dieser Männer, wie beim Arzt das Befinden seiner Patienten. Dennoch blickte der Dechant düster und mit schmerzlicher Miene in den sonnenhellen Morgen, in die geöffneten Fenster, die grüne Linde und das Hüpfen der gezähmten und an die Brosamen des Frühstücks gewöhnten Vögel. Diese wagten sich heute – vor zwei Bewohnern – nicht ins Zimmer. Aber Bonaventura war eben im Begriff, mit einem Körnchen weißen Brotes einen der Spatzen zu überzeugen, daß sich durch ihn hier nichts geändert hätte, daß jeder Hungerige getrost kommen könnte auf den Frühstückstisch, wo in altem geschnörkelten Porzellan Chocolade servirt wurde, die dem Dechanten, wie er behauptete, das Blut erwärmte und ihm mehr Lebensstimmung gäbe, als der nach seiner Meinung die Melancholie nährende Kaffee.
Er bereitete sich diese Chocolade, auch nachdem er die Messe gelesen – das Messelesen selbst mußte nüchtern geschehen – mit eigener Hand. Windhack brachte dann siedendes Wasser, das auf einer Theemaschine im Kochen erhalten wurde. In ein kleines Gefäß wurde das Wasser durch einen Hahn abgelassen und während es langsam strömte, mußten die dünnen Scheibchen der Chocolade, die der Dechant dem Strahl entgegenhielt, schmelzen. 57 Nach jedem geschmolzenen Stücke quirlte er die gewonnene Auflösung, die er so oft mit neuen Täfelchen wiederholte, bis sein Geschmack getroffen war. Er behauptete, diese Art der Chocoladebereitung wäre die einzig richtige. Er hätte sie von seinem Bruder Max, Benno's Adoptivvater, gelernt, als dieser von Napoleon's in Spanien kämpfender Armee verwundet zurückkehrte und damals gen Borkenhagen, wo er zum Besten der ganzen Familie Landwirth werden wollte, ein Knäblein von wenigen Monaten mitbrachte, unsern Benno, der indessen dem Haarrauch acclimatisirt und der ganzen Familie längst wie ein wirklicher Blutsangehöriger war.
Die heute so düstere Miene des Dechanten galt zuvörderst dem Mismuth wegen der abendlichen Enthüllungen über Lucinden. Noch wußte er nichts von dem nächtlichen Vorfall und der bereits schon definitiv erfolgten Kündigung. Bonaventura gab Lucinden sogar das Zeugniß, daß sie dem Onkel eine anregende, originelle, wenn auch die Menschen etwas wirr durcheinander hetzende Unterhaltung werden könnte. Da wird nichts helfen! sagte der Dechant. Ihre Erscheinung ruft bei uns Erinnerungen wach, die wir fern halten müssen! – Bonaventura wußte, wie wenig gern der Dechant an Schloß Neuhof erinnert wurde – Doch hielt er Lucindens Bleiben für so entschieden noch nicht gefährdet, als es sich bald herausstellte.
Dann hatten auf den Onkel sehr aufregend die Briefe gewirkt, die Angelika Müller durch Benno und Hedemann geschickt hatte und die letzterer schon gestern Nachmittag abgegeben. Von Benno konnte man noch immer nichts sehen und hören. Er war zum Manöver weit vors Thor hinausgerückt.
Endlich aber und vorzugsweise galt die düstere Stimmung einigen auf einem Nebentische ausgebreiteten wunderlichen Gegenständen, die im ersten Augenblick vielleicht einem Eintretenden 58 nicht einmal auffielen, da sie den allgemeinen Nippcharakter des ganzen Mobiliars trugen. Auf dem Tischchen, einem jener zierlichen von Mahagoni, die zu den kleinen Spielpartieen in der Dechanei gebraucht wurden, lagen eine zerbrochene goldene Uhr, ein Gemshorn, ein grüner Schleier, eine Spielhahnfeder, ein Klappmesser mit vielen eingeschlagenen Klingen und ähnliche Gegenstände von verwittertem und verrostetem Aussehen. Es waren die Sachen, die man in dem Sarg des alten Mevissen gefunden hatte. Warum hatte der Alte diese Dinge gehütet? Warum hatte Mevissen, der in seinem eigengezimmerten Sarge schlief, eine so große Furcht vor ihrer Entdeckung? Wie hing, da Bonaventura sehr bald auf der Uhr und einem Namenszuge des Messers erkannte, daß diese Gegenstände seinem Vater gehört hatten, ein dem Werthe nach so unbedeutender Besitz zusammen mit der Furcht des alten Begleiters seines Vaters, daß sie durch seinen Tod in andere Hände gelangen könnten? Warum hatte er, wenn er diese Gegenstände der Welt und ihrem Verkehr entziehen wollte, sie nicht vernichtet? Die Uhr, das Gemshorn, das Messer ließen sich vielleicht nicht so leicht zerstören; was aber sollte noch die Aufbewahrung des grünen Schleiers und der Spielhahnfeder?
Die Unfähigkeit, sich alle diese Fragen zu beantworten, beunruhigte auch Bonaventura so sehr, daß er wegen dieser theuern Reliquien zu seinem Oheim gereist war. Der Dechant freilich sagte, als er soeben mit Rührung diese Erinnerungen an seinen Bruder Fritz gemustert hatte, er wisse wohl, wie diese Gegenstände mit dem unglücklichen Ende desselben in Verbindung zu bringen wären. Er könne nur nicht erklären, warum der Diener, dessen Anhänglichkeit und Treue eine seltene und erprobte war, auf diese Andenken einen so auffallenden Werth gelegt hätte. Ja, fuhr Bonaventura fort, wie konnten diese Dinge 59 damals bei dem theuern Todten selbst fehlen, da Sie doch, wie ich hörte, so manche andere Andenken bei ihm fanden, den Trauring meiner Mutter, das Portefeuille mit seinem letzten Willen, die Wäsche, die er in einem Reisesack trug, als er durch das Val de Bagne über den St.-Bernhard nach Aosta wollte, sogar die Schaumünzen, die er noch gefunden in der sogenannten Jupitersebene? Wie ist überhaupt der Tod meines Vaters verbürgt! Begruben Sie ihn selbst? Ich zweifle jetzt an allem!
Bona! rief der Dechant verweisend.
Stand Ihnen denn Mevissen zur Seite, als Sie doch wol eine Untersuchung über den Tod des Vaters anstellten?
Mevissen war ja mein Führer bis St.-Remy, wo der Verunglückte zur Ruhe bestattet liegt!
Ließen Sie nicht den Sarg öffnen? Nie haben Sie mir, nie der Mutter, nie dem Stiefvater erzählen mögen, wie alles beim Ableben des Vaters herging!
Was sollt' ich vor eure Seelen diese Bilder des Schreckens führen!
Meine Aeltern liebten sich nicht!
Doch! Doch! . . . Aber ich will dir erzählen, was ich nicht gern meiner Erinnerung vorführe. Ich war in Wien, lieber Sohn, und recht wie um mich zu strafen für meinen heitern Genuß dieser Stadt, erhielt ich dort die Mittheilung, von deinem Vater hätte man seit Wochen keine Nachricht und fürchte ein Unglück. Im ersten Augenblicke glaubte man –
An Selbstmord?
Es ließ sich daran denken –
Wegen meiner Mutter –!
Bona, gib diesen Vorstellungen nicht ohne prüfende Gerechtigkeit Raum! Deine Mutter lebt noch und liebt dich! Mevissen hatte bereits nach dem Orte geschrieben, wo deine Mutter während 60 der Reise deines Vaters verweilte! Von dort erhielt ich die Nachricht, daß man seine Spur verloren. Er hatte von Genf Abschied genommen, um durch die Walliser Alpen eine Fußwanderung anzutreten, die er ohne Begleitung seines Dieners machen wollte. Wochen waren vergangen, seit Mevissen nichts mehr von ihm erfuhr. Endlich währte dem Diener das Ausbleiben seines Herrn zu lange. Er stellte Erkundigungen bis auf den Weg zum Simplon an und bis nach Martigny. Leider vergebens. Jede Spur schien nach diesen Richtungen hin verloren. Als ich dann mit einer Eile, wie sie nur irgend in der damaligen langsamen Communication möglich war, in Genf ankam, hört' ich schon, daß seine Spur aus dem anderm Uebergange nach Italien, der von Martigny über den großen St.-Bernhard führt, entdeckt worden war, aber auch, daß sie zu dem sichern Ergebniß seines Todes geführt hatte. Mevissen befand sich auf dem Hospiz der Augustinermönche; ich reiste ihm nach. Dein Vater, mein edler Bruder, war von einem Schneewetter überfallen, verschüttet, in einen Abgrund gesunken und elend erfroren. So oft der Gleichschritt im gewöhnlichen Dasein mir die Bequemlichkeit als eine zu unverdiente Gnade des Himmels erscheinen läßt, muß ich dieser Tage gedenken und – – des Anblicks, wie ich meinen theuern Bruder wiedersah!
Sie – sahen ihn wieder?
Allerdings!
Sie fanden ihn nicht schon bestattet?
Ich hatte den Genfersee hinter mir und fuhr an den immer mehr sich verengenden Ufern der Rhone nach Martigny, wo mir Mevissen, er selbst ein Bild des Todes, entgegenkam. Von dort nimmt man Saumrosse; aber mein Gemüth war zu erschüttert, ich legte mir die Wanderung zu Fuß auf. Sie führte durch gesprengte Felsen, an uralten, noch aus der Römerzeit 61 herausragenden Mauern vorüber, durch das Geröll der Betten wilder Berggewässer, armselige Dörfer, immer höher empor zu jenem Paß. wo Napoleon 1800 die Fußtapfen der alten Cäsaren im ewigen Schnee wiederfinden wollte. Tief in Schluchten, in welche der Blick mit grausendem Schwindel sich verliert, weiden die Heerden der Rinder zwischen den Ausläufern der Gletscher. Hier schon befindet man sich auf einer Höhe von 7–9000 Fuß und erblickt dicht neben und über sich in den Felsenriffen die Spuren des sprengenden Frostes und der wenigen im Frühjahr schmelzenden langen Schneegehänge. Ich reiste im Juni und doch wurden die weißen Todtenfelder immer unabsehbarer, die Ausblicke öder und kahler. Die Führer erzählten von einem Fremden, welcher allein und ohne Warnung anzunehmen vor zwei Monaten den Paß hätte ersteigen wollen. Da hätte plötzlich niederfallender Schnee die Wege verschüttet und den Wanderer auf eine falsche Fährte geführt. Den Unglücklichen, den ich eben sehen sollte, hätte man auf einem vom Wege abgelegenen Felsenzacken gefunden, dicht an einem unermeßlichen Niedersturz –
Sie sahen den Vater –!
Ja – ich sah ihn in jener grauenvollen Morgue, die oft auf viele Jahre die Leichen der auf dem St.-Bernhard gefundenen Verunglückten zur Wiedererkennung durch ihre Angehörigen aufbewahrt! Gräßliche Erinnerung! Eine Stunde vom Hospiz entfernt liegt ein kleines Gebäude, ausgesetzt dem schärfsten Zuge der Eisesluft, die das Défilé de Marengo durchstreift. Einer der Augustiner stand schon mit dem Schlüssel an der Pforte des Todtengewölbes und begrüßte mich. Ein und derselbe Glaube, ein und derselbe Beruf, und doch wie verschiedenartig unsere Pflichten! Auch ich ein Priester und ich kam aus Wien, mit goldenen Ringen an den Fingern, mit zierlichen Billets in der Brieftasche, die mich zu einem Diner, dort zu einer 62 Soirée eingeladen hatten, noch schwirrten mir im Ohre die Opern der Italiener, die im Kärntnerthor ihre Stagione hielten, und vor mir stand jetzt trotz der Kälte im leichten Chorherrenrock ein Priester von nicht viel über dreißig Jahren – neben ihm sein Begleiter, ein ihm mit dem Kopf bis an die Hüften reichender Hund, dessen gewaltige Muskeln, aufmerkende hohe Ohren, furchtbare Lefzen und Tatzen in einem rührenden Contrast zu dem Körbchen mit Lebensmitteln und dem ledernen weingefüllten Schlauche standen, die an seinem zottigen Halse befestigt waren. In französischer Sprache begrüßte mich der Chorherr und bedauerte die Veranlassung, bei welcher zwei Priester so ihre Bekanntschaft machten. Eine niederwärts führende Thür schloß er auf und wir standen in einem Gewölbe, das die erhitzteste Phantasie nicht grauenvoller sich ausmalen kann. Rings an den Wänden Gerippe an Gerippe, und nicht etwa nur völlig versehrte, nicht etwa nur Reste, sondern wohlerhaltene Körper, wie sie gerade die Eisesluft, die durch die offenen, correspondirenden Fenster zieht, an gänzlicher Verwesung verhindert. Niemand wird hier begraben, dessen Identität nicht im Laufe einer Reihe von Jahren festgestellt ist. So standen dort Gestalten schon zwanzig Jahre an die Wand gelehnt! Vor ihnen lagen auf einem Tisch ihre Kleider und die sonstigen Gegenstände, die sie bei sich getragen hatten. Der letzte in der Reihe war – ja! es war mein unglücklicher Bruder, dein theurer Vater – Ich sah ihn! Vor mir! Todt! Von einem Sturz von der Felsenkante, wo man ihn fand, war das Haupt zerschmettert und hing, fast schon nur in Knochen, hernieder! Im übrigen war es sein lieber, edler Eindruck! Da lagen die Kleider, die ich nur zu gut kannte, da lag das Portefeuille, das ich an mich nahm, da lag noch sein Geldbeutel mit dreißig Napoleons und etwas kleiner Münze und einigen römischen Münzen, wie man sie in diesen Gegenden 63 oft findet, ein Plan der Schweiz, ein Fernrohr, Billets zur Ueberfahrt über den Genfersee, einiges weißes Brot, wie noch eben abgebrochen, eine Korbflasche mit Kirschengeist, Handschuhe, Tragbänder, der Trauring deiner Mutter – alles – alles. Die Träger bürdeten es sich dann mit der Leiche auf. Ich stieg mit dem Mönch zum Hospiz empor. Dort blieb die Leiche so lange in der Kapelle, bis man sie auf meinen Wunsch nach der südlichen, italienischen Seite zu, über dem Orte St.-Remy beerdigte.
Der Dechant schwieg. Nie hatte er diese Schilderung so genau gegeben. Nur einmal vor den Gerichten und einmal – vor dem jetzigen Kirchenfürsten, als dieser noch die Geschäfte eines Generalvicars verwaltete und die Heirath der Witwe beanstanden wollte.
Der Trauring meiner Mutter! wiederholte Bonaventura schmerzlich. In ihm liegt – die ganze Lebensfrage unserer Kirche!
Das ist ein Abgrund, mein Sohn, wie auch unsere Ehelosigkeit – sagte der Greis. Das laß alles ruhen!
Beide Priester schwiegen – In diesem Schweigen lag der Schauer zweier Jahrtausende. Es verging so eine Weile – –
So also war es! begann aufs neue Bonaventura mit schmerzlichem Tone. Und doch wie ist es möglich, daß diese Gegenstände, die dort vor uns liegen, damals auf dem St.-Bernhard fehlten? Warum hat sie Mevissen ohne Ihr Wissen an sich genommen? Warum nahm er sie mit ins Grab?
Der Dechant schwieg – Ich weiß es nicht, sagte er dann tiefnachdenklich.
Mevissen wohnte allen diesen Vorgängen bei, die Sie schilderten?
In aufrichtigster Trauer! Oben auf dem Hospiz legten wir alles zusammen, was deiner Mutter zu übersenden war. Diese Gegenstände dort fehlten, das weiß ich genau. Da das Geld 64 unangerührt war, gedachten wir nicht der Uhr. Die Spielhahnfeder ist ein Hutschmuck der Alpengegenden. Das Gemshorn saß ohne Zweifel als Griff an einem Alpenstock. Der grüne Schleier ist eine Schutzwehr des Auges gegen die blendende Wirkung des Schnees. Gewiß! Damals sah ich diese Dinge nicht und ich begreife nicht den Werth, den Mevissen in solchem Grade darauf legte, daß er sie heimlich so lange bewahrte! Er war so ehrlich und so treu – Ich erkundigte mich später in Genf; ich hatte die sichersten Beweise, daß diese einsame Alpenwanderung deines Vaters, während Mevissen allein im Gasthofe zur Balance zurückbleiben mußte, ihn mit einer durch den Erfolg nur zu sehr gerechtfertigten Unruhe erfüllte. Die Beerdigung in St.-Remy vollzog er ganz mit der Standhaftigkeit, zu der ich mich nicht aufschwingen konnte. Ich saß erschöpft im Refectorium des Hospizes und schilderte den kindlichen Mönchen die Tugenden des Verblichenen. Wie hätt' ich sie erfreut, wenn ich ihnen schon damals hätte sagen können, daß des Unglücklichen Sohn in den geistlichen Stand treten würde! Bewundern mußte ich diese Männer, die über siebentausend Fuß über dem Meere wohnen, fünfzehn Jahre hier zu verweilen verpflichtet sind und selten, wenn sie auch mit zwanzig Jahren schon vom Bischof zu Sitten hierher entsendet werden, ihr fünfunddreißigstes Jahr erreichen. So wüthen die Stürme, so dorrt der Frost die Glieder aus, so verbraucht die tägliche Anstrengung, die es kostet, nur allein die nächsten Bedürfnisse auf diese Höhe zu bringen, nur allein Holz und Wasser! So oft ich jene vermessenen Reden unserer Geistlichkeit höre, Reden, wie ich sie noch gestern wieder vernehmen mußte, möcht' ich doch aufstehen, eine Schilderung des Lebens der Augustinerchorherren auf dem St.-Bernhard geben und rufen: Hic Rhodus! Hic salta! Da zeigt euern Heldenmuth!
Bonaventura schüttelte sein Haupt, hob sein braunes Auge 65 wie verklärt und erwiderte: Nein, Oheim! Was ist es denn, was diesen Menschen dort oben selbst den Schnee so rosig erglühen läßt, daß sie ihn auch ohne die Sonne wie nur in Purpur getaucht zu erblicken glauben! Es ist die himmlische Sonne, die sie bescheint, die moralische! Sie fühlen sich in einer großen Gemeinschaft, der zu Liebe diese Opfer gebracht werden! Laßt doch diese Priester der Ebene vermessen reden und sich ihrer Rechte und Pflichten rühmen! Würde nicht schon in der Ebene dieser Geist der Hingebung gepflegt, allmählich auferzogen, allmählich herangebildet, wie könnte er in die Berge steigen! Nein! Auf Grund einer einzelnen zufälligen Entschließung des edeln Herzens hier und dort ist es nicht möglich, jene jungen Männer dort oben wohnen, wirken, früh dahinwelken zu lassen! Sie würden vielleicht zuweilen in größerer Anzahl sich einstellen, als nöthig ist; öfter aber auch würden sie ganz fehlen. So muß es eine Pflanzschule dieses Geistes der Aufopferung geben, irgendeine magische Zauberformel muß sie alle halten und regieren. An dem Muth, dort bei den Gerippen und im Schnee des St.-Bernhard auszuhalten, arbeitet der streitende Geist derer hier unten mit! Das ist das Geheimnißvolle in unserer Kirche, daß sie ein Zusammenwirken tausendfacher Kräfte ist und daß sie wunderbar durch die Formen ersetzt, was an den Personen sich heute findet, morgen nicht. Unsere Kirche befreit den Geist von den Launen des Zufalls, den Launen der Natur! Daß das so wenig verstanden wird!
Unsere Methode ist groß! räumte der Dechant ein; seufzend aber setzte er hinzu: Soviel Schönes, soviel Erhabenes in unserer Kirche, so vieles, was den poetischen Menschen in uns mit den tiefsten Ahnungen und Schauern durchrieselt – wenn nur so vieles andere, was dem Menschengeiste von unsterblichem und göttlichem Werthe sein darf und sein muß, nicht zugleich in ihr verloren ginge!
66 Dies Thema trennte dann beide, wie immer.
Ein räthselhaftes Gefühl drängte den Dechanten, während der entstehenden Pause seinem Schreibtisch zuzulangen, als müßte er Bonaventura jenen Brief von unbekannter Hand mittheilen, jene Aufforderung, im Jahre 18** am Tage des heiligen Bernhard von Clairvaux unter den Eichen von Castellungo sich zu einem Concil der Befreiung einzufinden –
Doch er erblickte unter den Papieren zunächst nur den Brief Angelika Müller's mit den Einlagen. Auch dessen Inhalt erlaubte es, bei dem Gegenstande zu verweilen, den Bonaventura die Grundlage der katholischen Kirche genannt hatte. Der Dechant war der Meinung, daß die katholische Kirche nicht zu ihrem Vortheil die Ehe zu einem Sakrament erhoben hat. Wo die persönliche Freiheit so beschränkt wäre, daß man sein Lebtag im Joche einer einmal verfehlten Wahl hinsiechen müsse, da könne der Segen Gottes nimmermehr weilen! Er sprach dies auch jetzt wieder aus, mit Rücksicht auf die Briefe, die er entfaltete.
Bonaventura unterbrach ihn aber schon. Nein, Onkel, sagte er, es gibt keine Religion, die nicht bindet! Schon in dem Namen liegt's! Haben die Völker nicht im Einen ein höheres Gesetz, so haben sie es im Andern! Was ist nicht alles den Juden, was den Türken untersagt! Ja, die katholische Kirche hat sich das Schwerste auferlegt! Das ist wahr – aber darin liegt gerade ihr Muth, liegt –
Ihre Verwegenheit! warf der Dechant dazwischen und fuhr in der That aufgeregter als sonst fort: Gelten lass' ich Reinigungen und Fasten! Es ist gut, daß der Mensch sich oft und regelmäßig die Schranke vorführe, die ihn von der Thierwelt ebenso wie von einem übermäßigen Gebrauch seiner Freiheit trennt! Aber die Ehe! Eine Verklärung der Schöpfung mag sie sein, 67 eine Stütze der Civilisation; aber die Ehe an Gesetze zu binden, die wenn nicht die Natur – die man schon leider ganz aufgeben muß! – doch die Liebe ausschließlich vorgeschrieben hat, das rächt sich an der Sitte, an der – Sittlichkeit! Es wird sich an der Kirche rächen!
In solchen Augenblicken der Erregung des Greises widersprach Bonaventura nicht. Dann lag auch ein so stolzer, hoher Ausdruck in des Dechanten Blicken, die schlanke, noch ungebeugte Gestalt wuchs noch mehr in die Höhe, die gewohnte Indolenz schwand so ganz, daß der Oheim etwas von einem Staatsmann oder einem weisen Gesetzgeber zu bekommen schien und denjenigen, der ihm widersprach, geradezu unreif erscheinen ließ. Habe nur meine Erfahrung! sagte er. Man sieht nur nicht diese Nachtheile einer scheinbaren Wahrheit und einer so großen Lüge! Sie liegen – dank der furchtbaren Organisation, die in unserer Welt die polizeiliche Ordnung hat! – nicht so offen! Aber sie sind da, in dem Grade da, daß es mir oft, wenn ich mich in unserer katholischen Welt umsehe, vorkommt, als sähe man die alten Verließe der Burgen wieder, wo die Gebeine der Geopferten modern, sähe in die Kerker der alten Klöster, die die Folgen der Zuchtlosigkeit vergruben. Doch – laß es jetzt genug sein!
Und gleichsam als wenn die Erinnerung einer ganzen schweren Vergangenheit über ihn käme, so zitterte er und brach nun ab. Wie um sich zu besänftigen, nahm er die Briefe und sagte: Gehst du zum Weinberg des Obersten von Hülleshoven hinüber, so weiß ich nicht, sollst du dem Obersten diese Briefe mitnehmen oder nicht? Er erzählte, daß sie ihm von Armgart von Hülleshoven zugekommen wären.
Bonaventura wollte zeitig in seine Pfarre zurück. Benno's habhaft zu werden konnte er nicht hoffen; nur auf dem Amte 68 galt es noch eine Anzeige über den Leichenraub zu machen. Dem Obersten stand er ferne. Es war ein Sonderling, der gegen die Welt etwas Schroffes, ja Ablehnendes angenommen hatte.
Die Briefe beziehen sich, sagte der Dechant, auf Dinge, die ich nicht gern mit dem Obersten erörtere.
Bonaventura kannte die Personen und Verhältnisse. Er wußte, daß Armgart von Hülleshoven in dem Glauben erzogen worden, eine Waise zu sein. Er wußte, daß sie seit noch nicht lange erst erfahren hatte, daß ihre beiden Aeltern lebten und getrennt lebten.
Als Bonaventura die beiden zierlich zusammengelegten Briefe sah, auf deren einem mit sauberer Hand geschrieben stand:, »An meinen Vater!« auf dem andern: »An meine Mutter!« sagte er: Sie spricht doch wol ihr Glück aus, jetzt plötzlich diese Schätze gefunden zu haben?
Im Gegentheil! erwiderte der Dechant. Als ich die Briefe empfing, wußt' ich nicht, ob ich über sie lachen oder mich ärgern sollte. In Wahrheit war ich von ihnen gerührt, um so mehr, da auch die Mutter mir aus Wien geschrieben hat, wo sie endlich das Kloster verließ, wo sie meistentheils seither lebte. Beide Aeltern machen auf ihr Kind Ansprüche und jetzt um so lebhafter, seitdem sie um diesen Besitz wieder in den alten eifersüchtigen Streit gerathen sind. Die Mutter will sogar binnen kurzem hier in die Gegend kommen, was ich dich bitte, um Aufreizungen zu vermeiden, dem Obersten zu verschweigen.
Bonaventura hätte sich gern dem Auftrage entzogen. Doch las er, da der Dechant es wünschte, den einen der offenen Briefe Armgart's. »Mein Vater!« schrieb Armgart von Hülleshoven. »Wie die heilige Margarita betete, so wiederhole ich: ›Mein Herr und Gott, bewahre unser Herz in Reinigkeit, unser Leben in Unschuld und jede Begierde, jede Meinung, jede Handlung unsers Lebens in reinster Wahrheit!‹ Daß ich dich einst nennen 69 werde: Mein einziggeliebter Vater! wird die Folge der Erkenntniß deiner hohen Tugenden sein. Die Heiligen mögen mir bezeugen, ich habe ein Herz, so voll der himmlischen Liebesflammen, daß ich dich mit Innigkeit umarmen könnte, wenn ich nicht wüßte, daß ich auch eine Mutter habe. Auch sie darf ich, wenn ich wahr sein will, nicht begrüßen, wie es Kindern ziemt, ihre Aeltern nach langer Trennung zu begrüßen. Würd' ich aber, wenn ich zu dir mit ausgebreiteten Armen flöge, nicht die Mutter betrüben? Würd' ich nicht den Schein annehmen, als bevorzugte mein Herz bereits das Eine von euch? Würd' ich nicht ein Urtheil zu sprechen scheinen, das doch ferne von mir liegt? Ach, ich beschwöre euch! Kommt, liebevereint, beide – und ruft mich an euer ausgesöhntes Herz! Laßt mich zu euch beiden zu gleicher Stunde emporblicken! Laßt mich reuevoll und in ewiger Liebe vor euch beiden niedersinken und mit einem einzigen glückseligen Worte mich nennen euer einziges und treues Kind, Armgart von Hülleshoven.«
Und der Mutter?
Schreibt sie wörtlich dasselbe! sagte lächelnd der Dechant.
Bonaventura überflog den Brief, den der Dechant nach Wien schicken sollte. In dem einen Briefe waren nicht mehr Worte und Buchstaben als im andern. An den Pünktchen da, sagte der Dechant, seh' ich, wie sie gezählt hat, ob auch keiner mehr Buchstaben bekommen hat als der andere!
Oder weniger! bestätigte Bonaventura gerührt. Ein Kind will sich zum Preis der Aussöhnung seiner Aeltern machen! Sollten diese beide nun nicht wirklich, um vor ihrem Kinde nicht beschämt zu stehen, ihren Haß und Groll fahren lassen? Bleibt der kleine Genius des Friedens nur fest in seiner Weigerung, so mein' ich, müßte eine Eifersucht entbrennen zwischen Vater und Mutter, die zum Guten führt! Und nennen Sie nun das 70 Sakrament der Ehe noch den großen wunden Schaden unserer Kirche, wenn es solche Opfer möglich macht? Die kleine Armgart handelt – ich muß es so nennen – katholisch!
»Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dein Lob zugerichtet!« sprach kopfschüttelnd der Dechant ironisch und erhob sich, um Bonaventura das Geleit zu geben und nach Windhack zu klingeln.
Nachdem sie beide die Reliquien aus dem Sarge zusammengelegt und in einer Tasche, die zu Bonaventura's Reiseeffecten gehörte, geborgen hatten; nachdem der Dechant auf die von ihm ausgesprochene Erwartung, der Neffe würde wenigstens doch noch zum Mittagessen dasein, eine ablehnende Antwort erhalten hatte – den Pfarrer zog es in seine Gemeinde zurück und – Lucinde verscheuchte ihn –; standen beide schon an der Thür, Bonaventura, um auf den Weinberg des Obersten zu gehen, der Dechant, um in der Stadt die diese Nacht mutterlos gewordenen Waisen mit Geldmitteln zu versehen.
Eben sagte er: Tröste Witwen und Waisen, wie du heute Nacht gethan hast, theile, wenn du ihnen nichts Besseres geben kannst, Heiligenbilder an sie aus: nur um Eines bitt' ich dich, Bona, um Eines –
Zwei Thüren gingen in diesem Augenblick zu gleicher Zeit auf. Windhack trat ein und wollte eine Meldung an Bonaventura bringen. Herr Pfarrer! sagte er eilends. Aber auch Frau von Gülpen war von nebenan erschienen und machte einen Eindruck, welcher jedem, der sie nur ansah, die Sprache rauben konnte. Zwar war ihre Toilette schon in schönster Ordnung, Windhack's gewellter Scheitel saß schon kunstvoll unter der buntbebänderten Spitzenhaube und doch kam sie wie eine halb Bewußtlose. Das Eine ihrer Augen war Entrüstung, das andere Schrecken, die Nase Zorn, die Oberlippe Staunen, die Unterlippe Abscheu. 71 Sie glich einem eben von einem Traum Erwachten, der geträumt hatte, eine Maus wär' ihm quer über das Gesicht gesprungen, und dem es in demselben Augenblick, wo er erwachte, wirklich auch so vorgekommen, als hätte ihm auf der Nase etwas unheimlich Kaltes gesessen.
Gott, was ist Ihnen, Liebe? fragte der Dechant.
Sie wollte sprechen, aber sie konnte nicht. Sie winkte nur Windhack, zu sagen, was zuvor der wolle.
Ein Wägelchen ist halt eben vorgefahren –! sagte Windhack, stockte aber, weil denn doch dem so sichtbaren Schmerz der Frau von Gülpen die Vorhand gebührte.
Ein Wägelchen – ist – eben – vorgefahren! wiederholte Frau von Gülpen mit hauchender Stimme. Sie that dies, um ihm gleichsam seine Mittheilung zu erleichtern. Es war ein Ton der leidendsten Geduld, ja der eines förmlichen Abgeschlossenhabens mit dieser so unvollkommenen Welt.
Schon ahnte der Dechant die Ursache dieses Anblicks – die neue Nichte – Was ist denn, Windhack? fragte er, um nur bald wenigstens über die Störung hinwegzukommen –
Der Wagen unten –
Nun ja, nun ja –
Herr Maria!
Wer?
Herr Maria!
Frau von Gülpen war so großmüthig, so tief edelgesinnt, so gewohntermaßen aufopferungsfreudig, auch noch jetzt die Verständigung zu unterstützen.
Herr Schnuphase! sagte sie.
Herr Schnuphase?
Eine dringende Meldung an den Herrn Pfarrer – fuhr Windhack fort.
72 Bonaventura erstaunte, daß Er gemeint war.
Herr Maria hat Sie halt schon in St.-Wolfgang aufgesucht – Ein sehr wichtiger Auftrag –
Und schon hörte man auf dem Corridor draußen das Husten und Räuspern eines Mannes, der nur an das freudigste Bewillkommtwerden gewöhnt schien.
Ist denn schon die Zeit der Wachsernte, fragte der Dechant lächelnd und verdrießlich zugleich –
Aber Herr Jean Baptiste Maria Schnuphase, Lebküchler, Wachslichterfabrikant und Meßgewandsticker aus der Residenz des Kirchenfürsten, schien absichtlich zwei oder drei Prisen genommen zu haben, um nur dicht am Schlüsselloch draußen niesen zu können.
Und mit jener Selbstaufopferung, die für sich selbst im Leben ja auch nichts, auch gar nichts beansprucht, sondern die nur allein andere glücklich zu machen wünscht, winkte Frau von Gülpen, daß Herr Schnuphase eintreten möchte.
Der Dechant war im äußersten Grade gerührt, zu sehen, wie sich die gute Frau erschöpft auf ein Eckkanapee im Dunkeln niederließ, ganz nur Resignation, ganz nur ein Bild der Ergebung, sich selbst eklipsirend, wie Windhack hätte sagen können. Gern hätte er tröstend ihr zugeflüstert: Nun, »die Person« ist doch schon fort? Lassen Sie sie in Gottes Namen reisen! Und lieber gleich! Nur keine Scenen! – Der Eintretende nahm die Aufmerksamkeit aller Anwesenden allein in Anspruch.
Herr Jean Baptiste Maria Schnuphase ist ein kleiner Mann von unendlichster Devotion. Sein Frack ist grün, die Knöpfe sind weiß und metallen, die Weste ist von Kameelgarn und gelb und die Beinkleider sind von Nanking. Er trägt weißgewaschene Lederhandschuhe, wie zu einer Kindtaufe. Aber statt eines Hutes hat er doch nur eine Reisemütze in der Hand und das genirt 73 ihn und das bringt ihn außerordentlich in Verlegenheit und er muß lächeln und um Entschuldigung bitten und muß alles aufbieten, um das Négligé dieser Reisekappe zu verbergen und sein: Hochwürdigste Hochwürden – Gnädigste Frau – Hochehrwürdiger Herr Pfarrer – und Sehr geehrter Herr Windhack –! mit so vielen Verbeugungen zu unterbrechen, daß wir –
Nein! Um Jean Baptiste Maria Schnuphase ganz zu charakterisiren und nichts zu unterlassen, was zu seinem »ganz ergebensten« und »hochachtungsvoll ergebensten« Eindruck gehört, müssen wir ihn in seiner eigenen Sprache reden lassen.
Es ist jene Sprache von der Abdachung des Harzes her in die kleine römische Enclave, das einzig dortherum rechtgläubig gebliebene Hildesheim. Es ist die Sprache der braunschweigischen Umlaute »ö« statt a oder an oder o, die Sprache des lispelnden S vor T und P. Alle diese seinen Nuancen gehören zu dem Duft des »Vörnöhmen« und »Erhöbenen«, das den Lebküchler, Wachslichterfabrikanten und »Meßgewands–ticker« schon seit dreißig »Jöhren« umgibt. Schnuphase, oder nach seiner eigenen Aussprache »Schnuphöse«, besitzt eine nie »ermöngelnde« Ergebenheit. Er ist das Factotum aller menschlichen Bedürfnisse des höhern und niedern »christköthölischen« Klerus. Er ist der Beichtvater der Beichtväter. Herr Maria, von Hildesheim durch eine glückliche Gesellenschaft und darauffolgende Verheirathung gen Westen verpflanzt, ist wohlangesehener Bürger und Hausbesitzer in der »s–tolzen Königin des großen S–trömes«, die wir kennen lernen werden. Er ist der »Figaro hier«, der»Figaro dort« des Domstifts und aller derer, die sein Vertrauen suchen und nicht suchen. Dienen, dienen um jeden Preis, dienen und wär's auch nur um die regelmäßige Abnahme seiner weltberühmten Wachskerzen für Haus und Altar, seiner Lebkuchen für den Weihnachtsbaum, seiner Stickereien, deren Anfertigung 74 seine beiden Töchter Eva und Apollonia zu den Garderobièren aller Gottesmütter des Landes und aller sonstigen heiligen Toiletten gemacht hat – dienen war »Herrn Maria's« Lebensaufgabe! Wo ereignete sich das Weihen einer Kirche aus zwanzig Meilen in der Runde, stromauf, stromab, ins Frankenland hinein und hinüber auf die rothe Erde, bei der Herr Maria fehlte? Oder eine Priesterweihe oder ein Zweckessen oder ein großes Leichenbegängniß oder eine Glockenweihe oder eine Wallfahrt oder eine Schaustellung wunderthätiger Bilder oder Reliquien – und Herr Maria sollte fehlen? Herr Maria, der kleine, immer vom Feuer der Ueberzeugung sowol wie vom edelsten Ahrbleichart purpurn Geröthete? Er war einer der Cherubs, flammend von der Nase bis zum Schwert, die an der Kathedrale in der Residenz des Kirchenfürsten die Eingangsportale hüteten! Dabei durft' er auch wandeln auf Erden wie ein Cherub auf Urlaub, ein Cherub der Legende, zu Wagen, zu Roß, per Dampf auf der kühlen Welle oder der hie und da schon sich streckenden Schiene! Herr Maria wohnte in einem der alterthümlichsten, massivsten Häuser, die man sich durch hochwürdigste Protection nur erwerben kann. Er war in seiner Art ein Napoleon. Wenigstens war die Biene auch sein Symbol. Er hätte eigentlich in einem Bienenmantel bei jeder Procession voranschreiten müssen, wie er denn oft voranschritt, dann freilich im schwärzesten der schwarzen unter seinen vielen Fräcken, mit entblößtem Haupte und eine seiner eigenen Kerzen tragend. Die Bienen hatten ihn gelehrt, Honig früh von Wachs zu unterscheiden, aus jenem die lieblichsten nürnberger Leb- und thorner Pfefferkuchen und baseler Leckerlis zu gestalten, aus diesem Kerzen, reine, weißgelbe edle Wachskerzen zur heiligsten Weihe. Und diese Bienen hatten ihn auch die Emsigkeit gelehrt, den rastlosen Fleiß, das Sammeln auf allen Fluren und Wegen und Stegen für seinen eigenen Schatz und den des 75 Reiches Gottes. So erlebte er freilich die Berufung zu den höchsten Steuersätzen durch diesen kalten protestantischen, keine Exemtionen duldenden »S–töt«, aber auch die Mittel, sie quartaliter pünktlichst zu bezahlen. Herr Maria galt für wohlhabend; er war aber reich. Das wußten Domherren und Capitulare und Officiale und Curaten bis zu Psalteristen und Calcanten hinunter. Dominicus Nück, der mächtige Procurator, Benno's Principal, wußte es gleichfalls. Der hatte ihn auf der Liste aller derer, die in großen Erbschaftsfragen, z. B. jetzt in der der Dorste-Camphausen, Mündel- und Pupillengelder auf die rechten Plätze anzulegen wußten. Und was gab es nicht allein schon auf dem geistlichen Gebiete zu rechnen und zu zählen! Was hatten nicht die Herren von Sancta-Columba und Den Heiligen Aposteln und Den sieben Schmerzen und allen Kirchen diesseit und jenseit des Stromes für einen Neffen dort, für eine Nichte da liebevollst zu sorgen, aufzunehmen und abzutragen! Was gab es nicht Kapitalien unterzubringen! »Schicket euch in die Zeit, denn es ist böse Zeit!« Herr Maria kannte das ganze Land, kannte alles, was neben Bienen auch Korn und Gerste zieht und Hypotheken braucht. Freilich war er nicht in dieser Gegend geboren, aber er war geboren in dem Lande der Höflichkeit, der feinsten deutschen »Auss–prache«, der gewähltesten Umgangsformen. Er wurde überall gut aufgenommen und erhob sich dabei nicht zum Uebermuth. Er hatte von den Bienen die schöne Harmonie gelernt, die Unterordnung unter einen gekrönten Weisel, unter die selbstbeschauliche Trägheit vornehmer Drohnen; selbst jener poetische Schwung fehlte Herrn Maria nicht, den die Alten mit den Bienen bezeichnen wollten, wenn sie im Munde eines göttlichen Redners die Biene abbildeten oder einen Sophokles an ihr sterben ließen – ich irre, Sophokles starb an einer verschluckten Weinbeere! Aber schon die attischen Bienen ruhten vielleicht am 76 liebsten auf solchen Weinbeeren, die von Chios und Tenedos an den Ilissus verpflanzt wurden. Schnuphase bestätigte den Naturforschern, daß die Bienen am liebsten sich den Honig vom Safte der Weinbeeren saugen. Oder verurtheilt ihr ihn deshalb? Lebte der schwungvolle Mann nicht im Lande der köstlichsten Reben? Er, der nur »brauns–weiger« Mumme oder goslarer »Göse« als die höchsten Errungenschaften der dürstenden Menschheit bei seiner Geburt kennen gelernt hatte, er bekam sein rothes Näschen, seine rothen Wänglein, die dem weißen Lockenköpfchen allerliebst standen, nur auf den schönen Rebenhügeln seines neuen Vaterlandes, unter den epheuumwundenen Burgruinen, da, wo man ringsumher, dicht neben dem Anblick des Großen und Schönen, auch überall einen Guten schenkt. So zu stehen auf »erhöbenstem S–töndpunkte«, so mit dem grünen »Römerglöse« allen »Köpöllen« und Kirchen und »Dömen« und »S–tiften« und »Köthödrölen«, die er erleuchtete, allen Tannenbäumen ringsumher, die er zur Weihnachtszeit mit Lichtern und Lebkuchen schmückte, allen Kaplanen und Pfarrern, die er mit wundervollen Meßgewändern bekleidete, ein Hoch nach dem andern auszubringen – wer konnte ihm das verdenken! Blieb er dabei nicht immer fein, nicht immer nobel, Herr seiner weißen Wäsche, Hüter seiner Manschetten, Meister im Verknoten seiner weißen Binde, zierlich und manierlich? Einem Weihbischof die Hand zu küssen, hätte ihn von allen Schäden der Pathologie geheilt! Glücklicherweise war er gesund und fühlte sich im Ahrbleichart und seinem Berufe wie der Fisch im Wasser! Oder er war selbst wie eine seiner Kerzen! Erst Product einer von tausend Enden und Ecken her gesammelten Betriebsamkeit – dann so sanft sich selbst verzehrend im Lichte, in aufwärtsstrebender, reiner, heiliger Flamme und fanatischster Hingegebenheit an alles, was sich nur für sein römisches Ideal unternehmen, betreiben, wühlen ließ! 77 Betriebsamkeit ließ ihn, wie Löb Seligmann, der Bruder der Hasen-Jette, vom Felde die Früchte »auf den Halm« kaufte, den Reps »auf die Blüte«, den Taback, die Runkelrübe »auf Stengel und Knollen«, so den Honig und Wachs kaufen »auf die Blume«, wenn über dem duftenden Kelche noch die grünen Weberinnen mit den Schmetterlingen wetteifernd summten und schwelgten! Und fast alle Stöcke der Bauern und Schullehrer waren so dem tendenziösesten aller Tendenz-Tendenzler verpfändet, noch ehe die Zellen sich füllten. »Die Blume« – darauf war er überhaupt Kenner. Und er drückte niemanden. Er handelte wie ein Mann, der die heilige Ehre genoß, mit Stolen, Alben, Manipeln, Fahnen, Standarten, Demonstrationen, selbst Intriguen die Glorie des katholischen Lebens zu mehren, die Hochämter bis nach Lüttich und Antwerpen und die großen »Döme« – o, wär' es bis an die Peterskuppel von Rom gewesen! – mit Licht, Gold und Silberglanz zu füllen!
Herr Schnuphase überbrachte vom Herrn Kaplan Michahelles, dem Secretär des Kirchenfürsten, einen Brief, der für St.-Wolfgang bestimmt war.
Ein Auftrag Sr. Eminenz? fragte der Dechant erstaunt, als Bonaventura den Brief erbrach.
Frau von Gülpen zitterte bei diesem Worte jetzt auch noch zu alledem vor Devotion –
Zu dienen, Höchwürden! sprach Herr Maria.
Ohne weitern Aufenthalt? sagte Bonaventura betroffen im Lesen halb für sich.
Ohne allen weitern Aufenthölt, Höchwürden!
In die Residenz sollst du kommen? fiel der Dechant hocherstaunt ein.
Zu dienen, Höchwürden! bestätigte Schnuphase.
Des Dechanten Herz klopfte mächtig. Es ergriff ihn eine Ahnung, 78 die im innigsten Zusammenhange mit der vorhin unterbrochenen Warnung stand. Gerade das hatte er sagen wollen, gerade warnen vor einer Gefahr, die nun für Bonaventura heraufzuziehen schien.
Zu all den Foltern, die Frau von Gülpen zu überstehen hatte, kam nun noch die, sehen zu müssen, wie »ihr Dechant« förmlich erblaßte und sich am Tische halten mußte. Alle ihre Gedanken gingen jetzt blos wieder auf die Hausapotheke. auf ihre niederschlagenden Pulver – und sah bei alledem der geliebte Mann auch noch offenbar nur deshalb so scharf auf sie hinüber, um sie zu entfernen und sich allein zu wissen mit Bona und über den empfangenen Brief mit ihm eine Scene zu haben – eine Scene!
Herr Maria, nichts ahnend als nur Gutes, äußerte: Hochwürden werden gewögentlichst in meinem Hause abs–teigen! Ich bitte! Ich bitte! Es ist der Befehl – wöllt' ich sögen der Wunsch Sr. Eminenz, daß Ew. Hochehrwürden bei mir wöhnen! Im sogenannten s–teinernen Hause, dicht an der Köthödröle!
Der Dechant beherrschte sich nicht länger. Windhack bekam Befehl, Herrn Schnuphase, der es auch vollkommen einräumte, sich noch »im ungefrühstückten Zustönde« zu befinden, ein Déjeuner à la fourchette vorzusetzen. Frau von Gülpen durfte sich dem entscheidenden Blick, durfte sich dem Wunsche, der in diesem Moment aus den Augen des Dechanten machtgebietend sie traf, nicht widersetzen. Sie ging. Sie ging mit einem Blick auf Bonaventura, der diesen um aller Heiligen willen, die im und nicht im Kalender stehen, bat, den Dechanten zu schonen. Ach, und sie? Sie selbst? Sie war ja gewohnt »alles zu tragen!« Als sie noch Herrn Schnuphase's Diener und »gehörsömsten Befehle« und »unterthänigsten Bereitwilligkeiten«, auch »die Oebsicht, den nähern Bescheid öbwörten zu wollen«, unterbrechen 79 mußte und die Thür öffnete, die zum Corridor führte, und nun wieder mit Herrn Schnuphase zu complimentiren hatte, wer zuerst ginge, da warf sie einen Blick gen Himmel. Dieser war aus Kummer und doch schon wieder aus der seligsten Freude gemischt: Diese Bürden – wie sind sie alle so schwer und dennoch – wie wär' ich unglücklich, wollte sich jemand unterstehen, sie mir abzunehmen!
Jetzt waren Bonaventura und der Dechant allein.
Mein Sohn! rief der Greis mit der ganzen bisher zurückgehaltenen Kraft seiner Furcht und Aufregung, mein Sohn! Was ist das? Dabei warf er sich dem jungen Priester mit einer Leidenschaft, die dieser an ihm nie gekannt, an die Brust. Was kann, was soll dir beschieden sein! fuhr er fort. Auch dich wollen sie haben! Auch dich wollen sie in ihre Strudel ziehen! Wir gehen den trostlosesten Verwirrungen entgegen – o mein Sohn! Mein Sohn! Folge diesem Briefe nicht! Ich beschwöre dich! Widerstehe!
Wie kann ich? erwiderte Bonaventura und erinnerte den Greis an die allbekannte Stellung des Kaplans Michahelles. Dieser hatte einfach und kurz geschrieben: »Hochwürdigster Herr! Im Auftrage Sr. Eminenz soll ich Sie ersuchen, ihm binnen acht Tagen persönlich Ihre Aufwartung zu machen. Ihr hochachtend ergebenster Eduard Michahelles. Alles zur größern Ehre Gottes.«
Das Losungswort der Jesuiten! sagte der Dechant mit tiefster Erbitterung. Bona! Bona! – es würde den Rest meiner Tage verkürzen, wenn ich erleben müßte –
Theurer Onkel! unterbrach der Pfarrer und umarmte den Dechanten. Warum diese Sorgen! Mau beruft mich zu irgendeinem harmlosen Auftrage! Der Kirchenfürst ist aus unserer Heimat gebürtig! Er kannte den Vater –
Sein Arm ist gewaltig, sein Wille stark – Bona! Es 80 ist mir, als säh' ich dich von mir geschieden! Geistig geschieden!
Ich werde prüfen und nur das Gute behalten!
Sie werden deine Liebe zur Religion mit einem neuen. dir fremdartigen, verfälschten Stoffe schüren! Sie werden dich in ihre Bahnen reißen, die Bahnen der Zerstörung, des Kampfes, der Auflehnung gegen Gesetz und Obrigkeit, des Kampfes gegen das theure Vaterland! Ha! Priesterberuf! Die Kirche! Rom! Das werden die blendenden Formeln sein, die deine Ueberzeugungen binden, deinen Willen gefangen nehmen sollen – Bona!
Der junge Priester zuckte die Achseln und deutete auf den Brief.
Freilich! Du – mußt – folgen! sagte endlich der Dechant, aber mit fast erstickter Stimme. Sicut cadaver estote! Ihr sollt sein wie die Leichname! . . . Lebe wohl –
Beide gingen. Sie gingen noch erst zusammen. Der Dechant nahm schon jetzt Abschied von dem jungen Priester, den, wenn er wahr sein wollte, der Ruf des Kirchenfürsten in die außerordentlichste Aufregung versetzte, ja bis zur Begeisterung erhob. Um den Greis zu trösten, sagte er: Fiat lux in perpetuis!
Wie? blickte der Dechant auf und sah ihn auf dies Wort betroffen an. Es war die Losung der aus Italien gekommenen Aufforderung.
Ruhig und harmlos hielt Bonaventura des Greises Frage aus. Der Dechant sah, daß diese Worte nur durch einen Zufall gesprochen wurden.
Am Hause unten trennten sie sich.
Herrn Maria fesselten Windhack und das Frühstück.
Den Dechanten hielt noch eine Weile der nun auch noch angekommene froh scherzende und grüßende Napoleone Biancchi auf. Catone trug ein Bret voll Gipsabgüsse, frischt gefüllt, und unter den Heiligen stand ein Apollino, auch der Knabe mit dem Schwan, 81 auch Dannecker's Ariadne. Alle Jahre brachte Napoleone dem Dechanten irgendetwas, was seinen Geldbeutel in Contribution setzte und Frau von Gülpen neue Sorgen machte für die Unterbringung in den schon überfüllten Räumlichkeiten.
Der Dechant, gezwungen freundlich, beschied den alten Bekannten auf den Nachmittag und wandte sich zum Dom von St.-Zeno, während Bonaventura auf dem Wege zu dem Weinberg des Obersten bereits hinter den Bäumen verschwunden war.