Der Zauberer von Rom / II. Buch
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20 2.

Wie Lucinde, folgend den wiederbeginnenden Klängen des Marianischen Lobgesangs, noch an einigen Leidensstationen vorüberging. mußte sie den schönen und malerisch gelegenen neuen Bau bewundern. Alles, was nur die gothische Architektur an bedeutungsvollen und lieblichen Elementen besitzt, war zu einer reizenden Gesammtwirkung hier vereinigt. Wie hingehaucht stand das halb röthliche, halb hellgrüne Sandsteingebilde und verlor sich mit vier schlanken Thürmen in die blaue Luft, als wäre es befiedert. Spitzbogenfenster, Spitzgiebel, Spitzdächer, alles war mit steinernen Blumen und Blättern verziert. Große durchbrochene Steinrosen schmückten die Thüren und Seitenwände. Ein terrassenförmiger kleiner Garten umgab die obere Spitze des Grundkreuzes, in dessen Form sich der Bau erhob.

Dieser Garten lud den müden Wanderer ein in den Schatten breitästiger Linden. Bienen summten, Käfer schwirrten. Einem Schmetterlinge nur brauchte Lucinde nachzugehen, der sie mit seinem Flatterfluge an die Pforte des festgegründeten schönen Gottestempels, des Asyls des Unsterblichkeitsglaubens, wie ausdrücklich zu geleiten schien. Die kleinen Sängerinnen waren verstummt. Sie befanden sich in der Kirche, die Lucinde betrat. Der Raum drinnen war eng. Zusammengedrückt schien das Ganze noch mehr zu werden durch eine fast zu reiche Verschwendung an 21 Gold und Farbe. Lucinde fühlte sogleich, daß hier alles zu sinnlich, zu laut, zu unmittelbar auf den Eintretenden eindrängte; sie schlug die Augen nieder, besprengte sich mit dem geweihten Wasser und kniete, geräuschvoll sogar, an den Marmorstufen des Altars nieder.

Nachdem sie, wie andachtversunken, ihr Gebet verrichtet, erhob sie sich und musterte die Malereien. Auch zu einer Krypta stieg sie nieder, die ihr nicht minder beengend, ja furchterregend vorkam. Eine besondere Aufforderung zur Gottesandacht lag nicht in dem Eindruck dieses Innern eines so gefälligen Aeußern. Doch senkte sie die Wimpern und verrieth keine Kritik.

Die kleinen Mädchen der Pension von Lindenwerth, wol ihrer zwölf bis sechzehn an der Zahl, ließen den engen Raum des Gotteshauses von ihrer Neugier und Zerstreutheit nicht wenig widerhallen. Eine dem Orden der Englischen Fräulein angehörende Nonne und eine weltliche Lehrerin waren ihre Führer. Zuletzt verloren sich alle in eine Seitennische, in der sich das Gerüst eines Malers befand, dessen Pensum in der Ausschmückung der Wände hinter dem der andern Künstler noch zurückgeblieben war. Auch er malte um die Heiligen jene großen goldenen Teller in dem Geschmack, der sich in seiner Absicht allzu sehr verräth. Will man durch die Vorgänge der heiligen Geschichte das Gefühl der Andacht wecken, so müssen sie uns nicht als Wunder, sondern mit dem Zauber der Natürlichkeit und einer alle Tage möglichen Wirklichkeit entgegentreten.

Bei näherm Hinblick auf das Pensionat, das sich jetzt neugierig an den arbeitenden Maler verlor, schrak Lucinde zusammen. So nahe schon hatte sie sich ihren nächsten Zielen nicht geglaubt! Diese führten sie, wie sie ausdrücklich gewollt hatte, mitten in alles wieder zurück, was sie in ihren ersten Jugendtagen, vor dem Sinken ihres Sternes und dem neuen Aufgang in der 22 orthopädischen Anstalt, halb bewußtlos erlebt hatte. Sie erkannte deutlich in der führenden Lehrerin der Zöglinge jene Angelika Müller, mit der sie einst, vor sechs Jahren, ihre Reise nach Hamburg gemacht hatte. War also der Prophet von Eschede, Dr. Laurenz Püttmeyer, noch immer ohne Hegel's Lehrstuhl für seine mathematische Philosophie geblieben? Beim Anblick dieser armen, damals schon nicht mehr jungen, jetzt vollends verblühten geistigen Tagelöhnerin trat ihr der todte Jérôme vor Augen, wie dieser sitzen konnte und Würfel und Dreiecke schnitzeln und über jenes bekannte Pentagramm, das wir als Bierzeichen adoptirt haben, sich in die alten Wälder verlor, in denen einst dem Wodan Menschenopfer gebracht wurden. Die Lehrerin schien auch auf Veranlassung der obenerwähnten goldenen Teller eben mit dem Erläutern der Symbolik des Kreises beschäftigt und sah Lucinden nicht.

Diese fühlte sich vielleicht noch nicht stark genug, das volle Antlitz ihrer Vergangenheit wieder zu ertragen. Sie verließ die Kapelle und begab sich in die warme und erquickende Luft zurück, fast wie auf der Flucht.

Ihr Wagen war noch nicht da. So wandte sie sich der Altane der Kirche zu und nahm Platz auf einer der steinernen Bänke, welche die schönste Aussicht boten. Sinnend über den Muth, den sie haben wollte, nun endlich wieder, nach langer, herber Prüfung, dicht an alles anzustreifen, was schon einmal für sie verhängnißvoll geworden, sah sie es kaum, wie nah unter ihr der belebte Strom mit seinen malerischen Ortschaften sich schlängelte, wie in der Ferne die Berge in ansehnliche Höhen stiegen und links und rechts zwei schroff emporgethürmte Felsen mit den Trümmerresten zweier alten Burgen wunderherrlich aufragten.

Nach einer Weile und während die Schülerinnen des 23 Pensionats in der Kirche wieder einen neuen Gesang angestimmt hatten, bemerkte sie, daß sie auf der Altane nicht allein war. Dicht an der von Epheu beschatteten Mauer der Kapelle standen in eifrigem Gespräch ein Soldat und ein ohne Zweifel zu dem lindenwerther Pensionat gehörendes junges Mädchen. In einiger Entfernung hielt sich ein Aelterer, nicht gerade ein Diener, auch kein Erzieher; jemand jedoch, der zu wachen schien, daß das Zwiegespräch der beiden andern weder gestört noch vielleicht zu vertraulich wurde.

Das junge Mädchen trug die Kleidung des Pensionats, einen dunkelblauen leichten Sommerstoff, einen runden italienischen Strohhut und eine Tasche zur Aufbewahrung wahrscheinlich derjenigen Dinge, die das Englische Fräulein unterwegs nicht zum Unterhalt kaufen mochte; überm Arm hing noch ein leichter Sommershawl. Sie war eine von den ältern der kleinen Karavane, deren Mitglieder, sah man sie einzeln, gereifter erschienen als in der Gesammtheit. Das Gute haben richtig geleitete weibliche Pensionate, daß die jungen Mädchen durch ihr Beisammensein sich länger kindlich erhalten und jene gefährliche Krisis der ersten erwachenden Temperamentsvorgänge glücklicher überwinden, als in der die Frühreife zeitigenden, wenn auch traulichern Wärme des älterlichen Hauses.

Auch das junge Mädchen, das vielleicht sechzehn Jahre schon zählte, machte Lucinden einen Eindruck, als müßte es ihr nicht unbekannt sein. Es war eine Erscheinung von eigenthümlichem Reiz; nicht zu groß, doch wohlgebaut und von einer Lebhaftigkeit im Auseinandersetzen, von einer Innigkeit im Genuß dieser vertraulichen Zwiesprache mit dem jungen Krieger, die Lucinden sogleich so bitter lächeln machte, als hätte sie sagen mögen: Kleiner Fratz, dergleichen erlebten wir einst ja auch! Sie mochte jedoch die Glücklichen, die sich vielleicht vor dem Englischen 24 Fräulein und vor Angelika Müller sicher glaubten, nicht stören. Auch konnte sie die Züge des jungen Mädchens nicht unterbringen. Auf dem Streckbett konnte sie ihnen nicht begegnet sein und doch fiel ihr sogleich Paula von Dorste-Camphausen ein.

Der Soldat war kein Offizier, sondern ein gewöhnlicher Gemeiner; doch wußte Lucinde schon, daß es hier zu Lande sogenannte Freiwillige gibt, die nur eine kurze Zeit der allgemeinen Militärpflicht genügen. Ihnen schien der junge Mann, mit seinem schwarzen Bärtchen auf der Oberlippe und dem kurzgeschnittenen, aber vollen Haarwuchs, anzugehören. Er war groß, hatte etwas Festes und Bestimmtes und erinnerte Lucinden an den seither verschollenen Klingsohr, von dem er ein brünetter Pendant war; nur hatte er nicht das Wüste und Unschöne desselben. Etwas Studentisches schien ihr noch das grüngelbweiße Band, das er trotz der Montur, die offen stand, über seiner weißen Piquéweste trug; doch konnte er wol kaum noch der Universität angehören, falls überhaupt die Voraussetzung der sogenannten Freiwilligkeit die richtige war.

Der Wächter in der Ferne schien jedenfalls ein Stück vom echten Soldaten, aber auch zugleich ein Stück vom Jäger, ein Stück vom Landwirth, vom Bauer, selbst vom Bedienten, von allem etwas. Mit einem zusammengerollten Militärmantel, an dem ein Säbel befestigt war, ohne Zweifel Requisiten des jungen Kriegers, stand er an dem Eingange zum kleinen Garten, rechts und links auf die Landstraße lugend und nur im geheimen auf das plaudernde Paar. Im Regen und Sturm scheint er noch besser an seinem Platze zu sein; sein geröthetes Antlitz hat das Viereckige der Kopfform eines mit Ohrringen geschmückten Steuermanns auf hoher See. Wer weiß auch, ob diese Unruhe, die sich bald auf das eine, bald auf das andere Bein stellen muß, nicht von der Gewöhnung an die Schwankungen eines 25 Schiffes kommt! Der Blick, den der Wächter, so eigenthümlich prüfend und den Mund in Falten ziehend, über den Strom auf einen neuen Dampfer wirft, der gerade anhält, um mehr Besucher der Maximinuskapelle auszusetzen, als heute die »Prinzessin Marianne« gebracht hatte, ist gerade wie der eines Mannes, der die vollkommene Berechtigung gehabt hätte, ebenso gut wie der geschniegelte Kapitän drüben, der vielleicht nie Salzwasser gekostet hat. »Stop!« zu rufen.

Lucinde suchte auch diese Gestalt irgendwo in ihrem Jugendwahntraume, wie sie ihr vergangenes Leben nannte, unterzubringen. Wie mußte sie erstaunen, als sie bemerkte, daß ihre eigene Erscheinung Schuld werden sollte, daß plötzlich das stille harmonische Concert dieser drei Menschen unterbrochen wurde! Sie erblickte nämlich in der Ferne ihren Einspänner, erhob sich von der Bank, auf welcher sie ausgeruht hatte, und streifte an dem durch die kleinen Gartenanlagen daherkommenden Paare, das sie nicht vermeiden konnte, scheu vorüber. Noch fielen einige der Worte des Gesprächs, das sich von seiten des Mädchens in einer kindlich harmlosen Welt zu bewegen schien, in ihr Ohr, als sie nicht wenig überrascht wurde vom plötzlich innehaltenden Redefluß der kleinen Sprecherin, die, ihre schönen dunkelbraunen Augen weit aufgerissen, auf sie zutrat und sie mit einem, nur durch Verlegenheit abgebrochenen lauten und erschreckten: Ach! anredete.

Der Muth weiter zu sprechen fehlte zwar, die Verlegenheit, etwas Ungehöriges gethan zu haben, überwog, aber die Kleine wandte sich im Weitergehen dem Soldaten so vertraulich und so schnell zu, daß Lucinde wohl sah, wie sie entweder mit jemand anderm eine auffallende Aehnlichkeit hatte oder auch dieser Kleinen wirklich bekannt sein mußte. Indem kamen die übrigen Pensionsmitglieder zurück. Lucinde mochte zunächst dem an sich selbst für sie interesselosen Fräulein Müller nicht begegnen. Sie zog vor, 26 sich zu entfernen. Das junge Mädchen aber, das sich denn also doch, wie man nun sah, in keiner verbotenen Zwiesprache befunden hatte, sprang in die Reihen ihrer Gefährtinnen zurück und steckte so den Kopf mit den andern zusammen, daß sie nun sämmtlich neugierig auf Lucinden hinblickten; alle thaten, als müßten sie in ihr eine ihnen längst bekannte Erscheinung wiederfinden.

Das war Lucinden jetzt zu viel. Während die Führerinnen mit dem eleganten Soldaten sprachen, der mit Zuvorkommenheit und Lebhaftigkeit Auskunft über die Kapelle und die Gegend gab, suchte sie, von Fräulein Müller unbemerkt, den Ausgang. Dem draußen harrenden Wächter sagte sie:

Geschwister waren das doch wol nicht?

Nein! war die einfache, kurze Antwort.

Der Kleinen schien an mir etwas aufzufallen. Wer ist sie?

Ein Fräulein von Hülleshoven –

Hülleshoven? Armgart von Hülleshoven?

Armgart von Hülleshoven! bestätigte der Gefragte.

Dann ist der junge Mann niemand anders als Benno von Asselyn –

Zu Befehl!

Ich denke, Herr von Asselyn ist Advocat?

Allerdings.

Wie kommt er zur Uniform?

Herbstübung –!

Damit brach der Mann ab. Man hatte ihn entweder gerufen oder er glaubte es vielleicht nur, daß man dies gethan. Von dem jungen Paar schien er kein Auge zu verlieren.

Lucinde war wie in einer Betäubung. Ihr Entschluß war doch: Du wagst dich noch einmal in dein altes Leben zurück, siehst heller, was dir früher dunkel erschien, erschrickst vor keiner Begegnung mehr und wär' es vor der mit der alten 27 Hauptmännin von Buschbeck, ja selbst mit Oskar Binder – in ihrem neuen religiösen Bekenntniß lag die außerordentlichste Kraft dieses Sichsicherfühlens – und dennoch wälzte sich ihr schon centnerschwer aufs Herz, sich sagen zu müssen: Armgart von Hülleshoven gehört ja den Kreisen von Schloß Neuhof an! Sie war eine der innigsten Beziehungen Paula's! Sie kann noch den Kindeseindruck bewahrt haben von jener Pagode im Schloßteich, in die ich damals zu dem Federvieh aufgestiegen bin! Benno von Asselyn war ein Cousin des Pfarrers zu St.-Wolfgang, jenes Bonaventura, bei dessen verhängnißvoller Priesterweihe sie vor einigen Jahren mit einer Entscheidung für ihr ganzes Leben zugegen gewesen.

Am Fuße des Hügels fand sie ihren kleinen Wagen. Er war leichtester Art, nur für zwei Personen, die sich im Fall eines Regens durch ein aufgeschlagenes Halbverdeck schützen konnten. Indeß behielt das Wetter seine gleiche Anmuth. Nur die Sonne senkte sich allmählich. Schon mochte es inzwischen über fünf Uhr geworden sein.

Ein Knecht aus dem Weißen Roß führte das leichte Gespann. Erst ging es um den Ort herum und die Anfänge der landeinwärts gehenden Straße rasch hinaus. Den vollen Genuß der üppigen, wie ein Garten ausgebreiteten Gegend konnte nur der Staub hindern. Die Bäume am Wege trugen schwer an ihrer Aepfellast. In den Gärten prangten jene Blumen, die im Spätsommer durch Glut der Farbe ersetzen, was ihnen an Duft fehlt. Bienenstöcke standen unter Bedachungen mit jener geheimnißvollen Bienenkorbstille, die nicht ahnen läßt, was alles, und vollends nach Klingsohr's Theorie, in ihnen vorgeht. Wonnig war der Rückblick auf das verlassene Oertchen, auf den im Luftäther blauglänzenden Strom, der sich in immer anmuthigern Windungen, je mehr sich die Straße wand, dem Auge bald darbot, bald entzog.

28 Jetzt wurde die Straße steiler. Die Berge, die zwischen dem Strom und St.-Wolfgang lagen, waren höher, als sie das Ansehen gehabt hatten. Der Knecht stieg aus und zuletzt auch Lucinde, so sehr der mürrische und nicht sehr gesprächsame Mensch auch, mehr mit Mienen, als mit Worten, versicherte, daß es nicht nöthig wäre. Doch war im Gehen und Stillstehen der Rückblick auf den immer noch sichtbaren Strom besser zu genießen.

Inzwischen bemerkte Lucinde, daß zwei der Bekanntschaften, die sie an der Maximinuskapelle gemacht hatte, ihr folgten. Auf kürzerm, die Landstraße durchschneidenden Fußwege waren ihr bereits Benno von Asselyn und sein Begleiter ziemlich nahe gekommen. Sie unterhielten sich mit einer Reisegesellschaft, in welcher Lucinde den Gipsfigurenhändler, seinen Sohn und ein junges, schlank aufgeschossenes Mädchen erkannte, das Armgart von Hülleshoven nicht sein konnte. Ihre Vorräthe hatten die Verkäufer nicht mehr bei sich und fast schien es, als wenn ein langsam vor ihrem eigenen Wagen hinziehender Einspänner den Italienern gehörte. Dieser Wagen war so weiß gepudert wie die kurze graue Jacke und die Manchesterhose, die der Alte und sein Knabe trugen. Das junge Mädchen war gegen die Sonne geschützt von einem großen breitrandigen Strohhute und schien die Frau oder die Tochter des Italieners zu sein, der seine lebhafte Rede mit allerlei Gesticulationen unterstützte.

Ueber das kahle Gestein hinweg, das mit dünnem Heidekraut und spärlichem, von weidenden Ziegen ausgerupften Grase bedeckt war, gab es für die fünf Fußwanderer leicht zu erklimmende Nebenwege, auf welchen in kurzer Zeit wenigstens Lucindens Gefährt erreicht sein konnte; ja, wenn die Wanderer die in die Felsen rundum gehauene Landstraße ganz vermeiden wollten, konnten sie bei der Unabsehbarkeit des immer bergan gehenden Weges quer über eine große, hier von kleinen Wasserrinnen, 29 dort von Felsblöcken bedeckte Wiese Lucinden ganz den Weg abschneiden und ihr zuvorkommen. Sie schlugen auch diesen Weg ein, scheinbar unbekümmert um die bald überholte Wanderin auf der staubigen Landstraße.

Lucinde pflückte vor Aufregung am Wege Kreuzkräuter und Rispengräser zu ihrem gewohnten Zerzupfen, das ihre Natur immer als Ableiter zu bedürfen schien, um die in ihr arbeitende Unruhe zu dämpfen. Sie zog die Gräser und ihre Samenkolben durch die Finger, biß sogar ihre Spitzen ab, warf sie weg und pflückte wieder neue. Der Sonnenschirm, der ihr zur Stütze diente, schlenderte manchen Stein aus dem Wege; manchen andern, wenn er ein hübsches Geäder zeigte, hob sie auf, betrachtete ihn eine Weile und ließ ihn wieder gedankenlos fallen. Mit dem Knecht war sie nun doch in einem Gespräche begriffen. Menschen neben sich zu haben, ohne zu wissen, was sie sind, treiben, wollen, denken, das war nicht ihre Art. Allem Stummen mußte sie irgendwie Sprache abgewinnen. Und der Knecht nahm an ihr ein gleiches Interesse. Auch ihm schien diese junge energische Dame eine Merkwürdigkeit. Wie Lucinde zerstörte, aus Kraftgefühl und ungeduldiger Spannung auf ihr nächstes Schicksal, jetzt auf die schon hoch über ihr hinwegschreitenden Wanderer, so auch dieser. Blatt um Blatt zerzupfte auch er einen Zweig, den er in der Hand hatte, machte erst eine Ruthe daraus und warf sie zuletzt weg, auch sich, wie es schien, aus grübelnden Gedanken aufraffend und wieder zur Peitsche greifend.

Die Umgebungen wurden waldig. Die Höhen endeten nicht; sie umkränzten mit dunklern und hellern grünen Schattirungen den des Stromes jetzt schon beraubten Blick. Die Tannen waren vorherrschend und einzelne Ausläufer der Waldungen gingen quer über den Weg und durchschnitten ihn.

30 Das ist der St.-Wolfgangberg! sagte der Kutscher mit einem ihm eigenen Sprachidiom, das etwas Fremdartiges hatte. Er klatschte mit der Peitsche und grüßte demüthig ein Marienbild, das am Wege stand. Dann lud er das Fräulein zum Sitzen ein. Sie würde ermüden und es ginge so wie eben noch viel zu lange fort. Aber Lucinde entdeckte gerade jetzt in ziemlicher Nähe die Wanderer, deren Mittelpunkt das junge, schlank aufgeschossene Mädchen geworden. Schon wußte sie vom Kutscher, daß der Italiener mit zwei Söhnen und einer Tochter reiste; der zweite Sohn führte den Wagen, in dessen Kisten und Kasten die »Figuren« (der in Frankreich gewesene Kutscher sagte sogar. »Statües«) verpackt waren. Ihre kürzern Wege hatten sich an den Waldecken verfangen; sie mußten Schwenkungen machen, die sie aufhielten, und bald zwang sie die Landstraße, mit ihr auf gleicher Linie zu bleiben. Endlich stießen sie mit Lucinden zusammen und grüßten.

Sie haben gar keinen Vortheil von Ihrem Wagen, Signora! rief der Italiener in gebrochenem Deutsch und hielt eine Zeit lang, die Wanderlustige grüßend, die Mütze in die Höhe.

Aber da seht, mein Gepäck hat Vortheil! erwiderte Lucinde zurückzeigend. Ist das Ihre Tochter?

Meine Tochter, Porzia Biancchi!

Porzia Biancchi? Ein stolzer Name! Freilich, sie wird in Rom geboren sein!

Nein, Signora! und sich an die Tochter wendend, fragte er diese auf italienisch: War das schon in Castellungo?

Castellungo! bejahte das junge Mädchen und erröthete unter dem braunen Incarnat ihres nicht schönen, aber gefälligen Antlitzes.

Wie? nahm, Lucinden grüßend, der junge Soldat, Benno von Asselyn, das Wort. Ihr wißt nicht einmal, Meister Biancchi, wo Eure Tochter geboren wurde?

31 Nein, Signore! sagte der Italiener in gebrochenem Deutsch. Als sie zur Welt kam, waren die Zeiten schlecht für mich! Ich lebte nicht in Italien!

Aha! Ihr wart auf der Flucht! sagte der Fragende, der etwas Festes, Sicheres und bei aller Lebendigkeit des Auges doch auch Gelassenes hatte. Ich merke schon, daß Signor Biancchi ein alter Carbonaro ist! Trotzdem, daß er auf deutsch Weiß heißt und so weiße Pierrotkleider trägt, daß mein Königsrock ganz an ihnen abfärbt, gehörte er doch ohne Zweifel zu der schwärzesten Carbonaroforte, zur Loge der sogenannten Kesselschmiede! Nicht wahr?

Der zwischen Freund und Diener noch gänzlich unbestimmt sich haltende Träger des mit dem Säbel, wie ein Portefeuille mit dem Bleistift, zusammengehaltenen Mantels putzte die Gipsflecken ab, die der Sprecher allerdings schon auf seiner Uniform trug.

Biancchi aber sah diesen über seinen ihm imputirten Carbonarismus groß an, schien davon betroffen zu sein und half sich mit dem, dem Italiener eigenen klugen und pfiffigen Ausdruck der Mienen und einem Gestus, der nicht mehr und nicht weniger sagen wollte als: Das ist einer! Der hat eine scharfe Nase!

In der That verdiente Benno von Asselyn eine Würdigung, die, so zu sagen, über seine Uniform hinausging. Es ist ein Nachtheil des Soldaten, daß auf ihn zu sehr das Horazische Nos numerus sumus (»Wir zählen nur«) angewandt wird. Das Auge haftet an dem bunten Rock; der Mensch, das Individuum, das in ihm steckt, der Charakter, wird übersehen. Die Entwickelung des letztern, das ist wahr, ist beim Krieger gehemmt, aber darum fehlt sie nicht. Dieser Freiwillige und Gemeine saß vielleicht erst heute unter der Schere des Friseurs, der ihm die Haare so kurz aus dem Nacken schnitt; sein Barbier 32 rasirte ihm einen Kinnbart fort, den er ebenso wenig nach Kocher am Fall zum »Stabe« mitbringen durfte wie seine Weste; aber einer im Dutzend ist dieser junge Mann nicht. Die Ironie, die in der Betonung seiner Worte liegt, ist das Zeichen eines geistigen Ueberschusses. Er spricht aus der Fülle, nicht aus der Armuth. Sein dunkelblaues Auge spricht statt seiner, auch wenn er schweigt. Es spiegelt die ruhige Herrschaft über einen schon angesammelten Erfahrungsschatz. Fein, vornehm und doch natürlich ist sein Benehmen. Die Art, wie er jetzt seine Cigarrentasche zieht und um die Erlaubniß zum Rauchen bittet, hat einen so weltmännischen Schliff, daß sein Begleiter unversehens zu seinem Bedienten wird, obgleich er ihn wie einen intimsten Freund behandelt.

Da auch Benno von Asselyn bei der Erörterung über die Gegend, wo Castellungo läge, sich italienisch auszudrücken anfing, so wurde Biancchi sicherer und gestand allmählich, daß es ganz so im Ernst wäre, wie der Herr es im Scherz vermuthet hätte. Er selbst wäre ein Römer, seines Zeichens ein Bildhauer und der älteste von drei Brüdern, die allerdings alle mit ihm in die Gefahren gerathen wären, die plötzlich den Carbonaros gedroht hätten. Er hatte sich anfangs nach Piemont geflüchtet, in die Thäler, die sich vom Col de Tende nordwärts bis nach Turin und Aosta an den Fuß der Alpen ziehen.

Die Waldenserthäler! warf zu Lucindens Erstaunen der Begleiter Benno's von Asselyn mit halber Stimme ein.

Si! Si! sagte Biancchi mit schnellem Ton und erstaunend, dies Wort hier und aus solchem Munde zu vernehmen. In Castellungo bei Coni! Ganz recht, in einem Dorfe, wo nur Ketzer wohnen! Bis 1821 ging's soso (er hielt die Hand vor die Augen und blinzelte durch die Finger, wie wenn er das Zeichen der Toleranz machte); aber Madre di Dio! da schlug Donner und 33 Blitz in unsere »Barracca«! Die »Vendita« ist geschlossen – Napoleone Biancchi reißaus!

Ihr heißt Napoleone? fragte Benno von Asselyn lachend über diese durch Gesticulationen unterstützte Erzählung und trat in Rücksicht auf seine, der Heiligen Allianz angehörende Uniform zurück, wie wenn er ihm den Kampf anbieten wollte.

Und mit derselben frappanten Geberde, die Kriegserklärung gleichsam aufnehmend, wiederholte der alte Biancchi mit Nachdruck:

Napoleone Biancchi!

Als sozusagen zwischen dem Kaiserreich und den hohen Verbündeten durch das Lachen der Frauen der Friede wiederhergestellt war, erzählte der Alte, daß er seine Frau und Kinder hatte in Italien zurücklassen müssen. Er wäre erst nach der Schweiz geflüchtet, hätte sich dort zu ernähren gesucht, so gut es eben gegangen, und seiner Frau hätte er nach Castellungo geschickt, was er erübrigte; dann, nach der Julirevolution, hätte er nach Italien zurückzukehren gewagt; hätte sich zwar nicht aufs neue compromittirt, aber doch, »da es auch in Italien nur Ein Rom gäbe«, vorgezogen, wieder sein Wanderleben anzutreten. Nach Rom hätte er nicht gedurft: so wäre er nach Deutschland gekommen, wohne bei Frankfurt am Main und verdiene sich so viel, daß er sich ein solches Pferd halten könne wie das, das da eben bergan seine Vorräthe ins rechtgläubige Land ziehe –

Eure Frau kam Euch nicht nach? fragte Lucinde.

Signora, nein! antwortete Biancchi. Sie ist in Castellungo, hat einen Garten mit Oliven und Maulbeerbäumen und einen Weinberg. Das Haus ist nicht groß genug für alle ihre Seidenwürmer. Sie verdient und spart für ihre Kinder. Frankfurt am Main hat ein schönes Klima, aber keine Seidenwürmer. Giuseppina schickt mir alle zwei Jahre einen Sohn herüber, erst den Camillo, der in Frankfurt das Geschäft führt, dann den Hortensio, der die Peitsche da in der Hand hält, jetzt den Catone, der hier mit mir geht und sich die Schuhe so schief tritt – Ecco, padrone, fa attentione! – und jetzt vor einigen Tagen erst die Porzia. die noch wenig Deutsch kann, ob sie's gleich von einem Einsiedler in Castellungo hätte lernen können. Wie heißt der Heilige unter den alten Eichen von Castellungo? wandte er sich an seine Tochter.

Signore Federigo! antwortete diese. Sie hatte die den Italienern eigene tiefe, fast rauhe Stimme.

Benno von Asselyn bemerkte lächelnd und halblaut, aber für Lucinden hinlänglich vernehmbar:

Ja, Freund Biancchi, zähltet Ihr denn auch richtig die Kinder, daß Euch die Giuseppina nicht einmal mehr aus Italien herausschickt, als Ihr bei ihr zurückgelassen habt?

Biancchi versicherte, daß er ein vortreffliches Weib hätte, aber ihrer Seidenwürmer wegen müßten sie getrennt leben.

Nein, nein, Napoleone! fuhr Benno von Asselyn in seinem Scherze fort. Ich bewundere Eure Ruhe! Könnt Ihr denn zufriedene Nächte haben? Dieser Federigo! Wer ist das? Ein Deutscher, der unter den heiligen Eichen von Castellungo wohnt?

Sein Auge suchte Porzia. Diese verständigte sich gerade in dem wenigen Deutsch, das sie von jenem Einsiedler gelernt hatte, mit dem Manne, der ein Diener schien und doch etwas von den piemontesischen Waldensern gewußt hatte. Der seine Stiefel schief laufende Catone schien dem Alten für etwaige väterliche Besorgnisse nicht ausreichender Wächter genug. Er suchte seiner Tochter näher zu kommen und so hörten diese kleinen scherzhaften Reibungen auf.

Benno von Asselyn wandte sich jetzt verbindlicher zu Lucinden. 35 Er begann von der Maximinuskapelle und bald war Armgart von Hülleshoven erwähnt.

Ein liebliches Kind! Wie alt mag sie sein?

Ich denke, funfzehn . . . sechzehn Jahre . . .

Von einem Mädchen, das man liebt, weiß man die Minute, wann sie geboren ist!

Das man liebt? In meiner Heimat drüben gibt es gar keine Liebe, Fräulein! Man hat sich gern und bleibt hübsch vernünftig!

Sie sind also aus dem Land des Plattdeutschen?

Kennen Sie das?

Lucinde schwieg. Sie merkte, daß man sie an der Maximinuskapelle entweder für eine andere gehalten haben mußte oder wenigstens an Benno von Asselyn das nicht mitgetheilt hatte, was allenfalls Angelika Müller von ihr wußte. Hatte doch Paula von Dorste-Camphausen ein Jahr lang, wo sie auf dem Streckbett lag, nie in ihr die ehemalige Bewohnerin von Schloß Neuhof erkannt. Wie hätte dies Armgart thun können, die um mehrere Jahre jünger war?

Wenn Sie, sagte Benno, Armgart's Heimat kennen, so werden Sie überall, wo der Himmel graublau, die Luft von einem ewigen brandigen Nebel erfüllt ist, einem Nebel – Was ist das? unterbrach er sich plötzlich und rief: Hedemann! Hedemann! Man möchte ja glauben, wir wären hier auf der rothen Erde? Er deutete auf die Landschaft hinaus.

Linker Hand drang den Wanderern aus einer Abdachung des Berges ein brandiger Geruch entgegen. Hinter den Bäumen sah man den Himmel weither von einem grauen Nebel überzogen.

Hedemann! wiederholte Benno, sich seinem wandernden Begleiter zuwendend. Wo kommt hier der Haarrauch her?

Der angerufene Hedemann erläuterte, daß die Leute das verkrüppelte Knieholz der Eichen abbrechen, abrinden, die Rinde den 36 Gerbern als Lohmaterial verkaufen; die Wurzeln der Stämme, diese selbst, die Abfälle, das Gras und das rings wachsende Kraut würden dann verbrannt und die Asche als Dünger ausgestreut, sodaß wenigstens für Gerste und Hafer ein künftiger Anbau auf solchen, mit doppeltem Nutzen ausgerodeten Walddistricten sich ermöglichen ließ.

Also kein Haarrauch! sagte auf diese Erläuterung hin Benno in einem komisch elegischen Tone.

Man sah die Feuerstellen, von denen aus sich der Rauch verbreitete.

Mein Fräulein! nahm er darauf seine Rede wieder auf; Sie wissen vielleicht nicht, daß bei uns drüben die Sümpfe nicht austrocknen können, ohne nicht oft in Brand zu gerathen. Die Flammen sieht man nicht, aber die Erde dampft und brennt immer fort von diesem unterirdisch glühenden Torf. Ihnen würde es drüben sein, als wenn Sie verurtheilt wären, Ihr Leben lang in einer Stube mit einem rauchenden Ofen zu leben. Uns aber ist dieser Rauch ein Arom wie Patschouli. Wir ziehen ihn schon mit der Geburt ein und stürben wir in der Ferne, würden wir glauben Paradiesesluft zu athmen, wenn plötzlich neben uns ein Kohlenbecken hingestellt würde und man darauf etwa ein Stück alten Pappendeckels langsam und feierlich anzündete. Wenn unsere Landsmannschaft auf der Universität jährlich ihren großen Commers hielt, bestand das Bouquet des Abends, nachdem der Landesvater gesungen, darin, daß wir die Fenster aufrissen und den Qualm eines draußen angezündeten Haufens Torf einathmeten. Dann fielen wir uns in die Arme und stießen zwischen Thränen und Schluchzen solche Ausrufungen und Freudengeschreie aus, wie unsere Vorvordern, als die Römer sich dem Teutoburger Walde nahten und wir unsere Aexte und Streitkolben um die langen blonden Locken schwangen, weil es 37 zum Kampfe ging für Freiheit, Vaterland und Buchweizengrütze! Das ist nämlich unser Nationalessen, Fräulein! Schon Thusnelde soll es gekocht haben, wenn sie wünschte, daß Arminius guter Laune war.

Lucinde glaubte Klingsohr zu hören; selbst Jérôme stand vor ihr. Dennoch war Benno von Asselyn ein völlig anderer. Auch die Erwähnung der blonden Locken paßte nicht auf ihn, da sein Haar schwarz war, und sein ganzes Wesen eher südländisch als nordisch. Sie wollte letztres aussprechen, doch erstickte ihr der von dem verwüsteten Felde herüberdringende Rauch die Stimme. Auch setzten sich eben die Italiener sämmtlich in ihren Wagen.

Auch Lucindens Kutscher hielt, weil der Weg nun bergab ginge, und öffnete mit einem scheuen und grinsenden: S'il vous plaît! den Schlag. Lucindens Einladung an Benno und Hedemann, sich mit einzusetzen – soweit es neben ihr und auf dem Bocke Platz gab – wurde von diesen artig abgelehnt. So rollte sie von dannen. All ihr Denken schien jetzt tief innenwärts gewandt. Sie schlug den Schleier über ihren Hut, weniger um sich gegen den vom raschen Herabrollen des Wagens aufwirbelnden Staub zu schützen, als um ungestörter denken und träumen zu können. Ja, es war ihr doch, als begann sie jetzt zum zweiten mal zu leben, aufzuwachen im Grabe, eine Auferstehung zu feiern von den Todten! Drei Jahre einer nicht etwa erfahrungsarmen, aber doch durch sich selbst bedingten Zeit lagen hinter ihr. Sie hatte sie an den Streckbetten der Jugend zugebracht. Eine Dulderin war sie dabei im Grunde nicht; sich beugen, sich gefangen geben hätte sie nur da können, wo ein stärkerer Arm sie ergriff, wenn auch nur der eines Serlo, der sie regiert hatte, obgleich er ein Sterbender gewesen. Eine Zeit lang reichte aus den Wolken ein solcher Arm; sie suchte ihn zu fassen, sich an ihm zu halten; es war das erste leidenschaftlich bewegte Jahr ihres Wirkens im »Correctionshause der Natur«, wie sie die Anstalt nannte. Diese Hoffnung schlug fehl und die Getäuschte brauchte zwei Jahre, sich zu sammeln und sich ins Leben zurückzufinden. Man hatte sie unter den Kindern gewähren lassen, nachdem sie über die Krisis, um Paula von Dorste-Camphausen's willen entfernt zu werden, durch den plötzlichen Tod des Vaters derselben, des Grafen Joseph auf Westerhof, glücklich hinweggekommen war. Denn wenn Paula die Menschen in zwei Klassen theilte, in solche, die ihre Nerven gleichsam mit der Hand von oben nach unten strichen und sanft auf sie wirkten, und solche, die sie von unten nach oben strichen und sie aufregten und beunruhigten, so erkannte sie in Lucinden zuletzt ein Wesen, das sie, wenn sie länger vereint geblieben wären, zum Steine hätte umwandeln, ja tödten müssen. Paula selbst hatte dies nie gesagt; nur die Beobachtenden fühlten es, und vor allem entschied – Bonaventura von Asselyn, der junge Priester, die Trennung, entschied sie in demselben Augenblicke, wo sie sich durch die Rückkehr Paula's zu den Ihrigen und unter die Vormundschaft des Kronsyndikus von Wittekind, ihres Oheims, von selbst vollzog. Wir finden noch Zeit, alles zu sagen, was Lucinde damals trieb und erlebte. Jetzt bemerken wir, sie brauchte, um schwere Kämpfe zu verwinden, zwei Jahre, und es war vielleicht ihre beste Zeit, die Zeit wenigstens, wo man ihr Wesen ertragen konnte. Sie war die eifrigste Kirchengängerin geworden, wurde von den Geistlichen in Schutz genommen und hatte sogar Gönnerinnen, ein Glück, das ihr von Frauen bisher im Leben noch nicht zu Theil geworden. Da schlug eines Tages der Name einer Frau von Gülpen an ihr Ohr. Fräulein! rief sie berichtigend in ihrer Erstarrung auf. Aber: Frau von Gülpen! hieß es. Sie war die langjährige Freundin eines Dechanten von Asselyn zu Kocher am Fall, einem 39 Städtchen ältesten Ursprungs und zwanzig Meilen weit von dem Ort ihres gegenwärtigen Wirkens. Asselyn! war der zweite elektrische Schlag. Der Onkel jenes erstandenen Serlo? Nein, doch wol nicht Bonaventura's Onkel? Aber Frau von Gülpen suchte für Kocher am Fall eine Gesellschafterin. Ihre Hauptmännin war an den Rhein gezogen. Nein, nein – sie konnte es nicht sein, die als Gesellschafterin eines Geistlichen auch ihrerseits eine Gesellschafterin suchte. Aber – der Geistliche hieß Asselyn! Sie Gülpen! So forschte sie, erfuhr Beruhigendes und entschied sich. Alle ihre Pulse schlugen und tausend wilde Stimmen riefen: Ja, rauscht noch einmal auf, ihr Pforten der Vergangenheit! Jetzt will ich unter euch hintreten wie eine Königin! Will Trotz bieten jedem Auge, das verwundert mich anstarrt! Dies Kreuz hier auf der Brust entsühnt jede Schuld! Das geweihte Wasser an jeder Kirchenthür reinigt meinen Ruf von jedem Flecken! Wiedergeboren bin ich und gefeyt durch das Blut des Erlösers und der Märtyrer! Wer mich anschuldigt, der sehe, ich breche den Stab zuerst über mich! Nichts berührt mich vom Vergangenen auch nur bis zum Saum meines Kleides! Wo ist eine Anklage wider mich? Ich will sie hören! Dann aber, zittert! hab' ich auch Anklagen wider euch! Entlarven kann ich Mörder, aufstöbern aus Schlupfwinkeln Heuchler! Eine Siegerin komm' ich, nachdem ich so tiefe Niederlagen erlitten! . . . Und die letzte Niederlage, an die Lucinde dabei dachte, war nicht jener Tag, wo sie die Jungfrau von Orleans gespielt hatte.

So gestimmt trat sie noch heute vom Dampfboot. Klopfte ihr aber schon das Herz, als sie hörte, St.-Wolfgang läge zwei Meilen ins Land hinein, erschreckte sie der bloße Anruf eines Kindes, das sie wiederzuerkennen schien, wogte und stürmte es in ihr bei der Begegnung mit Benno, beugte sie alles, was ihr fremd, neu war und doch mit dem, was sie wiedersehen wollte, im Zusammenhange stand, so kam sie sich jetzt schon wieder als 40 eine Magd, nicht als Königin vor, jetzt, wo sie sich dem Orte näherte, von dem man ihr aus Kocher am Fall geschrieben hatte: »Sie werden, meine Liebe, nur nöthig haben, vom Dampfboot aus einen Einspänner bis St.-Wolfgang zu nehmen. Dort ist bereits unser Neveu, der Herr Pfarrer von Asselyn, unterrichtet und hält einen Wagen in Bereitschaft, Sie in unsern Kreis zu führen. Gewisse Bedingungen gleich anfangs mündlich! In der Hauptfrage sind wir einverstanden. Petronella von Gülpen.« – –

Die Gülpen, die sie kannte, hatte Brigitte geheißen –

Jetzt blickte sie auf. Die Gegend hatte sich verändert. Vor ihr lag, von den Abendsonnenstrahlen nur noch in seinen obern Rändern erhellt, ein schönes tiefes Thal, das wie eine Muschel mit grünen Streifen in die rings sich verlierenden Berge auslief. Aus dem tiefsten grünen Kern des freundlichen Anblicks ragte die Spitze eines Kirchthurms, von welchem ein Läuten ertönte. Je mehr, vom Hemmschuh aufgehalten, der Wagen niederwärts rollte, desto reicher wurde wieder die Vegetation, desto voller und edler der Baumschlag, desto weiter die Fläche, wo schon längst das in gleichmäßigem Anbau gewonnene Getreide geerntet war. Die Landschaft trug nicht den fast italienischen Charakter derjenigen, die sich um den großen poetischen Strom ausbreitete; aber auch der bedrückende Anblick eines rings von Bergen umschlossenen Gebirgsdorfes, den man auf der Herfahrt hätte erwarten dürfen, bestätigte sich nicht. Gärten kamen wieder und Bienenstöcke, mit ihnen Blumen und selbst die Rebe schmiegte sich nicht nur den Häusern am Spalier an, sondern sie wuchs an sonnigen Abdachungen selbst noch in mancher gefälligen Einzelpflanzung.

Das Läuten bedeutete ohne Zweifel, daß jenes schon im Weißen Roß besprochene Begräbniß in vollem Gange war. Auch Stimmen singender Kinder drangen aus dem Thal empor, 41 zuweilen von einem Klingeln unterbrochen, das den Moment der wol gerade vor dem Altar bei geöffneten Kirchthüren stattfindenden Einsegnung der Leiche bezeichnete. Indem riefen ihr die nachrollenden Italiener hinterwärts ein Lebewohl zu. Sie deuteten auf ein Wirthshaus am Wege, wo sie ihren schwerer ziehenden Gaul füttern wollten. Vergessen Sie nicht – Il Michelangelo! rief ihr Napoleone als guter Kaufmann nach. Beim Dechanten! antwortete sie, aber unvernehmbar schon. Catone zog seine kalkige Mütze, Porzia verneigte sich und machte eine Handbewegung. Sie jedoch sah nichts mehr. Ihr schwindelten die Sinne – Galt es doch Bonaventura von Asselyn wiederzusehen – Serlo's Ebenbild nicht mehr – längst, längst war er ihr ein völlig Anderer, ein unendlich Höherer geworden.

An dem Wirthshause standen Handwerksbursche, Bauern in Kitteln und Blousen, manche mit Militärmützen; sie stellten sich, wie Benno von Asselyn, zu den Uebungen ein; ein Gensdarm revidirte von seinem Gaul Wanderbücher und Passirscheine. Die Italiener zogen ihre Papiere schon in der Ferne.

Beim Anblick der Fuhrleute, die wol hier, um über den Wolfgangsberg zu kommen, Vorspann nahmen, kam ihr eine Erinnerung an die Bäche von Langen-Nauenheim. Sie nahm dann ihre Handtasche, öffnete und zog ein schwarzes Buch mit Goldschnitt hervor, schlug es auf und schickte sich an zu lesen. Die Worte des heiligen Bernhard las sie: »Unsere Gedanken an selig Entschlafene sind Funken, durch welche unsere eigenen Seelen gehoben und entzündet werden« . . . Worte, die den Anfang einer Betrachtung über die Todten bildeten. Sie ganz zu lesen war sie zu erregt. Die Litaneien wurden in dem Ausdruck ihrer Sätze immer deutlicher. Schon war der Leichenzug aus der Kirche auf dem Gottesacker angekommen, schon war eine 42 zahlreiche Bevölkerung um den aufgeworfenen Grabeshügel versammelt. Lucinde befahl mit stockender Stimme dem Kutscher, daß sie während der heiligen Handlung still halten wollten – Jetzt trennte sie nur noch eine niedrige Mauer von dem Friedhofe –

Der Wagen hielt unter dem bergenden Schatten eines breitastigen Nußbaums. Vor ihr stand im weißen Meßgewande, unter Knaben im Chorrock, die brennende Kerzen trugen und das dampfende Weihrauchfaß schwangen, Bonaventura von Asselyn. Seit drei Jahren schon sah sie, an ihn gedenkend, nicht mehr Serlo. Er war schon längst nur – Er selbst!


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