Der Zauberer von Rom / II. Buch
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43 3.

Nach den Segnungen, welche dem Sarge schon in der Wohnung des Verstorbenen zu Theil geworden, nach den Weihen vor dem Altar spricht soeben eine sanfte wohllautende Stimme vor der Einsenkung in die Grube noch Worte, die zu dem Ceremoniel der Kirche die eigenen Empfindungen des Redners bringen. Man konnte die Rede, welche der am Fußende des Sarges stehende, von dem letzten Abendsonnenglanz beleuchtete Priester sprach – der Entschlafene selbst mußte dem Brauche der Kirche gemäß gen Osten blicken – deutlich vernehmen.

Sein Aeußeres hatte sich wenig verändert. Es waren dieselben, nur gefestigtern Züge, die Lucinden vor drei Jahren an eine Geistererscheinung, an Serlo's Tod als Traum oder an dessen Auferstehung, glauben ließen. Es war dieser mildeste aller Priester, den sie selbst hatte weihen sehen mit Joseph Niggl und Beda Hunnius – sie hatte diese Namen so fest behalten wie die Unterscheidungslehren der Confessionen, in denen sie sechs Wochen später geprüft wurde zu ihrem Uebertritt. Heute standen keine jungen Kleriker, sondern weißgekleidete Kinder, Knaben und Mädchen, um Bonaventura. Er war es wieder, Er, ein Jahr lang die Liebe und das Entzücken der ganzen Stadt, aus der sie nun erst kam, nun erst kommen durfte! – –

Selten lag auch wol auf dem Antlitz eines Jünglings so viel 44 Adel, so viel Glanz und Glorienschein schon in jungen Jahren. Bonaventura von Asselyn, der einst angesehenen, weitverbreiteten und aus dem Friesischen stammenden Familie dieses Namens angehörend, hatte aus einer, durch Familienverhältnisse, vorzugsweise durch ein unglückliches Ende seines Vaters und die Neuvermählung seiner Mutter, deren einziger Sohn er war (die Neuvermählung eben mit dem Oberregierungsrath Friedrich von Wittekind-Neuhof, dem ältesten Sohn des Kronsyndikus), genährten Schwärmerei den Offiziere stand, indem er, früher Zögling der nahe gelegenen Universität, eben nachdem er bereits Fähnrich geworden, eintreten sollte, mit dem geistlichen Seminar vertauscht und war nach dem südlichen Deutschland gegangen, um in Kreisen strengerer und ungehinderterer Katholicität seine Bildung zu vollenden. Er hätte in jener Stadt, wo ihm der Bischof die Weihe gegeben, die größten Erfolge am Altar und im Beichtstuhl gewinnen können, aber erst zog er die Kaplanei bei seinem edeln Wohlthäter, dem Dechanten von St.-Zeno im nahen Kocher am Fall, bei dem Bruder seines Vaters, dann eine kleine bescheidene, idyllisch gelegene Landpfarre vor, diese hier in St.-Wolfgang.

Lucinde fand dieselbe Erscheinung wie sonst, nur männlicher, fester, ernster. Sein Wuchs war schlank wie der der Tanne, das Haupt leise übergebeugt, doch edel und freiblickend und auch jetzt in die mit rosigen Wolken sich säumende Ferne wie in das Jenseits schauend. Wie weich und weiß mußten diese Hände sein, die in maßvoller Bewegung die bedeutendern Gedanken seiner Rede unterstützten! Wie schön stand dem leise gerötheten Antlitz der milde Schwärmerblick, der aus dem tiefsten Innern der Seele zu kommen schien! Wie schien er in gläubiger Zuversicht das Ewige leibhaftig vor sich zu sehen!

Ein sinnend Haupt! Ein edel Angesicht!
Ein Auge, das sogleich zum Herzen spricht!
45 Das Haar wie Rabenfedern! Unbeschnitten,
So weit es strenge Priesterregeln litten!

Ein Leiden in der Miene, still entsagend!
Ein Bitteblick wie des Erlösers Flehn,
Als er zum Vater sprach im Garten klagend:
Lass' diesen Kelch an mir vorübergehn!

Die Stirne rund, die Wange ein Oval!
Bald blaß, bald von der Seele Glutenstrahl
Mild überhaucht mit frischen Rosenlichtern!
So leuchtend nur bei Denkern und bei Dichtern!

So stand Bonaventura vor des Erzählers Auge, als er einst sein Leben in Versen schildern wollte und, vom Stoff übermannt, die Feder niederlegte.

Bonaventura von Asselyn sprach von dem Verstorbenen wie von einem heimgegangenen Freunde. Er nannte ihn den alten Joseph Mevissen, er sagte, daß er gerade ihm zu Liebe, weil Mevissen hier wohnte, diese Pfarrei gewählt hätte. Er nannte ihn einen Führer seiner Jugend, den Diener seines verstorbenen und, wie alle Welt um ihn her wußte, auf einer Alpenreise unglücklich verkommenen Vaters. Jene Thatsächlichkeit, die in den Reden der katholischen Geistlichen oft die Grenzen des Schicklichen maßlos überschreitet, die aber auch ebenso, richtig angewandt, oft das nur allzu Allgemeine der protestantischen Predigtweise vermeidet, war hier begründet durch den allgemeinen Antheil und die eigene dankverpflichtete Stellung des Redners zu dem Abgeschiedenen.

Mevissen war sonst Soldat, dann ein armer Häusler, lebte von kleinen Arbeiten der Tischlerei, die er in jungen Jahren gelernt hatte, ehe er dem Vater Bonaventura's auf jener Reise folgte, von welcher derselbe nicht wieder zurückkehrte. In leiser Andeutung und nicht etwa sein eigen Leid zu sehr 46 hervorstellend, kam der junge Redner auf diese, den ihn Umstehenden bekannten Vorgänge. Er pries den Antheil, die Hingebung, die Treue des Verstorbenen, die er schon früh einem Onkel, auf Napoleon's spanischen Feldzügen, dann dem Vater und zuletzt ihm selbst bewiesen. Er sprach, angeregt von der Erinnerung an jene Zeit, wo ihm als Knaben zum ersten mal das Bild seines in einem Schneeabgrunde des großen St.-Bernhard todtgefundenen Vaters entgegentrat und seine Neigung für den geistlichen Beruf entschied, über die dunkeln Kerkerwände des Todes, über die stille Gemeinsamkeit, in welcher die Leiber ruhen und einst schon so in alter römischer Zeit, in den Katakomben, die Gebeine der heimlich begrabenen Märtyrer ruhten – über den Sarg, den sich der alte Freund seiner Jugend und des ganzen Dorfes selbst gezimmert und in welchem er wie in einem Bett nächtlich schon, gleich manchem Heiligen, geschlafen – er verglich den Tod mit dem Schlummer, mit dessen Erquickung, dessen Träumen, dessen Erwachen. All diese Gedankenreihen folgten sich natürlich, ohne Prunk, mit einfachen Bildern, in jener sich auf Sprüche der Bibel und der Kirchenväter stützenden Redeweise, welche den Zusammenhang des eigenen Ichs, das sich nicht vorzudrängen hat, mit der Lehre und den Beispielen des kirchlich Gebotenen nicht vergißt und allem Abschweifen persönlicher Einfälle durch bestimmt vorgezeichnete Formeln und Gebete ein Ende macht.

Dreimal besprengte er dann den seltsamen Sarg mit Weihwasser, schwang über ihm das Rauchfaß, warf drei Hände voll Erde auf ihn und endete mit den Worten:

Aus der Erde hast du mich gebildet; mit Fleisch hast du mich umkleidet; erwecke mich wieder, mein Erlöser!

Nach dem »Amen!« war die Handlung vorüber; die Menge zerstreute sich; der von Bonaventura unter den niederhängenden, 474 weitschattenden Wallnußästen kaum bemerkte Wagen rollte weiter; Lucinde wußte nicht, wie sie unter den Eindrücken, die ihr Inneres bestürmten, in dem Wirthshause des Ortes ankam. Aus Blech geschnitten, hing über der Thür desselben, neben der großen Einfahrt des bescheidenen Hauses, ein Stern –! Das Verlangen nach einem Zimmer war bald befriedigt, der unheimliche Kutscher wurde bezahlt und Lucinde war mit ihren Reiseeffecten, aber auch mit der schweren Aufgabe allein, dem Priester, der sie kannte, aber auch ganz kannte, wie sie war, ja, wie sie sich selbst vielleicht nicht kannte, nach zwei Jahren wieder entgegenzutreten. In dem kleinen Raume dann, hinter dem Fenster mit den zerkritzelten grünblauen Scheiben, in der Umgebung an den Wänden hängender Schildereien, die in Lithographieen und mit Wasserfarben jene überschwenglichen mystischen Anschauungen eines durch alle Himmel ausgebreiteten Rosenkranzes, als einer Weltherrschaft der über der Erdkugel und dem Monde thronenden Mutter Gottes, mit der Sonne selbst als Strahlenkrone, darstellten, lange zu verweilen, wäre ihrem unruhigen Charakter jetzt nicht möglich gewesen.

St.-Wolfgang war ein freundliches, angenehmes, jetzt sogar durch die sich zerstreuende Menge belebtes Dorf. Das war in allen Winkeln und den vor dem Wirthshause zum Stern ausmündenden Gäßchen des Ortes eine Rückkehr zur Freude am Dasein! Doch verwunderte sie diese nicht. Auch diese Eigenschaft ihres neuen Glaubens kannte die Convertitin schon, daß in ihm nach dem Tribut, den man den himmlischen Pflichten gezollt, eine muntere Rückkehr zur Freude am Irdischen gestattet sein sollte.

In einem an das Wirthshaus sich lehnenden Obstgarten mit Bänken und Tischen bemerkte sie schon manche Gruppe, die sich gebildet hatte, um an dem trefflichen Wein der benachbarten Gegend sich zu erquicken. Auch der Knecht, der erst am andern Morgen zurückkehren zu wollen erklärt hatte, weil er behauptete, sein Gaul hätte sich unterwegs einen Stein eingetreten und bedürfte der Ruhe, fand schon mit angezündeter Pfeife unter den Gästen, zu welchen sich, in leichter, gelüfteter Kleidung, wie wenn er entweder hier wohnte oder doch übernachtete, und gleichfalls mit brennender kurzer Pfeife, der Gensdarm gesellt, der oben am Berge die Passirscheine revidirt hatte.

Die Sonne vergoldete nur noch die Zifferblätter des Kirchthurms und zeigte die Abendstunde, welche bald auch von der Glocke zur Abhaltung der Vespergebete gemeldet wurde. Lucinde hatte gelernt, daß in diesem Augenblicke des Angelusgebetes rings um die Erde, so weit katholische Christen wohnen, gleichsam ein Gürtel von Gebeten walle, welchem sich kein Gläubiger entziehen dürfte. Sie kannte das Angelus sogar in lateinischer Sprache. Doch folgte sie, da sie sich allein wußte, dem Beispiel des zuweilen zu ihr hinausschielenden Gensdarmen unten, der seinerseits, der Landeskirche angehörend, mit seiner Pfeife ruhig an die Salatbeete hinschritt, die den Obstgarten begrenzten, während die Männer die Häupter neigten. Auch sie betete nicht, sondern ordnete vor dem, in jedenfalls unabsichtlicher Satire, wie vor Jahren in Eibendorf, mit einer kleinen Pfauenfeder geschmückten matten Spiegel ihre Toilette, band die Flechten ihres Haares fester, glättete einen großen, weithängenden Spitzenkragen, unter dessen Fall die zierlichste Taille sich verbarg, legte ihr goldenes Kreuz in passende Ordnung, wählte ein weniger zerknittertes Taschentuch aus dem geöffneten Koffer, entnahm ihm einige gesiegelte Briefe, steckte diese zu sich, setzte den Hut auf und schickte sich zu einem unendlich seligen und doch ebenso wieder schweren, vielleicht tief demüthigenden Gange an.

Beim Pfarrer konnte inzwischen vielleicht auch schon durch 49 Bonaventura's Vetter und seinen Begleiter Hedemann ihr Kommen angezeigt worden sein; denn die Ceremonie, ihre Toilette, ihr Kampf mit sich selbst hatten lange gedauert.

Das Pfarrhaus lag dicht an der Kirche und dem Gottesacker. Von letzterm trennte es nur ein bescheidener Gemüse- und Obstgarten. Die Grenze, eine Mauer von grünen Hecken, war unverschlossen. Nicht gering war die Neugier, mit welcher Lucinden Jung und Alt betrachtete. Nur eine alte Frau, die im Pfarrgarten Kerbel und Salat zum Nachtessen sammelte, erhob sich von ihrem Bücken nicht. Ihr schienen vielleicht die Besuche elegant gekleideter Frauen bei ihrem Herrn weniger auffallend.

Und doch konnte Lucinde vor Bangen nicht zur Hausthür eintreten. Der Eingang zum Garten stand offen. Ungesehen betrat sie einen Theil desselben, einen gewähltern, wo sich abgeblühter Jasmin und wilde Geisblattbüsche wie zu einem Laubengange einigten. Hier war ein Sitz, wo noch Bücher lagen.

In Bienenstöcken, an denen sie vorüber mußte, schien es still, wenn auch ihrem scharfen Ohr nichts von dem Summen entging, von dem sie belebt waren.

Im wie verstohlenen Vorüberhuschen wagte sie die Bücher anzusehen, die Bonaventura vergessen zu haben schien. Sie schlug sie auf, neugierig auf die jetzige Geistesfährte des innern Lebens dieses ihres – Feindes? War denn wirklich das Bonaventura von Asselyn? Er liebte, wenn er liebte, Paula! Er haßte, wenn er haßte, vielleicht Lucinden – – Sie fand einen Band von Goethe's Gedichten. Dann eine ältere Liedersammlung: »Trutz-Nachtigall«, von jenem edeln alten Dichter Friedrich von Spee, einem Jesuiten. Sie kannte einige der Weisen dieses letztern Sängers, der sich nicht durch seinen geistlichen Stand hatte verhindern lassen, die Sprache der Blumen, der Farben, der Töne und des eigenen Herzens als die gemeinsame Muttersprache aller 50 erschaffenen Creatur mit den Weltlichen fröhlich mitzureden und unter den Huldigungen, die seine inbrünstige Phantasie der überirdischen Liebe brachte, auch ein gut Theil der Wonnen mitzufühlen, die die irdische gewährt. Ertappt! lag in dem fast listigen Blick, mit welchem Lucinde beide Bücher an sich nahm und, um sich Muth zu fassen, beschloß, sie dem Pfarrer beim ersten Gruß einzuhändigen.

Im Hause vorn, das nur aus Einem, aber einem hochgelegenen Stockwerk und vielen bewohnbaren Dachkammern bestand, kündigte sich in der Küche schon die größte Regsamkeit an. Die eigentliche Führerin des Haushalts war wol die über dem Salatbeete gebückte Matrone. Noch aber stand in der Küche, vom prasselnden Feuer beschienen, ein jüngeres dienendes Wesen und gab, angeredet um den Herrn Pfarrer, aus der Ferne kaum verständliche Antwort; Eierspeisen, um welche es sich bei einem improvisirten Abendimbiß in einem Dorfe allein handeln konnte, gebieten Aufmerksamkeit auf Pfanne und Löffel; das wußte Lucinde wohl von ihren frühern misglückten Versuchen in diesem Fache. Nun folgte sie der eigenen Führung und verließ sich auf ihr Ohr, mit dem sie auch schon durch die Thür zur Rechten Männerstimmen hörte. Lauschen konnte sie nicht, wenn sie auch gewollt hätte, denn im gleichen Augenblick öffnete sich die Thür und Hedemann trat ihr entgegen, mit Schüsseln in der Hand und mit Gedecken. Er half an den Zurüstungen zum Nachtimbiß. Er staunte nicht wenig, als ihm Lucinde alles ohne weiteres aus der Hand nahm und selbst damit in die Küche ging.

Hedemann blieb stehen, hielt die Thür auf und sagte, zugleich bestätigend, daß man eben von ihr gesprochen:

Da ist ja jetzt das Fräulein!

Bonaventura hatte Lucinden, nach der Mittheilung der Frau von Gülpen zu Kocher am Fall, schon in der Frühe erwarten 51 dürfen. Und wie ein Priester, der nach der Beichte einer noch so großen Sünde dem Sünder begegnen kann als hätte er nicht ein Wort von ihm vernommen, schritt er jetzt hinaus, begrüßte freundlich lächelnd Lucinden in der Küche, beschwichtigte das Erstaunen der alten, aus dem Garten zurückgekehrten Frau und führte sie wie eine unverfängliche, ihm willkommene alte Bekanntschaft mit Wohlwollen an der Hand in das Wohnzimmer zurück. Ihre Hand zitterte in der ruhigen seinen.

Sie wollen zu meinem Onkel! begann er mit dem milden und weichen Tone, den Lucinde eben auf dem Friedhof gehört, dem Tone, den sie aus frühern Zeiten kannte, ja aus Zeiten schon, wo sie ihn selbst noch nicht gesehen; denn so konnte eben auch Serlo sprechen, wenn er auf dem Sopha lag, unbehelligt von seiner Frau und wehmüthig auf die Vergangenheit und Zukunft blickend. Aber diese sanfte Stimme kam hier vom Leben. von der Gesundheit, von einer Zukunft, die eine sichere und verbürgte war. So wissen Sie –? erwiderte sie und schlug die Augen nieder, als wäre sie sich der Glut derselben bewußt. Sie reichte die gefundenen Bücher dar und erzählte ihren Einfall in den Garten. Dann gab sie Briefe ab, die sie von Priestern und Freunden Bonaventura's mitbrachte.

Dieser erbrach die Briefe, las sie und überließ Lucinden den weitern Erkennungen und Ueberraschungen und Verständigungen zwischen ihr und Benno. Ob Bonaventura mit ganzer Theilnahme las? Ob er dies mit dem Gefühl that: Da ist sie denn also wieder, die Abgesandtin des Himmels oder – der Hölle? – – –

Man rüstete das Mahl. Benno plauderte über Armgart, über das Erstaunen derselben, daß sie Lucinden blos aus den Schilderungen ihrer Freundin Paula erkannt und von Angelika Müller, der Lehrerin, die Richtigkeit ihrer Vermuthungen bestätigt erhalten 52 hatte, über diese Lehrerin selbst, die wenig mehr über Lucinden gewußt zu haben schien, als daß sie einst auf einer Reise sie begleitet hätte – wußte sie mehr, so paßte es schwerlich, für die jungen Mädchen es wieder zu erzählen – über den Doctor Laurenz Püttmeyer, über Hegel's Lehrstuhl, über die metaphysische Drechselbank.

Bonaventura behielt Zeit, sich auch beim Lesen zu sammeln und vielleicht jenes Bildes in seinem Gedächtniß zu gedenken – eines erschreckenden – Seit acht Wochen war er Priester und saß im Beichtstuhl zum ersten male. Es war ein uralter, von Eichenholz kunstvoll gearbeiteter. Ein alter Holzschnitzer hatte die Zierathen dieses Stuhls aus der Geschichte des Sündenfalls genommen. Das Ganze drückte die Versuchung aus und die Erlösung. Adam und Eva standen links und rechts an den beiden Eingängen; der Priester saß wie im Baum der Erkenntniß; rings um ihn her windet sich die Schlange. Ueber ihm erhebt sich die Erlösung, der siegende Christus mit dem Kreuz und jene Maria, von welcher Friedrich von Spee, der Sänger der »Trutz-Nachtigall«, erzählt hat, daß sie einst zu ihrem Sohne sprach: »Mußt du so leiden, so bitte den Vater, daß er mich früher hingehen läßt«; aber der Heiland erwiderte: »Zwei haben im Paradiese gesündigt, Adam und Eva! Zwei müssen auch die Marter leiden, ich und du!« Und in diesem Beichtstuhl war es, daß beim ersten Beichthören seines Priesterlebens die erste Stimme, die zu Bonaventura gesprochen, ohne daß er die Beichtende sah, nach dem ersten Anmelden ihn anredete: Ehrwürdiger Priester! Ist es wahr, daß alles in Erfüllung geht, was wir, während ein Priester geweiht wird, von Gott erbitten? Bonaventura, ohne der Stimme zu achten, die er hörte, versenkt in die ihm so heilige Bedeutung des Amtes, Mitwisser fremder Fehle und Mitträger fremder Schuld, Mitträger fremder Reue und Buße zu sein, hatte erwidert: So Sie um ein ewiges Gut gebeten haben, gewiß; doch würde es Ihnen Gott auch erfüllen in jeder andern Lage, wo Sie in Andacht zu ihm beten! Darauf hatte die Stimme erwidert: Ich bat um ein Unmögliches, die Wiedererweckung eines Todten, oder darf man annehmen, daß der Geist sich auch auf Erden schon unsterblich erneuert und in wechselnden äußern Gestalten doch derselbe bleibt, dieselben Wunder wirkt, dieselbe Liebe entzündet? Bonaventura hatte erwidert: Der Geist, der heilig ist, ist ausgesandt in alle Welt und ist nur einer! Wodurch heiligen wir eine Liebe? hatte die Stimme noch scheuer gefragt; aber deutlicher kannte er die Sprecherin schon, als er das Wort gesprochen: Durch Entsagung! Er hatte diese Stimme schon oft gehört, wenn er die ihm so dringend empfohlene Gräfin Paula besuchte. Er hatte ihr Interesse beobachtet, ihr Erglühen, wenn er nahte, ihre Eifersucht auf Paula. In den Beichtstuhl hatte er sich gesetzt. ausgerüstet auf die schwierigsten Fälle, welche die Moraltheologie für das wichtigste und schwerste Amt des Priesters vorhergesehen, ausgerüstet auf alle Vorkommnisse der Herzenserleichterung, auf Ausreden und Ausweichungen aller Art, auch auf jene Zudringlichkeit der Mittheilung, die eine der lästigsten Erfahrungen gesuchter Seelsorger ist, auf die Plaudersucht, auf die Geheimnißkrämerei, auf ein sich mit der Wollust des Schmerzes selbst Preisgebenwollen und die sich selbst geißelnde Vertraulichkeitssucht, ja auf die Eitelkeit auf die Sünde – er kannte alles, was sich schaudervoll Menschliches im Beichtstuhl zu enthüllen pflegt! – aber daß ein zitternder, ihm bekannter und mit fühlbarem Athem sprechender weiblicher Mund so jetzt ihm, in unverkennbarer Andeutung von einer ihn doch nur selbst betreffenden Liebe und mit einem fast herausfordernden Spott wieder, der ihn erbeben machte, so in dieser Lage reden konnte, das war sogleich die stärkste Prüfung, die ihn nur hatte treffen 54 können. Lehren Sie mich entsagen! war die Aufforderung Lucindens. Er hatte sie ermahnt zum innern Gebet. Kennen Sie das innere Gebet? Nein! hatte die ermattende Antwort gelautet. Es ist die Sammlung aller Ihrer Gedanken auf Einen Punkt, die Ausmalung Ihrer Betrachtungen, als wären Sie bei dem, was Sie lesen, gegenwärtig! Wählen Sie dazu das Gebet des Herrn im Garten von Gethsemane und nehmen Sie Veranlassung zur steten Wiederkehr Ihrer Betrachtungen bei dieser Stelle, selbst bis zur Vergleichung der Darstellung, wie sie sich bei den verschiedenen vier Evangelisten findet! Setzen Sie diese innern Betrachtungen über diese eine Stelle der Leidensgeschichte so lange fort, bis eine kleine Altarkerze niedergebrannt ist, welche Sie draußen an der Kirchthür kaufen mögen! Dann sprach er sein »Absolvo« und die Gestalt, die er nicht gesehen, war verschwunden. Zur Mehrung aber seiner harten Prüfungen. und doch ihn unendlich beglückend, kniete auf der andern Seite dann, als zweite seiner ersten Beichteroberungen, Paula von Camphausen. Ach, sie hatte, einen ihrer freien Tage nützend, sein erstes Beichtkind sein wollen und Lucinde war ihr zuvorgekommen! Paula klagte sich des Stolzes an auf die Bilder, die ihr zuweilen im »Traume« erschienen. Ich habe verboten, liebe Comtesse, erwiderte er, daß man Ihnen wiedererzählt, was Sie infolge einer krankhaften Verstimmung Ihrer Nerven im Schlafe sprechen! Es geschieht aber doch! erwiderte sie, und ich hör' es auch gar zu gern und es ängstigt mich wieder! Auch hier verließen Bonaventura gleich im Beginn dieser Wirksamkeit alle Vorgänger in der Kunst der Ertheilung geistlicher Rathschläge – seltsam genug nimmt sich die Kirche aus in den Lücken, die ihre reiche Vergangenheit für die reichere Gegenwart offen lassen muß! Was soll sie sagen, wenn nicht die großen Männer der alten Kirchengeschichte, ein Gregor, ein Bernhard von Clairvaux in Dingen, die diese 55 begreifen konnten, zu ihr sprechen, sondern solche neueste Erlasse der päpstlichen Curie, wo man immer fürchten muß, Galileo Galilei und die Bibel fallen sich wiederum an und ringen im Kampfe! Der Magnetismus als Heilmittel war damals vor der heiligen Pönitentiarie noch Streitfrage; jetzt hat ihn ein Erlaß derselben verworfen. Bonaventura half sich denn auch in seiner Erwiderung an Paula mit der Erinnerung an das Hochgefühl der Märtyrer und sagte, wie einst der arme verbitterte Schauspieler Serlo gesprochen, daß man wohl Freude empfinden dürfe an sich selbst, setzte aber hinzu, nur müsse man über jedes Verdienst die Ehre Gott geben. Um die ihm unendlich werthe junge Freundin von der gefährlichen Sehergabe, deren Ruf schon die ganze Stadt erfüllte, ja die ihn, zum Spott der Neider und Feinde, die er schon besaß, sogar selbst mit dem Bischofshute geschmückt hatte, zu heilen, rieth er ihr an, kein einziges geistliches Werk mehr zu lesen, auch kein einziges Werk der nur den religiösen Sinn exaltirenden barmherzigen Liebe zu üben, sondern weltliche Schriften und weltliche Beschäftigungen – – So hatte er, in wahrhafter Versuchung und wie zwischen »Himmel und Hölle« damals in der Mitte, das wichtigste Werk seines Berufs begonnen, hatte sich selbst darauf eine schwere innere geistliche Strafe für etwa dabei obwaltende eigene Schuld auferlegt – und in diesem Augenblick nun fuhr diese Erinnerung und die an das ganze Jahr überhaupt, das er noch in jener Stadt hatte verleben müssen, wie mit einem einzigen schrillen Septimenaccord durch seine Seele –! Und zwischen alledem klapperten im Nebenzimmer Teller, kam die alte Renate, seine Wirthschafterin, und ließ ihre Gebäcke duften – sie hatte für beiderlei Geschmack gesorgt: Eierkuchen mit und ohne Schnittlauch – wurden die Stühle herangerückt und die Plätze vertheilt und auch schon der Kork einer Weinflasche wurde von Hedemann gezogen. Oft 56 faßt das Leben das Unscheinbarste in Gold und Silber und die Glanzgeschmeide unsers Innern, wie oft! in – Kupfer und Blei.

Beim ersten Zuspruch zum bescheidenen Mahle erfuhr Lucinde, daß sie also einen Wagen finden würde, der sie morgen früh nach Kocher am Fall, zum Oheim des Pfarrers, bringen sollte. Benno und Hedemann erklärten sie begleiten zu wollen. Benno hatte sich nur bei dem Stabe des Truppentheils, zu dem er gehörte, einige Tage zu stellen; lange Uebungen fanden in diesem Jahre, der Theuerung und einer in der Provinz herrschenden Aufregung wegen, nicht statt. Benno erklärte sich davon um so befriedigter, als er bei einem der ersten Advocaten der Gegend, in der Residenz des Kirchenfürsten der Provinz, arbeitete und seine juristische Laufbahn mit Eifer zu verfolgen schien.

Bonaventura kam auf die ihm von Lucinden mitgebrachten Schreiben zurück und auf deren Verfasser. Entweder nahmen sie seine Aufmerksamkeit wirklich in Anspruch oder sie gaben ihm nur Gelegenheit, sich über die Wiederbegegnung mit Lucinden zu sammeln. Lucinde hatte, noch ehe sie sich zu Tisch gesetzt, schon mit Renaten einen Strauß angebunden über einen Spiegel, von welchem sie mit dem Taschentuch einige Fliegenflecke abwischte. Frau Renate bemerkte diese Einmischung in ihre eigene Lebensaufgabe ohne besonderes Wohlgefallen. Morgen wäre Putztag und das Fräulein brauchte sich nicht zu incommodiren, hieß es. Lucinde replicirte, sie möchte sich beruhigen, ein Spiegel könne in einer Pastorei nur ein wenig beachteter Gegenstand sein. Worauf wiederum Renate: Ei sie möchte doch nicht glauben, daß sie die einzige Dame wäre, die hier schon vorgesprochen. Benno, dessen scharfes Auge das Interesse Lucindens für seinen Cousin bald übersah, flüsterte Renaten das schwerlich von der alten Frau verstandene Wort Mephisto's zu: »Du ahnungsvoller Engel du!«

57 Man hatte auf den Tisch noch eine kleine Studirlampe gesetzt. Ihr Deckel warf einen dunkeln Schattenring über die Mienen der dem bescheidenen Mahle Zusprechenden. Renate saß nicht darunter, wohl aber Hedemann. Dieser war, wie der Knecht beim Bauer, wie der Edelknappe beim Ritter, Diener und Freund zugleich, ganz im Charakter jenes Landes, das nach Benno's Erzählung im Höhenrauch seinen ewig blauen ionischen Himmel findet. Hedemann durfte ebenso das Wort führen, wie er auch das Brot vorschnitt. Von den Italienern, die durch den Ort hindurch weitergefahren waren, sagte er:

Sie sind aus Frankfurt eigens mit ihren Waaren verschrieben worden!

Hedemann! rief Benno. Mit ihren Waaren! Gegenstände heiliger Verehrung Waaren! Man sieht, wie lange Sie sich im ketzerischen Amerika getummelt haben! Hoffentlich kehren Sie an Porzia's Hand zur Rechtgläubigkeit zurück! Bona, hast du nicht noch eine alte italienische Grammatik übrig? Ich glaube, Hedemann verlegt sich auf Lingua Toscana in Bocca Romana. Porzia Biancchi scheint es ihm angethan zu haben!

Lucinde schürte den Scherz und erbot sich, da Hedemann in Kocher am Fall wohnte, zum förmlichen Unterricht, wenn er wollte.

Hedemann erwiderte seufzend:

Ein Schüler von fünfundvierzig Jahren!

Wer mit fünfundvierzig Jahren noch lieben kann, ist zu allen Dingen gelehrig! erwiderte Lucinde, die ein sittsames Verschleiern und nur leises Berühren zarter Gegenstände nicht in ihrer Art hatte.

Hedemann verweilte in der That mit Antheil bei den Lebensverhältnissen dieser Italiener, bei ihrer leichten Art, das Leben aufzufassen, ihrer Kunst, wo und wie nur irgendmöglich, dem 58 Leben Gewinn zu entlehnen, und wieder kam er bei der Thatsache an, daß sie eigens wären aufgefordert worden, gerade jetzt ins Land zu wandern und überall die Erzeugnisse ihrer Industrie zu den wohlfeilsten Preisen abzugeben.

Nun ja, sagte Bonaventura, gerade jetzt, wo man wieder beweisen muß, daß es in unserer Kirche eine unsterbliche Ehre ist, die Märtyrerkrone gewonnen zu haben!

Durch eine Ideenverbindung, die nicht ausgesprochen zu werden brauchte, weil jeder sie für sich selbst ergänzte, kam man auf Vorkommnisse des kirchlichen Lebens überhaupt. Hedemann fragte, ob nicht Bonaventura der morgenden, zu Kocher am Fall stattfindenden Besprechung einer großen Anzahl Geistlicher beiwohnen würde?

Bonaventura erwiderte zögernd mit der einfachen Frage:

Bei Beda Hunnius?

Sein Vetter verstand, was er sagen wollte, unterbrach die Angabe der Gründe, warum sich solchen Verschwörungen gegen die Regierung der Pfarrer entzöge, mit den Worten des Tell:

Doch, was ihr thut, laßt ihn aus eurem Rath!
Er kann nicht lange prüfen oder wählen;
Bedürft ihr seiner zur bestimmten That,
Dann ruft den Tell, es soll an ihm nicht fehlen!

Der parodirende Vortrag dieser Worte erheiterte die gedrückte Stimmung und Bonaventura sagte mit einem Lächeln, das seinen Zügen einen unwiderstehlichen Ausdruck vertrauenerweckender Güte gab:

Hätt' ich gedacht, daß ich heute noch bei Erwähnung der Schweiz lachen würde! Den ganzen Tag über war ich in die Erinnerungen verloren, die sich an unsern alten braven Mevissen knüpfen!

Das bereits gleich nach erster Begrüßung von Benno und 59 Hedemann berührte Thema wurde aufs neue aufgenommen. Man sah, daß es sich um den Tod eines Mannes handelte, der einer ganzen, weitverzweigten Familie werth gewesen. Da er auch an den Tod Friedrich's von Asselyn, des Vaters Bonaventura's und ersten Gemahls der jetzigen Frau von Wittekind-Neuhof, erinnerte, so konnte sich niemand gedrungen fühlen, bei dem Gegenstande allzu lange zu verweilen. Nur Lucinde – diese hatte schon seit lange das System, keine Wunde zu schonen, keinen Schmerz zu umgehen, alles gerade so zu nehmen, wie es ist. So sprach sie auch hier, ohne die geringste Besorgniß, ihre Umgebungen zu verwunden oder aufzuregen:

Ich höre ja auch, daß dieser Mann in einem Sarge begraben ist, den er sich selbst gezimmert hat?

Ja, sagte Bonaventura, er fing diese Arbeit an nach einer Predigt, die ich am letzten Allerseelentage hielt. »Wir leben den Tod!« – diesen Spruch eines Weisen behandelte ich und ich mag es wol in zu lebhaften Bildern gethan haben. Unser ganzes Dasein verwandelte meine oft leider noch recht schulmäßige Rhetorik in ein großes Leichentuch. Die Sterne waren die silbernen Verzierungen desselben, der Mond die Krone auf dem Grabe, ja alle Blumen, selbst die Rosen und Lilien, verwandelten sich in Palmenzweige und Todtenkränze. Von da an traf ich ihn in seinem Höfchen beim Hobeln von Bretern und wie ich ihn einmal über den Zaun fragte, was es da geben sollte, war's erst ein Bett; am Tage darauf sah ich, daß es ein Sarg wurde. Nun mußte man ihn in seiner Grille gehen lassen. Das Alter läßt sich nicht mehr viel von seinen Vorsätzen ausreden, am wenigsten den offenen Ausdruck seines Kummers.

Unwillkürlich mußte Lucinde bei diesen Worten ihres Pavillons in Schloß Neuhof gedenken und der alten Stammers, bei denen sie gewohnt hatte. Auch Hedemann nickte Beifall. Benno 60 aber wandte sich zu Letzterm, nach dessen Aeltern zu fragen – den Aeltern eines Fünfundvierzigjährigen –

Um die aus ihr unbekannten Ursachen, nach wenig ausweichenden Worten entstehende drückende Stimmung freier zu machen, erwähnte Lucinde das im Weißen Roß vernommene Gerücht von Schätzen, die wol gar der alte Mevissen könnte mit sich genommen haben. Dafür erntete sie aber eine strafende Erwiderung der gerade im Abräumen begriffenen Renate. Ei was, sagte diese, wer spricht denn solche Lästerungen nach? Schätze mit ins Grab nehmen! Wer nur das gottlose Gerücht aufgebracht hat! Sein ganzer Schatz ist sein gutes Herz gewesen! Mit dem ruht er in Gottes Schoos und Schutz. Und wenn man in den Wirthshäusern anders spricht, so sollt' es wenigstens hier bei einem geweihten Priester nicht wiederholt werden und über einen solchen Schimpf so still bleiben wie drüben – im Grabe!

Mit der peinlichen Stille, die auf diese entrüsteten Worte Renatens, die gleichfalls eine alte Dienerin des Hauses Asselyn gewesen wie der Verstorbene, folgte und von Bonaventura eben unterbrochen werden sollte, um der so mit Recht abgetrumpften Lucinde eine Genugthuung wenigstens des Anstandes zu geben, stand in fast gespenstischem Widerspruch ein Klopfen, das plötzlich vernommen wurde.

Frau Renate, die am ehesten gegen die Voraussetzung einer unheimlichen Thatsache hätte gerüstet sein sollen, ließ vor Schreck einen ihrer Teller ausgleiten. Hedemann und Benno waren schon aufgestanden. Sie gingen ans Fenster, wo sich das Pochen erneuert hatte.


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