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Inzwischen saß Lucinde in ihrem Mansardenstübchen unter dem Eindruck, den ihr das Wiedersehen Heinrich Klingsohr's als Mönch verursacht haben mußte!
Daß es Klingsohr war, bestätigte Windhack, als er das Licht, das ihr entfallen war, aufhob und in aller Harmlosigkeit sagte, der Mönch käme mit den geistlichen Herren vom Stadtpfarrer, heiße Dr. Klingsohr und in der Stadtpfarrei müßte man noch mehr von ihm wissen, als halt er selbst oder der Dechant. Windhack ahnte nicht, daß er eine Frage beantwortete, die mit Zittern an ihn gerichtet wurde.
Bald aber wußte sich Lucinde auch in diesem Augenblick zu beherrschen. Doch in die Gesellschaft mochte sie nicht zurückkehren oder, wie Windhack sie aufforderte, am Mahle theilnehmen. Die strenge Kälte der Frau von Gülpen, der prüfende Blick des Majors, der so lässige und nur oberflächlich verrathene Antheil des Dechanten benahmen ihr allen Muth, allen Aufschwung. Sie war bei alledem sorglos und ahnte noch keine Gefahr für ihr Bleiben.
Als sie auf Befehl der Frau von Gülpen zu Trendchen Ley gegangen war, hatte sie diese nicht mehr gefunden. Sie hatte dann helfen wollen die zurückgelassenen Sachen der geistlichen Herren an den Wagen nachzutragen und hatte kaum einen Blick durch das 20 vergitterte Fenster des untern Estrichs geworfen, während Windhack vor der großen Hauptpforte stand, als sie vor dem geschorenen Haupte eines Mönches, der aus dem Wagenschlage sich vorbeugte, zurückfuhr. Die Beleuchtung durch Lichter, durch den aufgegangenen Mond und die noch nicht ganz entschwundene Tageshelle war zu sicher, der markirte, scharfe Kopf Klingsohr's war mit keinem andern zu verwechseln und die Bestätigung, daß sie sich nicht geirrt, folgte durch Windhack auf dem Fuße.
Wollen Sie nicht zum Souper kommen? fragte nach einer Viertelstunde der Alte noch einmal.
Durch die geschlossene Thür ihres Mansardenzimmers bat sie, allein bleiben zu dürfen und sie wegen ihrer Ermüdung zu entschuldigen.
Ihr Zimmer war klein, sehr niedrig – fast stieß sie mit dem Kopf an die Decke – Sie machte sich Licht – sie hätte alle Fenster des Hauses aufreißen mögen, um Luft zu schöpfen, – ihr Stübchen hatte nur ein Fenster – sie fürchtete zu ersticken – »Beim Stadtpfarrer würde sie mehr erfahren« – Dies Wort des alten Windhack hallte ihr unaufhörlich wieder. Sie hatte Briefe an diesen Beda Hunnius – die allerdringendsten Empfehlungen – Empfehlungen, die mit »pressant« überschrieben waren – Sie suchte nach diesen Briefen – dabei blieben ihr die Hände wie gelähmt und fast wie im Gelächter klang es schon und hallte ihr im Ohr: Klingsohr ein Mönch! Und katholisch! Wie sie –! »Sind Sie katholisch?« hatte sie einst zu ihm gesagt, als er einen Blütenzweig in die Erde pflanzen wollte, wo sie gestanden, damals, als sie von ihm auf dem Wege vom Düsternbrook so seltsame und ihr fremde Gedanken vernommen. »Du sprichst ein großes Wort gelassen aus!« hatte er erwidert – Sie ging auf und nieder in dem engen Zimmer, alledem nachdenkend.
21 Dann suchte sie in ihrem kleinen Koffer nach den Briefen. Sie fand sie in ein Convolut alter Papiere versteckt, die sie seit drei Jahren besaß. Es waren die nach Serlo's Tode aus dessen Nachlaß an sich genommenen Aufzeichnungen desselben – seine oft von ihm vorgelesenen Tagebücher. Sie kannte jede Stelle darin und nicht eine Secunde brauchte es, daß sie eine Seite aufgeschlagen hatte, die jenen Beda Hunnius betraf. Firmian Neumeister, genannt Serlo, war, obgleich älter, mit ihm im geistlichen Convict gewesen. Bei diesem Hunnius konnte sie von Klingsohr mehr erfahren – von Klingsohr, der jetzt – –! Sie wußte selbst nicht, was sie that, als sie, um den überwallenden Strom ihrer Empfindungen zu dämmen, die Schilderung wieder las: »Wir ältern Schüler hatten die Aufsicht über die jüngern. Schon ganz kleine Knaben kamen ins Convict und mit den glücklichsten Anlagen für ihren künftigen Beruf. Die Lehrer hatten die Erziehungsgrundsätze der Jesuiten angenommen. Wir wurden von allem zurückgehalten, was nur irgendein eigenes und selbständiges Leben in uns und aus uns hätte entwickeln können. Jede Stunde, ja jede Minute hatte ihre Beschäftigung, ihre eigene Aufgabe. Nur wenn man aus einem Traum erwachte, bot die Ruhe der Nacht die Gelegenheit zum stillen Selbstgespräch. Nur in solchen Nächten ermöglichten sich meine Betrachtungen über Menschen und Dinge. Mit dem Glockenschlag fünf begann die gewohnte Ordnung mathematisch genau abgegrenzter Beschäftigungen. Einer der Schüler belauschte den andern. Man wurde angezeigt, wenn man Runzeln auf der Stirn hatte! Ich weiß es noch wie heute, daß ein Schüler, ein kleiner Bauernknabe, mindestens sieben Jahre jünger als ich, den ich zu beaufsichtigen hatte, ein gewisser Hunnius, mich anzeigte, wenn ich die Stirn in Runzeln gelegt hatte! Diese Nachlässigkeit wurde vom Rector scheinbar nur aus Schönheitsrücksichten getadelt und abgestraft. Man sagte: Du sollst dein 22 Aeußeres pflegen! Dein Leib ist ein Tempel Gottes! Wie kann eine Seele zu dir Vertrauen fassen, wenn du mit düsterer, gefurchter Stirn sie anblickst! Die Wahrheit war aber keine andere als die, daß gerunzelte Stirnen Denker verrathen, mindestens Träumer, die in sich selbst versunken Betrachtungen anstellen, die ihnen nicht von außenher veranlaßt und geheißen wurden. Dieser boshafte kleine Verfolger meiner Stirnrunzeln war auch schon der eifrigste und gewandteste Escamoteur des sogenannten Signums. Das Signum war eine Art Denkzettel von Blech, welchen derjenige umhängen mußte, der irgendein Versehen sich hatte zu Schulden kommen lassen. Er trug das Signum so lange, bis er an irgendeinem andern eine Unregelmäßigkeit entdeckt hatte, der es dann statt seiner tragen mußte. Da aber derjenige, der das Signum Abends neun Uhr umhatte und auf der Jagd der Angeberei der letzte geblieben war, gleichsam dann für alle bestraft wurde – Opus operatum auch hier! – und ein verhältnißmäßiges Fastengebot erhielt oder irgendeine Arbeit verrichten mußte, so kann man sich denken, wie aufgelauert wurde, um das Signum immer weiter denunciren und lügen zu können auf einen andern! Ich alter, achtzehnjähriger Knabe war gewöhnlich der Unglückliche, der für die Vergehen von einem Dutzend anderer Abends neun Uhr zu büßen hatte. Und ich sage nur, wie die menschliche Natur früh auf alles, was sie geistig verkrüppeln kann, vergnüglichst eingeht! Niemals kam der jüngste von allen, der kleine Hunnius an die Reihe, der letzte zu sein! So verschmitzt war hier schon ein Kind, so listig, daß es noch Abends wenige Minuten vor neun Uhr einen Frevel an einem seiner Kameraden entdecken konnte, dem das Signum dann kurz vor Thoresschluß zugeschanzt blieb. Gab es keinen Verstoß, der anzuzeigen war, so lockte man einen hervor. Dazu bedurfte es blos doppelter Verschmitztheit; denn der Reiz zur Sünde ist 23 immer da. Von Freundschaft und Liebe konnte bei so durcheinander gehetzten jungen Seelen keine Rede sein. Wir wurden zur Predigt der Liebe angeleitet und in unserm Innern kochten Haß und Rache. Alles zur größern Ehre Gottes!«
Eigentlich war Lucinde auf dem Standpunkt, bei solchen Mittheilungen eher Partei gegen als für Serlo zu nehmen. In jener Denkweise, die sie Klingsohr, ja Serlo selbst verdankte, hatte sie gelernt, eine resolute Entschlossenheit der Menschen für die Abwehr ihrer gegenseitigen Schlechtigkeiten für vollkommen gerechtfertigt zu halten. Sie lachte schon oft über den kleinen Hunnius und nahm ihn für einen Erzschelm, der gerade so mit den Menschen verfuhr, wie man mit ihnen verfahren müsse und wie sie einst selbst sich gegen die Tücke der Frau von Buschbeck geholfen hatte. Selbst Bonaventura, dem sie einst diese Art der Erziehung vorhielt und unter der gewöhnlichen Beichtstuhlfirma, »sie würde von Zweifeln gequält« (ihr Verhalten zum neuen Glauben war, den wirklichen Haß gegen die hinter ihr liegende protestantische Welt ausgenommen, nur ein äußerliches und die Benutzung desselben zum Zweck) diese SignumAnekdote erzählte, hatte gesagt: Man glaubt das Fundament unserer Kirche erschüttert zu haben, wenn man allen Aberwitz aufdeckt, auf welchen die Einsamkeit der Geistlichen und die Furcht vor Anfechtung verfallen ist! Die künftige Lebensstellung des Priesterstandes ist eine so schwierige, daß die Angst, es möchten sich keine Menschen finden, die ihm Genüge leisten können, seit Jahrhunderten bei uns auf solche Auskunftsmittel für eine zur innern Heiligung vorbereitende Erziehung verfallen ist!
Die Gäste unten hatten das Haus verlassen – alles war still geworden. Der Mond trat immer heller hervor und verklärte den Park mit magischem Lichte. Von Benno, von Hedemann, von Thiebold de Jonge, von Bonaventura, den Italienern 24 entdeckte sie keine Spur. Auch brachte die kleine Gertrud Ley – wenigstens hörte sie nichts – keine Botschaft von ihrer sterbenden Mutter. Die Erzählung des Dechanten hatte Lucinden in ihr eigenes Jugendleben zurückversetzt – zurückversetzt in das Leben ihrer Geschwister – in den Tod derselben – auch den Tod ihrer beiden letzten Brüder – Gustav und August lebten nicht mehr – sie hatten aus dem Besserungshause entfliehen wollen, hatten an einem Seil aus einem hochgelegenen Fenster sich niedergelassen – ein Geräusch treibt den zweiten Flüchtling, sich aus dem Fenster dem ersten nachzuschwingen, während dieser noch nicht am Boden ist – das Seil reißt, beide verunglücken – – vor einem Leben, das gewiß nur das des Verbrechens hätte werden können! tröstete sich schon damals Lucinde. Es war fast drei Jahre her, als sie die Kunde traf; gleich nach ihrem Eintritt in die orthopädische Anstalt. Daß sie diesen Tod getrost auf ihre Rechnung schreiben konnte, hatte ihr oft schon das Gewissen gesagt und ebenso oft auch schon wieder hatte ihre Philosophie der Selbsthülfe und des erlaubten Widerstandes gegen das feindliche Leben sie von jedem Vorwurf freigesprochen.
Zur Ruhe gehen konnte sie nicht. So in ihrer Aufregung den Tag schließen, so sich mit tausend quälenden Gedanken aufs Lager werfen? – Unmöglich für eine Phantasie so voll wühlender Ungeduld – –
Die Kleinheit des Zimmers machte sie jetzt verzweifeln. Sie riß die Thür auf. Unten hörte sie noch reden. Frau von Gülpen war es, die sich bei den Mägden sicher stellte, daß niemand sich etwa einfallen ließ, sich vom Lärm der Stadt, von der Neugier auf die Einquartierten aus dem Hause verlocken zu lassen. Lucinde lächelte und sagte kopfschüttelnd: Ganz wie meine Alte!
Zuletzt regte sich nichts mehr im Hause. Sie griff nach Hut und Mantel. Wenigstens in den Park wollte sie gehen und mit 25 einer Wanderung durch die Baumgänge die stürmenden Gefühle ihrer Brust beschwichtigen. Wie auch hatte ihr das Leben dieses Parks poetisch vor Augen gestanden! Sollte davon denn auch nichts, keine einzige ihrer Ahnungen sich erfüllen?
Sie mußte hinaus. Schon allein das Bild des Mönches Klingsohr wuchs vor ihren Augen so riesengroß, daß es gleichsam die Decke des kleinen Zimmers sprengte. Es zog sie, wie wenn sie über Länder und Ströme, über Heiden und Moore fliegen müßte zu dem fernen Meere hin, an dessen Ufern sie einst gelebt hatte, zu dem Strande der Alster, wo Klingsohr im Schilfrohr das blutige Haupt seines Vaters zu sehen gefürchtet. Und wollte nicht zuletzt auch noch Bonaventura kommen? Wollte er sie denn nicht gleich schon heute die Wonne fühlen lassen, doch irgendwie berechtigt in seiner Nähe weilen und an seinen Lebensschicksalen betheiligt scheinen zu dürfen? Mit diesen Empfindungen war sie schon auf der Stiege.
Sie hatte leise ihr Zimmer zugedrückt. Behutsam ging sie hinunter. Nichts hörte sie als das Knistern ihrer Schuhe auf der steinernen Treppe. Unten steckte der Schlüssel in der Hauspforte. Sie schloß auf, öffnete und trat hinaus. Sollte sie den Schlüssel mitnehmen? Mitnehmen? Wohin? Wußte sie schon, daß es im Park sie doch nicht halten würde, daß sie sich weiter wagen müßte, wenigstens bis an die Kathedrale hinauf? Sie ließ den Schlüssel stecken und drückte nur leise die Thür wieder zu.
So trat sie auf die steinernen Fliesen, die rings das Schlößchen umgaben. Dann kam ein kleiner Rasen mit einem Springbrünnchen, der kaum einige Fuß hoch spielend tröpfelte. Dann folgte eine Baumallee. Auf einer Steinbank ließ sie sich nieder.
Wie blickte sie zagend auf das Haus, in dem ein Licht jetzt nach dem andern erlosch! Das Piano, auf dem sie sich leidlich 26 geltend zu machen wußte, hatte man sie noch gar nicht aufgefordert anzurühren. Sie hatte ihre eigenen bizarren Weisen, in denen sie sich in solchen Abendstunden und solchen Stimmungen anziehend zu ergehen verstand. Wie hätte sie jetzt auf ihm dahinstürmen mögen! Und nun saß sie hier »auf Probe«, so gebunden, so Bettlerin, so eine Ausgestoßene und Geduldete nur. Kaum ein Liedchen hätte sie trällern dürfen, um das tausendstimmige Concert in ihrer Brust, ein Hämmern und Klopfen wie auf tausend verborgenen Tasten, irgendwie zu verrathen – ein sie befallendes Hüsteln sogar mußte sie schon zwingen aufzustehen und sich mehr zum Park zu entfernen.
Sie lauschte dem Plätschern des Quellchens, dem Rauschen der Blätter, dem Geräusch der Stadt. Erst jetzt fühlte sie, daß sie ja die Briefe für Hunnius zu sich gesteckt hatte! Einer von ihnen war »pressant«. Wenn sie ihn heute noch abgäbe? Jetzt, nachdem die neunte Stunde schon geschlagen?
Aber durfte sie so spät noch in der Stadtpfarrei vorsprechen? Das war im Grunde das Wenigste. Zu dem Reiz, der das katholische Priesterthum umgibt, gehört seine freistehende, durch kein Familienleben gebundene Allen-Angehörigkeit. Da fragt kein Eheweib: Was wollen Sie von meinem Mann? Da sind keine Kinder, an deren Bettchen, wenn sie krank sind, ein Vater der Mutter wachen hilft! Diese katholischen Priester sind wie die Aerzte. Man darf sie des Nachts aus ihrer Ruhe klingeln. Man darf sie am Tage in ihrem Studirzimmer überraschen. Man braucht nur um einen Schemel zu bitten, um zu knieen und mit ihnen zu beten. Katholische Priester verlangen auch keine Einführung, keine Empfehlungsschreiben, sie sind sofort mit dem Menschlichsten im Menschen vertraut und einer ist dann wie alle; die Frage, die ihr ganzes Leben vertritt, ist unter ihnen und bei jedem dieselbe. Wie viel Tausende von Frauen, 27 die im Leben keinen Freund und Vertrauten zu gewinnen wußten, gehen ihnen wahnbethört auch nur um deswillen nach!
Ohne daß sich Lucinde an die übrigen Wege des Parkes hielt, schoß sie quer durch die vom Mondlicht beschienenen Bäume an die steinernen Stufen hin, die zum Dome hinauf und von dort wieder abwärts der Stadt zuführten. Trotz der späten Abendstunde war das sonst so stille Städtchen heute so lebendig wie im ganzen Jahre nicht. Die zu den Uebungen Berufenen zogen truppweise durch die mondscheinhellen kleinen Gassen, andere saßen in den Wirthshäusern und sangen. Da erscholl Musik, dort der Lärm fallender Kegel. Von ihren gestern und heute gemachten Bekanntschaften konnte Lucinde annehmen, daß sie sich bei dem Obersten von Hülleshoven befanden, Hedemann vielleicht ausgenommen, der sicher den Lieutenant von Enckefuß vermied. Die Italiener schienen in Kocher noch nicht angekommen zu sein.
Lucinde ging und ging und fragte die Leute nach der Stadtpfarrei. Es war ihr, als müßte sie doch vielleicht irgendwo Benno sehen. Den hätte sie nicht lieben können, diesen schroffen Humoristen! Er gab sich absichtlich so unpoetisch – er kehrte so oft die Seiten nur seines Verstandes heraus – er schien ihr zu sicher, klar und zu bewußt in sich selbst – Thiebold de Jonge erinnerte sie fast an Oskar Binder – Aber beide Männer waren zuvorkommend, man konnte mit ihnen scherzen, ausgelassen sein – Jetzt hätte sie sich an Benno's Erstaunen weiden mögen, wenn er sie Abends gegen halb zehn Uhr im Mondenschein so durch die Straßen wandern sah in der allgemeinen Aufregung. Sie würde seinen Arm ergriffen und ihn fortgezogen haben. Entdeckte man ihren Ausgang in der Dechanei, so sann sie, was sie vorschützen würde. Die dringenden Briefe an den Stadtpfarrer, die sie vergessen gehabt hätte am Tage abzugeben, schienen ihr doch 28 einige Bedeutung beanspruchen zu dürfen. Und wenn Hunnius wirklich noch zu sprechen war – sie hatte sich schon bis zum Marktplatz durchgefragt – wenn sie von ihm allzu lange aufgehalten werden sollte, konnte sie nicht das Interesse für die Erzählung des Dechanten von der sterbenden Frau Ley und den wirklichen Drang, den sie hatte, Trendchen beizustehen, zu ihrer Entschuldigung benutzen? Lucinde gehörte zu den Naturen, die sich bei großen Schwierigkeiten durch das Wort zu helfen wissen: Ans Leben wird mir's doch nicht gehen! Das hatte sie schon in Langen-Nauenheim so gehalten, wenn andere Theilnehmer einer gemeinschaftlichen Schuld sich verzweifelnd der Strafe entgegenängstigten. Freilich lag ihr alles daran, an der Lage, in der sie sich bisjetzt in der Dechanei befand, nichts zu ihren Ungunsten zu ändern. Sie ahnte ihre Gefahren nicht.
Endlich war sie an der Stadtpfarrei. Im ersten Stock war noch Licht. Eine Klingel hing am Hause. Unerschrocken zog sie daran. Viel schneller, als sie es in geistlichen Häusern gewohnt war, ging die Thür auf. Schon war Lucinde auf der Treppe und wurde von einer Magd empfangen und dann forschend angeleuchtet.
Das späte Klingeln brachte Hunnius mit einer Aufregung in Verbindung, in der er sich seit einigen Stunden, mehr noch als in der Conferenz, befand. Man hatte in der That die letzte, eben zum Druck bestimmte Nummer seines Kirchenboten auf der Polizei von Anfang bis zu Ende gestrichen. Der Fall war schon oft vorgekommen; immer aber regte er ihn so auf, daß er die halbe Nacht darüber verlor. Da er dann Aenderungen vorschlug und in jeder Minute neue Botschaft erwartete, konnte das Schallen der Klingel ihn veranlassen, sogleich selbst auf die Treppe zu eilen, die Brille auf die vor Aufregung geröthete breite Stirn zu ziehen. im Schlafrock, in Pantoffeln, mit der brennenden Pfeife in der 29 Linken, mit der Studirlampe in der markigen Rechten – und forschend, fragend jedem entgegenzurennen, eher einem aufgeregten, nach Ordnung sehenden Wirthe ähnlich, als einem Gelehrten. So auch heute. Er kam, wie nur ein Mann seines Temperamentes, dann aber auch freilich ein Schriftsteller kommen konnte, der sich in jener traurigen Zeit jede geschriebene Zeile vom Censor begutachten lassen mußte.
Hunnius, ungestüm und überreizt, fand eine Dame – eine elegante noch dazu – Rasch bedeckte er mit den Flügeln des Schlafrocks sein Négligé, zog die Pfeife aus dem Munde, überließ Lucinden der Dienerin und entfernte sich mit einigen Worten der Entschuldigung.
Lucinde wurde in ein Empfangszimmer geführt. Die Magd stellte ihr die Lampe hin und entfernte sich.
Nach einer Weile öffnete der Stadtpfarrer und bat Lucinden näher zu treten in sein eigenes Zimmer. Er hatte inzwischen schnell seinen schwarzen Rock und seine Stiefel angezogen und bot seinem Besuche einen Platz auf dem Kanapee, während er selbst mit großer Beweglichkeit in gespannter Verlegenheit einen Stuhl ergriff.
Das Zimmer bot die oft etwas gesuchte Einfachheit geistlicher Wohnungen. Auf dem Tische vor dem harten Kanapee lag eine fast wie in absichtlichem Ungeschmack gewählte baumwollene Decke; in der Mitte stand ein Crucifix von wurmstichigem alten Holze. Schildereien, Bücherschränke, Sessel, alles von der größten Einfachheit. Im Volke setzt man solche Entbehrungen beim geistlichen Stande voraus, beurtheilt ihn darnach und dieser richtet sich auch darauf ein.
Hochwürdiger Herr Pfarrer! begann Lucinde. Ich bin eine Nichte der Frau von Gülpen in der Dechanei und bin heute erst angekommen! Ich nahe mich Ihnen, verlangend, die erste Nacht, 30 die ich in einem neuen Wirkungskreise zubringe, mit einem Gebete unter geistlichem Beistand anzutreten. Beim Herrn Dechanten fürcht' ich eine Misdeutung dieser Absicht durch meine gütige Tante und wage mich deshalb zu Ihnen. Auch hab' ich Briefe und einen dringenden vom Herrn Curatus Joseph Niggl an Sie abzugeben!
Ein Wunder die erste Anrede – und leider so schnell natürlich erklärt! Eine Nichte aus der Dechanei, die mit dem Stadtpfarrer beten wollte? Eine religiöse Schwärmerin? Jetzt nur einfach eine an ihn Empfohlene – die zwei Briefe abgibt, auf deren einem »pressant« zu lesen ist! Der letztere kam allerdings von einem seiner vertrautesten Freunde und Hunnius fand sich zurecht.
Doch las er den Brief nicht sogleich, sondern fragte Lucinden nach ihrer Reise, nach ihrem frühern Aufenthalt. Was eine Nichte in der Dechanei bedeutete, wußte Hunnius, doch behandelte er das Verhältniß mit Schonung, ja er war sogar höchst überrascht, als Lucinde wirklich den Kopf unter dem nicht abgenommenen Hute auf die gefalteten Hände beugte und nicht eher aufblickte, als bis er ein Confiteor, das er in Versen übersetzt sogleich zur Hand hatte, laut vorgesprochen und sie gesegnet hatte.
Ohnehin erregt und nun vollends von einer an diesem Orte ihm noch nicht oft vorgekommenen Scene, erbrach er erst jetzt den wichtigern der beiden Briefe. Lucinde bat ihn darum.
War Hunnius bereits von seines befremdenden Besuchs hoher, fast stolzer Gestalt, von der Schönheit der Gesichtszüge, dem geistvollen Ausdruck der Augen und dem sozusagen räthselhaften Duft, der sie umgab, im höchsten Grade belebt und angeregt, so steigerte sich sein Interesse noch beim Lesen. Von Zeile zu Zeile wuchs der Ausdruck seiner Ueberraschung Er zog die dunkeln 31 buschigen Augenbrauen in die Höhe und unterbrach sich fortwährend mit einem Hm! Hm! O das ist ja herrlich! bis er zu Ende war. Nun überflog er noch einmal und gleichsam wie zweifelnd die an ihn gerichtete Adresse, überzeugte sich von der Unterschrift, zog sein Portefeuille, legte den Brief vorsichtig hinein und reichte Lucinden in verklärtester Miene die Hand mit den Worten: Das muß ich mir ja zu seltenstem Glücke deuten, mein Fräulein, in Ihnen eine solche Bekanntschaft zu machen! Sie sind zu unserer Kirche zurückgekehrt! Und mehr! Mehr! Sie haben den Muth, Ihre neue Gesinnung auch zu bewähren! Sie kennen die Welt genug, um mit Vortheil die geistlichen und weltlichen Waffen zu führen in dem Kampfe, den wir alle jetzt zu kämpfen haben! O und das jetzt in diesem Augenblicke, wo – Er horchte auf. Es schien ihm als wenn der Druckerbursche die gerettete Nummer brachte.
So gut bin ich Ihnen empfohlen worden? fragte Lucinde, die den Grund seiner Selbstunterbrechung und plötzlichen Abwesenheit nicht kennen konnte.
Lesen Sie es selbst! erwiderte Hunnius, griff in sein Portefeuille und reichte ihr den Brief Joseph Niggl's zurück.
Der gute Herr Curatus! sagte sie und lehnte das Lesen ihrer eigenen Lobeserhebungen ab.
Nein! Nein! erwiderte Hunnius halb zerstreut. Sich gerühmt zu sehen, ist eine Ermunterung!
Und nun las er, seufzend über den nicht gekommenen Druckerburschen, selbst: »Hochwürdiger, hochzuverehrender –« Ja so unterbrach er sich. Ich habe mich vergriffen! Das ist nicht der rechte Brief! Indessen – Sieh! Sieh! Wenn – Entschuldigen Sie mich nur, daß Sie mich in solcher Zerstreuung finden! Schon wieder ist meine harmlose schriftstellerische Thätigkeit Gegenstand der rücksichtslosesten Verkürzung geworden – Verkürzung 32 der Luft, des Lichtes, der Freiheit, des Athems – denn alles das rauben sie uns! Meine ganze morgen fällige Nummer ist mir von Anfang bis zu Ende gestrichen worden! Jeden Augenblick erwart' ich Antwort auf einen Vorschlag, den ich wenigstens zu Aenderungen machte! Kommt aus der Druckerei kein Bote zurück, so bleibt es bei diesen Leichensteinen – bei diesem Mord durch persönliche Willkür. Blau ist die Tinte, die diesen Menschen statt Blut unter den Händen fließt! Sehen Sie nur! – – Damit zeigte er den Censurbogen eines kleinen Blattes, das mit blauer Tinte ganz durchstrichen war.
Lucinde drückte ihr Bedauern aus und suchte eine Gelegenheit, auf Klingsohr überzugehen, durch den sie mit solchen Vorgängen des literarischen Lebens schon früh bekannt geworden.
Beim Zusammenfalten seines Blattes kam dem Stadtpfarrer wieder der verwechselte Brief von vorhin zu Handen. Ja, sagte er, im Portefeuille suchend, wo ist denn Niggl's Empfehlung? – Aber – doch, doch – Sie sollten auch diesen Brief hier lesen! Ich nehme keinen Anstand, Sie damit bekannt zu machen. Da ich Ihre Gesinnung kenne, da Sie eine streitbare Jungfrau sind, die ihre Fahne zum heiligen Kampfe mittragen will, mein Fräulein, so hören Sie in Gottes Namen, wie wir denn doch nicht so ganz verlassen sind in unserer Noth! Lesen Sie selbst! Da wir uns über vieles werden zu verständigen haben, so lernen Sie sogleich Ziel, Methode, Absicht, Zusammenhang unserer schwierigen Aufgaben und Kämpfe kennen! – – Bei alledem horchte Hunnius stets, ob es nicht klingelte –
Von wem ist der Brief? fragte Lucinde, als sie keinen Namen fand.
Das sei noch eine Weile mein Geheimniß! Er ist von einem höchst einflußreichen Manne . . .! Lesen Sie getrost! Zugleich ging Hunnius an die Thür und überzeugte sich, daß seine 33 aufgeregte Phantasie sich wieder geirrt hatte. Die Kinder seines Geistes ruhten sanft auf dem Friedhofe der Censur! Nichts rief sie ins Leben zurück! Nichts rettete wenigstens diejenigen unter ihnen, die diesmal wieder das schöne Kleid seines Stiles getragen hatten! Noch beinahe vor der Geburt hatten sie das für Zeitschriften ohnehin so kurze bunte Schmetterlingsdasein ausgehaucht!
Er ging auf und nieder und bat Lucinden, wie mit einer Art innerer Genugthuung, laut zu lesen.
Im Vertrauen auf die Wunderdinge, die der Curatus Niggl von ihr geschrieben haben mußte, that sie es. »Hochwürdiger, hochzuverehrender Herr!« hieß es. »Die Antwort auf Ihren so angenehmen Brief nächstens! Jetzt zwei Bitten! Erstens: Wissen Sie mir nicht eine kurze Charakteristik aller Dechanten unserer Kirchenprovinz anzugeben? a) Wie gesinnt gegen Rom? b) Gegen Cölibat? c) In Wissenschaften und Fähigkeiten? Zweitens: Wüßten Sie mir nicht einige junge in den drei Beziehungen gute Leute zu nennen, namentlich aus Belgien? Es wäre (sed tantum inter nos!)...«
Nur unter uns! übersetzte Hunnius schnell und fast gedankenlos.
»Sed tantum inter nos!« wiederholte Lucinde, die noch nicht ihre Bekanntschaft mit Roms alter Sprache verrathen mochte, ohne Anstoß. »Es wäre uns eine große Freude, einige Jesuiten hereinzubringen! Wüßten Sie einige, die geläufig deutsch sprechen? Aus der Schweiz oder aus Rom würde zu auffallend sein . . . Mich Ihrem Gebet empfehlend, verbleibe ich Ihr ergebenster Freund. Alles zur größern Ehre Gottes!«Ein aus der geschilderten Zeit herrührender und später mit Beschlag belegter actenmäßiger Brief.
34 Die Empfehlung solcher Freunde, wie sie Ihnen zu Theil wurde, sagte Hunnius, gestattet, daß ich Sie tiefer in unsere Interessen einblicken lasse! Aus demselben Portefeuille zog er einen zweiten Brief und ließ auch diesen Lucinden lesen, indem er auf- und niederging, bald zum Fenster blickte und auf jedes Geräusch achtete, bald sich aber auch an dem Anblick Lucindens, am Ton ihrer Stimme, am erneuten Ueberblick des ganzen, so wunderbar überraschend ihm gekommenen Verhältnisses weidete.
»Die Zeit ist reif!« las Lucinde. »Man muß mit Gewalt alles ergreifen! Der Herr Kirchenfürst gibt zu allem seinen Segen, thut aber einstweilen bei allem noch die Augen zu, sodaß unsere Unternehmungen nur Privatunternehmungen sind! Ich will kurz nacheinander in unserer Kirchenresidenz vier Jesuiten, in der nahe gelegenen Universität einen unterbringen! Diese werden schon einen Wirkungskreis erhalten. Ich ziehe einige talentvolle Knaben ganz zu diesem Zwecke heran und an der Universität sind mehrere der talentvollsten Theologen, die in den Orden treten wollen. Mit diesen errichten wir einen Glaubensbund und bringen sie dann mit den hiesigen Jesuiten in Verbindung. Von Rom werden zwei Jesuiten erwartet. Sie bringen scheinbar ärztliche Atteste mit, welche ihnen nur vorschreiben, in unserer Gegend zu verweilen. Die Missionen treten da und dort ins Leben; bei uns ist es noch schwer. Der Herr Kirchenfürst wünschen sehr, daß alle Wallfahrten wieder ins Leben treten! Ich bitte, arbeiten Sie, wie Sie können, daß alles Abgeschaffte wieder aufgenommen werde. Mit aller Verehrung Ihr ergebenster M. Alles zur größern Ehre Gottes! Der Sicherheit wegen nicht frankirt. Thun Sie es ebenso.«Auch dieser actenmäßige Brief wurde im Jahre 1837 mit Beschlag belegt.
35 Und einen dritten Brief las Hunnius dann noch selbst. Sie thaten ihm als Ableiter seines Zornes wohl. Triumphirend betonte er:
»Die gute Wendung der Wallfahrtsangelegenheit macht mir erstaunliche Freude. Wie gerne macht' ich selbst einmal die Springprocession mit, wenn es meine Geschäfte erlaubten! Sorgen Sie für Ihre Gegend: nur daß man es mit der Regierung nicht unrecht angreift, dann ist alles verloren! In all der Drangsal, die wir leiden, habe ich doch auch manche Freude. Mehrere Pfarrer sind verklagt. Je mehr, desto besser! Geben Sie dem ›Kirchenboten‹ mehr Nahrung! Man muß immer hervorheben, wie jede Beschränkung und Hemmung der Kirche und jede Auflösung des Gehorsams gegen Bischöfe und Rom auch die Grundfesten des Staates untergrabe! Das ist für die Fürsten ein Argumentum ad hominem!...«
Hunnius unterbrach sich, um diese Worte zu übersetzen . . .
Das greift den Fürsten an ihre eigene Krone! fiel Lucinde schon ein.
Wie? erwiderte er staunend. Aber kein Wunder, mein im Heiland geliebtes Fräulein! Niggl schreibt mir ja von Ihnen, daß Sie ein Wunder nicht nur in –
Bitte! unterbrach sie und ermahnte den sich ihr Nähernden zum Weiterlesen.
»Die guten Folgen der Mission freuen uns!« fuhr Hunnius fort. »Es muß uns glücken, über ganz Deutschland die Jesuiten als Prediger auszubreiten. Ich erwarte mit jedem Tage 2000 Missionszettelchen. Es wird alles gut gehen! Ihr ergebener M. Alles zur größern Ehre Gottes!«Gleichfalls actenmäßig.
Lucinde dankte für das ihr geschenkte Vertrauen und wollte sich entfernen.
Es schlug von den Thürmen der Stadt schon ein Viertel auf elf Uhr.
Fräulein, sagte Hunnius, ich begleite Sie selbst zurück. Ich stehe, obgleich geistig auf völlig anderm Boden, doch gesellschaftlich sehr gut mit der Dechanei. Bitte! Lesen Sie aber noch, was Niggl von Ihnen selbst geschrieben hat!
Obgleich sie es wiederholt ablehnte, ließ Hunnius doch nicht nach. Es wird uns enger verbinden! sagte er mit Salbung. Es wird das Symbol unserer von ihm gewünschten Vereinigung werden! Wir haben dann ein gleichsam ausgesprochenes Bekenntniß, das sichere Fundament unsers Verständnisses, den geschriebenen Pact unsers Seelenbündnisses!
Der gute Curatus! sagte Lucinde sich zurückziehend und ließ die Vorlesung geschehen. Sie that es, theils um ihren neuen, so schnell gewonnenen Freund harmlos zu zerstreuen, theils aber auch, weil sie allerdings auf diese Art erfahren konnte, warum Grützmacher hatte sagen können, er wäre über sie »ins Klare« und warum auch Major Schulzendorf sie so scharf und gleichsam wie eine mit Steckbriefen Verfolgte hatte beobachten können.
»Mein innigstgeliebter und gefeierter Seelenfreund!« las Hunnius (und diese Worte nicht ohne beschämt niederblickende Genugthuung), »Sie lernen mit diesem herzinniglichen Gruße nach langem, unverzeihlichstem Schweigen ein Fräulein Lucinde Schwarz kennen, wie man sagt, die Tochter eines einfachen protestantischen Dorfschullehrers. Vor drei Jahren kam diese Seltenste ihres Geschlechts als Gehülfin in die Ihnen bekannte orthopädische Heilanstalt und wurde an demselben Tage, wo wir drei, Sie, mein innigstgeliebter Freund, unser Herr von Asselyn und meine Unwürdigkeit, die letzten Weihen empfingen, in plötzlicher 37 Erleuchtung vom Geiste der Wahrheit ergriffen. In unserer ehrwürdigsten Kathedrale wurde sie von unserm hochwürdigsten Bischof selbst dem Schoose unserer gnadenreichsten Mutter einverleibt. Ja Ihnen, Ihnen, Hunnius. der Sie so ganz der Musik der menschlichen Seele in ihren tiefsten Accorden nachzulauschen verstehen – Ihr letztes Gedicht: ›Myrrhe und Aloe‹ –« Eine kleine Pause und Auslassung im Lesen war hier natürlich . . . »Ihnen schreib' ich«, fuhr Hunnius nach einigem Murmeln fort; »das Leben dieser Neugeborenen muß ein außerordentlich bewegtes gewesen sein! Da sie bald durch Anmuth und Geist hervorragte, so bildete sich, wie in solchen Fällen zu geschehen pflegt, in kurzem gegen sie eine Anfeindung, die eine Beschuldigung nach der andern gegen sie aufbrachte. Aber allen diesen Angriffen stellte Fräulein Schwarz ihre aufrichtige Wiedergeburt entgegen. Diese wurde ihr reiner, heller, metallener Schild, der sie gegen alles Ungebührliche schützte! Ihre Andacht wurde jene glühende Hingebung an die ewige Liebe, die, auch nach dem Rauschen Ihrer Harfe, Hunnius, die Seele von allen Schlacken reinigt! Sie sah und sie hörte auf nichts, was sie umgab. Sie lebte nur ihrem Berufe, ihrem neuen Glauben. Ihre Augen, von denen sie behauptet hatte, daß sie nie geweint hätten, obgleich sie Vater, Mutter, Geschwister, Freunde, Glück und alles, nur die Ehre nicht, verlor, waren stets umflort von dem feuchten Schimmer frommer, gleichsam – vergessen gewesener Thränen. O führen Sie das einst aus, Hunnius, in einem Gedichte! Vergessene, verstockte, sitzengebliebene Thränen! Wenn die einst zu strömen und zu rinnen anfangen! Diese Flut dann, dieser heilende Bethesdateich! . . . Diese Seele gestand mir oft, daß ihr alles Leid, was ihr je widerfahren, erst jetzt den Zoll der Thränen abforderte, daß sie über alles, worüber sonst ihr Auge trocken geblieben, nun erst nachträglich weinen müsse und – das ist der Triumph der 38 Wiedergeburt! – weinen könne! Hunnius, ich sage Ihnen nur, Fräulein Schwarz blieb im genannten Institute einige Jahre. Sie hatte die besondere Obhut zu führen über Comtesse Paula von Dorste-Camphausen, jene Erbin, deren Lebensverhältnisse unsere ganze Aufmerksamkeit jetzt in Anspruch nehmen! Der Vater derselben war gestorben; Vormund und Verwandte riefen sie zurück: es war in jenen Tagen, als uns auch Asselyn verließ, diese emporwachsende Ceder, diese edle Palme« . . . Hunnius stockte wieder und überschlug auch hier einige Stellen . . . »Um«, fuhr er, den Zusammenhang suchend, fort, »um bei Ihnen die Kaplanei zu St.-Zeno anzutreten. Laßt aber diese Seele nur anklagen! Laßt die Stimmen über sie getheilt sein! Laßt –« Hunnius schien Anstand zu nehmen, der ganzen, hier den Tadel wiederholenden Wortfülle des Freundes zu folgen . . .
Lesen Sie alles, sagte Lucinde.
Es sind Anschuldigungen –!
O, erwiderte sie, auch das ist manchmal gut, zu wissen, was man von uns Uebles denkt!
»Die Stimmen sind getheilt«, fuhr Hunnius, fast mit Lucinden über die Parodie seiner frühern Worte liebäugelnd, fort. »Die einen sehen in ihr ein Wesen, das seiner persönlichen Eitelkeit alles opfert, ein herzloses, undankbares –«
Lucinde, die Arme übereinandergeschlagen, stand in einer Stellung wie ein furchtloser, unerschrockener Feldherr –
»Doch«, überschlug Hunnius beruhigt diese ominöse Partie, »unsere Stadt, Sitz einer Universität, einer starken Garnison, weiß nichts von einer irgend unpassenden Beziehung zu erzählen: größtentheils nur in unsern geistlichen Kreisen verkehrte sie. Aber Sie kennen ja unsere Mit-Leviten! Sie kennen ja die Lauheit der Zeit, kennen die Bequemlichkeit unsers Standes, dem nichts störender ist, als mitgearbeitet zu sehen an seinem Beruf, namentlich 39 von der Laienwelt aus! Niemand soll da hineinreden, ohne gefragt zu sein! Niemand soll das Entzücken, das ihm der Glaube bereitet, in Bildern und Anschauungen wiedergeben, die über das Maß einer gewöhnlichen Erbaulichkeit hinausgehen! Da irrt nun so eine glühende Seele von Beichtstuhl zu Beichtstuhl! Niemand weiß ihr ein Herz, ein Verständniß, eine Hingebung entgegenzutragen! Ihr Verstand ist diesen Menschen lästig und selbst unsere Collegen – brauche ich Ihnen die Namen zu nennen! – verkehren lieber mit den Repräsentanten der Gewöhnlichkeit, wenn sie nur Whist spielen! Hunnius! Wenn diese Feuerseele auch in der Dechanei so verbraucht würde! Sie tritt dort als Gesellschafterin ein. Ich dachte an Sie, Freund, an Ihre Verbindungen, an Ihre Beziehungen zu Ihrem herrlichen Kirchenfürsten, an die ernsten und wichtigen Dinge, die von Ihrer hohen Warte aus das Zeichen geben werden für das übrige Deutschland! O, diese Convertitin hat für die Flammen, die in ihr lodern, noch keine Nahrung gefunden! Wer einen Schritt thut, wie sie, der will ihn doch anerkannt sehen, will doch wissen, bezeugen, täglich bezeugen, warum er ihn that. Was thut man aber hier? Man fordert sie auf zum Vergessen, zur Ergebung! Immer diese Abneigung gegen Neugewonnene! Immer diese Kälte gegen den Enthusiasmns, der sich bewähren will! Convertiten, gehegt und gepflegt, sind ein Segen unserer Kirche; Convertiten, vernachlässigt, zurückgestoßen, einsam gelassen und wol gar zur Reue gedrängt, können ihr zur fürchterlichsten Geißel werden! Das Schicksal Lucindens ist in Ihrer Hand! Sie Schöpfer, Gestalter, Dichter! Vollenden Sie den Triumph dieser gottberufenen Bekennerin!«
Der gute Niggl! sagte Lucinde wiederholt und lächelte, als Hunnius diesen enthusiastischen Brief vollendet hatte. Hunnius war seinerseits gerührt von den Schmeicheleien für seinen Genius; 40 sie ihrerseits erstaunte, wie sie sagte, »über den langen Schatten, den sie würfe« . . . Ich lernte Niggl kennen, erzählte sie, als ich von ihm eines Tages erfuhr, daß er jeden Sonntag Nachmittag einen Kaffee für Damen gibt. Ich wurde neugierig auf einen so gemüthlichen Priester, erkundigte mich näher und ließ mich eines Sonntags Nachmittags an sein Haus bei der Barfüßerkirche führen, wo er Curatus ist. Ich wollte, aufrichtig gesagt, die Damen belauschen, die bei ihm zum Kaffee kamen. Ich stand im Schatten der alten Kirche. Es schlug vier Uhr. Der Nachmittagsgottesdienst war vorüber. Der Kaffee begann nach vier. Wie ward ich beschämt! Welche Damen kamen! Erst eine Blinde, die von einem Kinde geführt wurde; dann kam eine kleine Bucklige, die stolz zu ihrer Begleiterin hinaufschielte, denn diese durfte nicht mit zum Kaffee, weil sie gerade Glieder hatte; sie aber stieg zum Herrn Curatus hinauf! Nun kam eine Lahme an einem Krückstock! Jetzt fuhr ein Rollwägelchen vor und siehe, der Herr Curatus kam lachend und freudigst selbst die Stiege herunter und hob eine weibliche Person aus den Betten im Wägelchen, die nur dem Kopfe nach der Menschheit angehörte! Nach unten zu hing ein Körper, der völlig schlaff, ja nur eine einzige unförmliche und unausgebildete Masse war. Es war ein Mädchen von vielleicht dreißig Jahren und ein halbes Kind! Der Curatus trug sie auf seinen Armen in seine Wohnung und zu seinem Kaffee. Nun band ich mir, wie eine Augenleidende, mein Taschentuch über die Stirn und tastete so mich auch hinauf. Da fand ich eine Damengesellschaft beisammen aus lauter Blinden, Tauben und Gichtbrüchigen und sie war so lustig, so vergnügt wie, wenn es nur etwas zu lästern gibt, jeder andere Damenkaffee auch! Unser kindlicher Niggl hatte nur immer zu dämpfen, daß wir die gesunden und schönen Menschen nicht auch gar zu schlecht machten!
41 Wo gibt es solche Entsagungen wie in unserer Kirche! rief Hunnius. Wo solche muthvollen Bewährungen! Solche Triumphe dann auch und solche Belohnungen wieder! – – Er erörterte die Situation, in welcher sich Lucinde in der Dechanei befinden würde. Er wiederholte öfter seine Bitte um Discretion wegen der von ihm vorgelesenen Briefe. Er warnte vor der Erwähnung der Jesuiten, die man von obenher noch verfolge wie Verbrecher, und doch wären sie die Sehnsucht aller Gläubigen! Schon wenn einmal ein einzelner Mönch außer Clausur leben sollte, kostete das die größte Anstrengung.
Wer ist dieser Pater Sebastus? warf Lucinde nun in banger Spannung ein.
Pater oder, da er noch nicht die Weihen haben soll, Frater Sebastus, sagte Hunnius, ist erst seit kurzem aus der Dunkelheit eines Klosters bei Witoborn in der Residenz des Kirchenfürsten aufgetaucht. Seine außerordentlichen Geistesgaben wurden die Veranlassung, daß man ihm gestattete, auf einige Zeit seine Zelle zu verlassen. Man weiß nicht, soll man seine Begeisterung für das Interesse der Kirche höher anschlagen oder seinen Lebenswandel. Sie sollten doch schon, mein' ich, von diesem Mönch gehört haben, der den Gelübden seines Ordens gemäß sich die größten Entbehrungen auferlegt! Sebastus lebt nur von dem, was er sich erbettelt hat! Er geht auf die Dörfer in der Umgegend der Residenz mit einem alten Topf in der Hand, um sich selbst die Mahlzeit von den Thüren zu holen; gerade vor diejenigen Thüren geht er, wo er in Erfahrung gebracht hat, daß da die Geizigsten wohnen! Zum ersten male nach Jahren wieder gestattete er sich heute bei mir eine Cigarre und kaum ein halbes Glas Wein!
Lucinde fühlte sich von einem Schauer durchrieselt. Diese Entbehrungen paßten für das Bild nicht, das von Klingsohr noch in ihr lebte, und doch war es Klingsohr! Klingsohr mit einem 42 Topf vor Bauerhäusern! Klingsohr nicht rauchend, nicht trinkend! Und doch war er es – der Stadtpfarrer nannte ihn Heinrich Klingsohr und erzählte den Tod seines Vaters – vor ihren Augen stand das Christusbild, an das er einst ihren Hut gehängt hatte mit den Worten:
Am Bilde des Erlösers Hängt ihr pariser Hut . . . Und ihre dunkeln Locken Netzt heil'ger Wunden Blut. . . |
Da sie Hunnius in die Dechanei zurückzubegleiten versprach, störte der Schlag der elften Stunde nicht. Hunnius machte der sinnend Träumenden die lebhafteste Schilderung von dem Leben in der Residenz des Kirchenfürsten. Er gab Lucinden den Einblick in eine geheimnißvolle geistige Werkstatt, von welcher sie die Ahnung gehabt hatte, ohne doch recht die Thür finden zu können, die ihren Eingang bildete. Sie sah, was sie in Bonaventura's Nähe schon oft zu erblicken geglaubt hatte, nahe und entfernte Ziele, sah einen Zusammenhang von Zuständen und Personen, erblickte ein harmonisches Vereintwirken, ein lautloses, geräuschloses und dennoch von ersichtlichen Wirkungen begleitetes. Ob auch kein deutscher Staat mehr vom Krummstab regiert wird, doch gibt es noch geistliche Höfe, gibt es geheime Sitzungen in geheimen Cabineten und Anekdoten und geheime Verkehre aller Art. Auch das erfuhr sie: Einflußreiche Frauen stehen diesen geistlichen Höfen nahe. Der Reiz des Verschwiegenen verbindet die Geister und die Gemüther. Stürmisch und fest ist der Wille, aber zurückhaltend die Form, ihn zu äußern; unhörbar schreitet man wie auf unsichtbaren Teppichen, und dabei findet keine Zumuthung, nichts Rohes, nichts Begehrliches statt. Das Streben nach Läuterung und Religion ist äußerlich die Oriflamme und das heilige Feldzeichen dieser ganzen 43 geisterhaften Bewegung und doch bringt man duldsamst dabei die menschliche Natur in Rechnung. Man setzt das wahre Verdienst eben immer nur in den Kampf mit der Sünde, nicht in den Sieg über sie. Und wie gering auch die innere Treue Lucindens für Religion überhaupt war, Haß für alles Norddeutsche und Protestantische hatte sie. Gerade ihre Vergangenheit hatte sich in das verwandelt, was ihr neuer Glaube bekämpfte. Und von diesem Gesichtspunkt aus war sie den Gesinnungen ihrer jetzigen Freunde verwandt. Galt es Kampf, so empfand sie die dämmernden Schauer ihres neuen Bekenntnisses, ja empfand sogar den Reiz, daß in alle diese Intriguen die langen Schatten der Kirchen fielen, die Glocken der Dome läuteten, die Farben der priesterlichen Gewänder blitzten. Bis in die unabsehbare Ferne war die wühlende Ahnung freigegeben; in die Ferne des Raumes sowol wie in die der Zeit. Vor allem prangte Rom durch die Nebel hindurch wie die Stadt des ewigen Sonnenscheins! Dort fand der müdeste Fuß auf den Trümmern der Jahrhunderte einen schattigen Ruheplatz, das wundeste Herz Heilung in den Harmonieen der Sixtinischen Kapelle; der Blinde wurde dort sehend, der Taube hörend; alles lief aus und vereinigte sich in dem Centralnervensitz des historischen Europa –! Dies Bild war es, das einst Lucinden aus halben und träumerischen Zuständen, aus bitterer Lebenserfahrung und nicht immer selbstverschuldeten Kränkungen in den Schoos jener Kirche geführt hatte und sie darin festhielt und sie ermunterte und bestärkte, alles zu unternehmen, alles zu wagen, was die Umstände von ihr verlangt hätten, wenn sie damit nur den Beifall und die Liebe Bonaventura's hätte gewinnen können.
Nun brach sie auf. Der Stadtpfarrer, glücklich über diese Eroberung, fast getröstet über die Censurstriche, holte seinen Hut. Schon hatte er auf ein Bücherbret gelangt und gab ihr ein Buch 44 zum Andenken an die eben erlebte Stunde. Es war eine neueste Sammlung seiner Gedichte, die »Saronsrosen«. Er ergriff eine Feder, zeichnete auf das Blatt vor dem Titel ein Kreuz und in dies hinein ein flammendes Herz und seinen Namen. So gab er's Lucinden und vergaß vor Aufregung den Streusand.
Lucinde trug das Blatt offen und versprach, mit Aufmerksamkeit in den Gedichten zu lesen. Hunnius nahm die Lampe und rief seiner Wärterin. Er wollte mitgehen . . . Indem aber klingelte es heftig. Der Druckerbursche! rief es in allen seinen Nerven.
Und in der That – ein Knabe kam – kam mit einem hoch emporgehaltenen Blatte! Von Instanz zu Instanz kehrten erst jetzt die von Hunnius gemachten Aenderungsvorschläge zurück. Einige waren angenommen worden. Bei andern verlangte man am Rande noch diese und jene Milderung. Einige Bilder waren gerettet – Hunnius konnte vor Freude jetzt sogar Lucinden vergessen.
Der Bursche erklärte, daß die Censur noch warte, ebenso wie die Presse seines Herrn. Machte der Herr Stadtpfarrer noch sofort die Aenderungen, so konnte die Nummer in der ersten Morgenfrühe noch gedruckt werden –
Schon rief Hunnius, sich nun mit seinen Redactionspflichten entschuldigend, seiner Magd. Aber Lucinde sagte: Lassen Sie, Herr Pfarrer! Ich finde den Weg! Es ist Mondschein! Wirklich, wirklich! Bitte, bleiben Sie!
Auch der Druckerbursche hätte allenfalls noch Lucinden führen können, aber Hunnius mußte ihn zurückbehalten. Seine Magd war nicht die flinkste. Er zögerte noch, als Lucinde schon mit den Worten: Beruhigen Sie sich, Herr Stadtpfarrer! Ich finde den Weg! – unten vor der Hausthür und verschwunden war.
45 Lucinde war jetzt allein. Sie schritt durch die nun recht still gewordene Stadt über den mondhellen, jetzt menschenleeren Marktplatz dahin. Ach, sie kannte solche Nachtbilder kleiner Städte aus der Zeit her, wo sie über die norddeutschen Heiden mit der unglücklichen Gauklerfamilie gezogen! Sie kannte solche Brunnen, die so ewig rauschen, solche Linden, die so klein und verkrüppelt an einer Straßenecke stehen. Hier in einem Giebelfenster erlischt ein Licht, dort geht eines auf. Hier jammert ein Kind, das von seinen Träumen geängstigt wird und eine Mutter spricht liebe, beruhigende Worte – Dort bellen zwei wachsame Hunde um die Wette – Alles das hatte sie so oft erlebt, mit demselben Mondlicht, mit derselben Stille, aber immer in einer andern geistigen Beleuchtung – Heute?! . . . Sie liest noch die Schilder der armen Schuhflicker und Schneider . . . Sie sieht den schwarzen Mohrenkönig an einem Laden, durch dessen geschlossene Thür ein Schiebfensterchen erleuchtet ist, eine Apotheke, wo vielleicht für Frau Ley der letzte Linderungstrank bereitet wird . . . Dort ein Gasthof: Zum Riesen! Der Goliath steht über dem Thorweg, der noch offen ist . . . Sie sieht das stattliche Reisecoupé Thiebold's de Jonge unter ihm . . . Oben vier Fenster erleuchtet . . . Zechen dort oben vielleicht Benno von Asselyn und seine Gefährten und erzählen sich Anekdoten und »verhöhnen die Würde der Frauen« und lachen über das, was andern Schmerzen bereitet, über Porzia, über Hedemann? . . . Gerade so wie sie einst Klingsohr so unter seinen Freunden wußte, den Weltenstürmer, den jetzt – mit dem Topfe Bettelnden!
Sie konnte sogar über Hunnius nicht lachen. Es lag selbst in den »Saronsrosen«, wo endlich das Kreuz mit dem Herzen getrocknet war, nach ihrer gegenwärtigen Stimmung etwas vom allgemeinen Schmerz des Lebens und vom bittersten Weh der Welt. Denn ist nicht das größte Weh Blindheit, Thorheit, 46 Anmaßung, Kampf und Wahn und leidenschaftliches Ringen und das Ganze des Lebens ein so tief entmuthigendes Durcheinander?
Nun überfiel sie auch noch obenein die Furcht vor der Rückkehr in die Dechanei. Wenn die Pforte geschlossen war! Wenn sie klingeln mußte! Immer zaghafter wurde ihr ums Herz.
Langsamer und langsamer trat der müde Fuß auf. Sie kam bei den Stufen an, die zur Kathedrale von St.-Zeno hinaufführten. Hier war es dunkel . . . Hier mochte sie sich niederlassen, sich ausweinen – vor Schmerz über die Welt und über sich selbst. Nur die Todten waren die Ihrigen! Auf der Erde nur die, die sie nicht mochten, oder die – die sie nicht mochte! Und sie mußte sich sogar sagen: Ihr, die ihr mich haßt und fürchtet, gewiß, ihr habt ja Recht!
Mühsam, bangend und zagend stieg sie die Stufen empor. Ringsum lagen die kleinen Häuserchen. Sonst war sie in solchen Lagen oft versucht, den Leuten Nachts von den Fensterbretern ihre Blumen zu stehlen! Sonst langte sie im Springen nach einem Hanfbüschel hinauf, das als Wahrzeichen eines Zwirnverkäufers vor einer Thüre hing! Sonst jagte sie, wie die alte Hauptmännin, Ratten und Mäuse auf und lief ihnen nach, die Katze spielend – Und wenn etwa dann Männer sie verfolgten, so blieb sie stehen, ließ diese an sich vorübergehen und erwiderte ihre Anreden auf englisch oder italienisch fest und bestimmt: Ich kenne den Weg!
Langsam zählt sie heute dreißig Stufen, die zur Kathedrale hinaufführten – An jeder fünften steht, wie auf einem Calvarienberg, eine steinerne Gruppe der Leidensgeschichte – frisch übertüncht mit grünlichweißer Oelfarbe – frisch vergoldet an den Heiligenscheinen und Gewändern –
Wie sie eben an der letzten Gruppe der Grablegung vorüber ist, wie sie quer über den den Dom umgebenden freien Platz zu einer zweiten, niederwärts zu dem Park der Dechanei führenden 47 Treppe kraftlos hinschreiten will, strahlt ihr plötzlich an dem im Schatten liegenden altehrwürdigen St.-Zenotempel ein magischer Lichtglanz entgegen.
Von dem übrigen Mondschein wich er völlig ab.
Sie blickt noch einmal hin und – wiederholte sich da das Wunder von Damascus?
Lichtumflossen tritt ein Priester im Ornat auf sie zu –
Es ist Bonaventura, ihr Heiliger –
Lucinde verbirgt sich hinter der Grablegung –
Bonaventura kommt aus der Sakristeithür, die im Dunkel liegt und beim Geöffnetwerden den von der entgegengesetzten Seite, wo der Mond steht, durch ein buntes Fenster hereinfallenden Lichteffect verursachte.
Es ist Bonaventura in Priestertracht, begleitet von einem weißgekleideten Knaben und einem Meßdiener.
Alle drei kommen, nachdem der Meßdiener die Sakristeithür wieder verschlossen, still und schweigsam näher. Sich unbemerkt glaubend, schreiten sie die Stufen zur Stadt hinunter.
Bonaventura hält das Venerabile, der Meßdiener trägt Brevier und Rauchfaß, der Knabe klingelt –
Wer etwa in den Straßen noch verspätet ging, neigte sich. Wer es auf seinem Lager hörte, sagte: Das ist der Dechant! Er geht noch unten an den Fall zur sterbenden Frau Ley!
Lucinden war es, als wenn sie jetzt Schutz gefunden hätte. Bonaventura mußte in die Dechanei zurück! Konnte sie es nicht unter seinem Beistande thun?
Aber auch so und wäre dies auch nicht gewesen, doch zog es sie unwiderstehlich –
Sie mußte folgen.
Es klingelte – und klingelte – Dahin – dahin – immer voraus schritt das Sakrament –
48 Endlich hörte man ein rauschendes Gewässer daherstürzen. Es war der Fall. Ueber ein Brücklein mußte man noch gehen, wo ein St.-Nepomuk den Gruß der Vorübergehenden empfing. Die Zahl derselben mehrte sich. Wol ein Dutzend Menschen aus dem Volke schloß sich dem klingelnden Knaben an, so spät auch die Stunde schon vorgerückt war. Es kam ein ganz vertrockneter Lindenbaum und nun ein Haus, in das sie eintraten –
An der Wand neben dem Thorweg fand Lucinde jenen verrosteten Haken, von dem der Dechant erzählt hatte –
Noch stand der Hackeklotz im Gange –
Auf dem steinernen Estrich der Vorflur ging eine Rinne, durch welche sonst aus dem im Hofe befindlichen Schlachthause das Blut floß.
Unter den Anwesenden, die der Hostie gefolgt waren, fiel Lucinde nicht sogleich auf. Meist waren es Frauen. Sie hielten sich in der Vorflur, während eine Thür geöffnet wurde, durch die man in ein hinteres Zimmer sah, wo die Sterbende lag.
Bonaventura schritt durch einige Betten hindurch, wo ruhig die kleinern Kinder der sterbenden Mutter schliefen. Trendchen Ley und ein Bruder, der den Dechanten nun doch noch gerufen hatte, lagen über dem Bette der Mutter ausgestreckt und schluchzten –
Der überraschend statt des Dechanten gekommene geliebte Priester nahm von dem Ministranten das heilige Oel, um damit seine eigenen Finger zu netzen. Mit diesen berührte er die einzelnen Theile des Antlitzes der Sterbenden. Für Bonaventura konnten Menschen zugegen sein, die noch heftigere Wallungen in ihm hervorgerufen hätten als Lucinde, er würde nicht auf sie geachtet haben. Er ließ die Sterbende, die ihn noch erkannte, mit einem matten Aufblick die ganze letzte Freude empfinden, an 49 seiner Hand aus dem Irdischen hinausgeleitet zu werden. Mit groß und geisterhaft aufgeschlagenen Augen sah sie auf seine hohe Gestalt und zupfte mit den unruhigen Fingerspitzen an der Decke, bis ihre Tochter, wie wenn sie Wünsche hätte, sich ihr näher beugen mußte. Ihr Wunsch war nur, noch so viel Schärfe des Gehörs zu besitzen, die milde Stimme des geliebten Priesters zu hören.
Bonaventura salbte die Sterbende mit leise begleitenden Worten an den von der Kirche vorgeschriebenen Körpertheilen, an denen, welche die Organe unserer Sinne, unsers Willens und unserer Sünden sind. Mit Auge, Ohr, Geruch, Mund, Hand und Fuß sind wir an die Sinnenwelt gebunden; die Lösung von ihr, den Abschied und die Trennung bezeichnet die Berührung mit dem Oel, das, wie man behauptet, schmerzstillend wirkt –
Bonaventura's Gebet übertönte das laute Weinen – Herr, unser aller Gott, sprach er, erquicke die Seele, die du geschaffen hast! Reinige sie von allen Sünden und Makeln, damit sie würdig werde, durch die Hände der Engel dir dargestellt zu werden! Durch Jesum, unsern Herrn!
Schon war die Seele der armen Metzgersfrau vor dem Amen! zu der ihr durch die Oelung gelinderten Pein des Fegfeuers entflohen.
Trendchen benahm sich mit großer Standhaftigkeit. Das auffallend schöne Kind war blaß, zart, tief verhärmt, tief erschüttert und doch blieb sie umsichtig.
Als die Sterbende geendet hatte, drückte der Leiche jemand von den Nähergekommenen die Augen zu. Es war eine hohe, kräftige weibliche Gestalt. Sie trug ein gelbrothes Tuch um den Kopf gewunden und mußte eine Jüdin sein –
Dicht hinter ihr stand dann noch ein Protestant, Nachbar Grützmacher, der würdige Wachtmeister. Er begrüßte Lucinden, 50 die nun vortrat und jetzt erst von Bonaventura bemerkt und erkannt wurde.
Muß man erleben den Gegenstand! sprach inzwischen mit lauter, alles übertönender Stimme die Jüdin. Eine Frau so sanft wie ein Lamm! Ein Engel! Muß ich sie noch sehen, wie sie ist gelaufen über Land und hat die Bauern gebitt't und gebettelt, daß sie bringen sollten ihren Mann wieder auf die Füße! Wie hat sie die paar Thälerchen, die sie hatte gespart oder geborgt gekriegt, gezeigt und damit geklimpert, als wenn die Leute machten das rarste Geschäft um ein Ferkelchen, das sie dann haben mitgenommen und nach und nach aufgezogen mit Glückseligkeit, wie, Gott verzeih' mir's, 'nen polnischen Ochsen! Und das Trendchen da! Hat sich das Kind nicht die Augen ausgenäht und ausgestichelt und hat sie nicht gekriegt an die Fingerspitzen ganz 'ne rauhe Hand! Ein Mädchen so rar! Schön genug für 'ne Prinzessin! Und die guten Kinder! Gott soll sie segnen!
Während Grützmacher mit Bonaventura und dem Arzte flüsterte, küßte Trendchen Ley Lucinden die Hand und dankte für die »Ehre« ihres Antheils. Sie nannte die Sprecherin Frau Henriette Lippschütz. Es war die Hasen-Jette, die Wildprethändlerin, die Witwe des jüdischen Metzgers, der die Ley'sche Kundschaft geerbt und nun auch schon wieder andern Platz gemacht hatte.
Fräulein, wenn sie jetzt hier haben was zu nähen – fuhr, Lucinden gleich richtig unterbringend und sich ihr zuwendend, die Hasen-Jette fort – feine, feinste Spitzen: geben Sie's nicht anders als an das Trendchen! Weine nicht, Kind! Du bist nicht verlassen! Dein Toni, dein Edi – alle kommen sie in die große Stadt, ins neue Waisenhaus, wo die Kinder leben wie die Prinzen! Sag' ich dir, Trendchen, Betten! Staatsbetten! Kauft die Stadt alle Federn von mir und die Decken hat mein Bruder 51 geliefert! Gott! Was wird der Löb sagen, wenn er nach Hause kommt und findet Frau Ley nicht mehr – der Löb mit seinem gefühlvollen Herzen!
Bonaventura kannte auch den Löb, den Bruder der Frau Lippschütz, den berühmten Gütermakler und Handelsmann Löb Seligmann. Er durfte diesen Empfindungen einer Einzelnen einen gemeinsamen Ausdruck geben. Noch sprach er, nicht als Geistlicher, sondern als Bekannter und Freund der Bewohner von Kocher, laut einen herzlichen Nachruf, tröstete die Kinder und ging dann zuletzt mit Grützmacher und dem Arzte.
Als er sich mit ersterm über die vergebliche Verfolgung des Leichenräubers verständigt hatte, bildete sich wieder jener Zug, der die Monstranz in die Kathedrale zurücktrug.
Lucinde folgte – Wie mußte sie ihrer eigenen Jugend und ihrer Geschwister gedenken! »Das neue Waisenhaus!« – Es schlug zwölf, als Lucinde übermüdet wieder die Stufen zum Dome hinanstieg und wartete, bis Bonaventura aus der Sakristei zurückkehren würde.
Endlich kam er – in seinen gewöhnlichen Kleidern.
Ich muß mich Ihnen anschließen! sagte sie. Ich hatte Briefe an den Stadtpfarrer zu überbringen, deren Eile ich ganz vergessen hatte! Und da hielt ich mich zu lange im Plaudern mit ihm auf, folgte dann wieder Ihnen zum Sterbebette und muß nun unter Ihrem Schutze in die Dechanei zurück! Kann ich es thun, als wenn ich überhaupt nicht abwesend gewesen wäre, wäre mir's am liebsten! Ich fürchte mich vor Frau von Gülpen!
Bonaventura, dem Frau von Gülpen's strenge Auffassungen bekannt waren, erbot sich zu dem gewünschten Beistand. Er war so menschlich in allem und kein Haarspalter und kein Mückenseiger. So gingen beide in den Park hinunter.
52 Wie tobte es jetzt in Lucinden. wie stockte ihr Athem! Und doch dies ruhige Gespräch über die Vorgänge der letzten Nacht, über Grützmacher's Nachrichten, über Benno Hedemann, die Herbstübungen, den kürzern Weg da oder dort, die Leidensfamilie, die eben verlassene, wieder dann die Baumalleen, die Boskete, Windhack's Sternwarte – Darauf hin kannten sich beide schon – So konnte sie sonst schon neben ihm gehen, wie eine Nachtwandlerin auf haushoher Zinne, jeden Augenblick den Niedersturz drohend – so aber auch er, gleichsam den Arm, schützend und schon zum Auffangen ausgebreitet, über sie gehalten, und doch vom Gleichgültigsten plaudernd und scherzend sogar –
Wie der Geliebte dann den Hausschlüssel zog, öffnete, sie zuerst in das stille Vorhaus ließ, erklärte, zwar unten zu wohnen, aber sie doch bis hinauf begleiten zu wollen, wie sie ihn dann zum leisern Sprechen ermahnte, seine Begleitung ablehnte und er doch noch eine Stiege lang folgte – sollte es ihr da nicht wieder sein, wie schon oft, als müßte sie vor ihm niedersinken und ihn anflehen: Tritt lieber mit deinem Fuß auf mich, Entsetzlicher, Kalter, Unerbittlicher! . . . An seiner Brust hätte sie jetzt ruhen, jetzt sich ausweinen, auslachen mögen – und er sagte nichts als: Gute Nacht, Fräulein! Sagte das ihr, die noch jung, noch schön war, die Huldigungen erlebt hatte, wo sie nur irgend erschien, eine Siegerin über so viel Männer von Reichthum, Ansehen, Geist – »Gute Nacht, Fräulein!« – Und das in tiefster Stille – im nächtlichsten Dunkel –
Die zweite Stiege in ihren Entresol glaubte sie allein gehen zu können – Sie hauchte ihm das in stammelnden Worten hin –
Sie ging langsam – halb ohnmächtig vor Schmerz über das eine »Gute Nacht, Fräulein!« –
Alles ringsum war still. Niemand bemerkte ihre Rückkehr. Vielleicht hatte auch niemand ihr Weggehen bemerkt. Sie mußte 53 sich an dem eisernen Gitter der Treppe halten, als sie langsam hinaufstieg. Bonaventura war nicht mehr hörbar . . . Auf dem Corridor der zweiten Etage blieb sie stehen und holte einen tiefen, tiefen Athemzug . . .
Da erschreckte sie plötzlich ein Geräusch wie von einem auffliegenden Vogel. Es war der Pfau, der ihr neugierig, hoch aufgerichteten Hauptes entgegenschritt. Sie entlief ihm bis an die Thür ihres Wohnzimmers. Das Thier sah gespenstisch aus.
Ihr Wohnzimmer lag am Aufgang zu einer dritten Treppe, die schon ins Dach und zu Windhack's Sternen führte. Wie sie in Eile rasch nur und um unbemerkt in ihr Zimmer zu kommen den Schlüssel drehte, wandte sie sich, sah eine Weile ins Leere, zuckte dann aber auf vor tödtlichem Schrecken. Sie glaubte im ersten Augenblick ein Gespenst zu sehen . . . Es war, mit einem Lichte in der Hand aus einem der Corridore des Geviertes, in dem die Dechanei gebaut war, tretend, die leibhaftige Frau Hauptmännin, die sie sah. Dieselben funkelnden Augen aus dunkeln Höhlen, dieselbe aus Haube und Schleife hervorschießende spitze Nase, dasselbe Drehen und mühlsteinartige Schroten der zahnlosen Kinnladen – Aber es war kein Gespenst. Es war die Schwester ihres alten Nachtunholdes. Es war Frau Petronella von Gülpen – ohne die Verschönerungen ihrer Toilette –
Auf die aber auch von Seiten der wie zum Tod erschrockenen Frau von Gülpen gestammelten Worte: Aber, mein Fräulein! Wo kommen denn Sie noch so spät her? Wo denn – um Jesu Wunden – waren – Sie – denn die – ganze Nacht –? verschwand Lucinde . . . Frau von Gülpen, die nur in diesem ihrem äußersten Négligé und sogar ohne ihre Zähne ihren unruhigen Lolo aufgesucht hatte, war noch mehr erschrocken als Lucinde –
54 Lucinde hätte in diesem Augenblick den Pfau erwürgen können. Ohne eine Antwort gegeben zu haben, war sie in ihrem Zimmer verschwunden. Immer noch hörte sie den knirschenden Sand auf dem steinernen Estrich draußen, immer noch hörte sie das Huschen des Pfaus, der neben der wie eine Juno keinesweges schönen, aber wie Juno zornigen Frau stand und sie mit seinem hoffärtigen kronengeschmückten Kopfe angestarrt hatte – Es ahnte ihr für den folgenden Tag nichts Gutes . . .
Freilich so bitter, wie ihr wieder der Kelch des Lebens geschenkt wurde, ahnte sie die Folge nicht. Als sie nach einer ganz sanft verschlummerten, ganz außerordentlich erquickenden Nacht erwachte und die Sonne wundergolden in ihr Stübchen schien und dieses sogar verschönte und es sogar behaglich machte; als sie dann das Fenster öffnete, den erquickendsten Lindenduft einsog; als sie in der Ferne schon den zweiten Tag der militärischen Uebungen durch Trommeln und Pfeifen angekündigt hörte, erhielt sie von Windhack das Frühstück überbracht . . . Er stellte es hin, während sie gerade an ihrem Haar kämmend vor dem Spiegel saß und sich in einem weiten Toilettenmantel verstecken mußte, und ging –
Sobald sie aufgestanden war, bemerkte sie beim Frühstück liegend ein Billet. Es war mit Geld beschwert –
Sie öffnete, las – ein Moment entschied alles – Sie las die kurzen Worte: »Ich ersuche Sie, mein Fräulein, noch im Laufe des heutigen Tages unwiderruflich die Dechanei und für immer zu verlassen. Petronella von Gülpen.«
Lucinde griff an ihr Herz. Im ersten Augenblick hatte es aufgehört zu schlagen.