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Mit dem spanischen Erbfolgekriege verspritzten die Deutschen das letzte Blut, womit sie bisher die Adern des übrigen Europäischen Staatskörpers beherrscht hatten. Seither immer in die Ereignisse verwickelt, wurden sie von ihnen immer übervorteilt; durch Friedensschlüsse wurden selbst ihre Siege Niederlagen. Daher vielleicht die Einmischung so vieler Andacht und Theologie in die deutsche Geschichtsbetrachtung. Daher diese deutsche Bürgerschaft zweier Welten, wo man gern vom Himmel Vorschüsse nimmt, um seine irdischen Rückstände zu bezahlen. Es ist auffallend, daß Lessing es sein mußte, der diese theologische Ansicht der Geschichte zuerst in ein System brachte. Möchte man nicht glauben, dieser große Freidenker habe dafür, daß er dem Christentume alle Geschichte nahm, der Geschichte dafür desto mehr Christentum geben wollen?
Oder war auch schon Lessing in die seither so überflüssig kultivierte Unterscheidung des Theoretischen und Praktischen verfallen? Glaubte er mit der bald so zahmen, bald so kühnen Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, daß Dinge, welche sich in der Theorie nicht beweisen ließen, dennoch für die Praxis verpflichtet sein könnten? Leibniz fing diesen unwissenschaftlichen Dualismus an, Lessing setzte ihn fort und Kant sprach ihn als ein System aus. Leibniz erfand neben seiner göttlichen Monadologie die menschliche Theodizee; Leibniz ist der Stifter jener Unterscheidung zwischen Dingen, die wider, und Dingen, die über die Vernunft sind, einer Unterscheidung, aus welcher man noch heute in der pietistischen Theologie die trivialsten Sätze herleitet. Man muß Leibnizen einen großen Einfluß auf die deutsche Geschichtsauffassung zuerkennen, von welcher sich außer Iselin, der die englische Methode der Psychologie befolgte, nur noch Kant selbst befreite. Kant näherte sich dem französischen Prinzipe, dem politischen. Seine Schüler machten leider ein juristisches Prinzip daraus und lösten die Frage über den Zweck der Geschichte in die über den Zweck des Staates auf. Noch sehen die meisten unserer deutschen Rechtslehrer in der Geschichte nichts als entweder die Herrschaft des Gesetzes, oder die Herrschaft der Sicherheit oder die Herrschaft des allgemeinen Wohles. Das juristische Extrem in der Weltgeschichte ist die Auslegung derselben nach der Offenbarung des Justinian, das theologische die Auslegung nach der Offenbarung St. Johannis.
Lessing hatte mehr bindenden als trennenden Verstand; denn man spricht weniger von seinem Scharfsinne als von seinem Witze. Lessing, indem er das Christentum vernünftigte, hütete sich wohl, die Philosophie zu derationalisieren. Lessing war ein Feind der atomistischen Philosophie seiner Zeit und haßte sie wie die Regeln Boileaus. Seine teleologische Weise, die Geschichte zu ordnen, seine Idee der Perfektibilität und der Erziehung des Menschengeschlechtes waren die milden und harten Konsequenzen seiner Seelenstimmung, die sich von der sanften religiösen Glut, z. B. der in Moses Mendelssohns Morgenstunden aufgehenden Wahrheitssonne, gern erwärmte. Lessing machte aus der Geschichte eine pädagogische Ökonomie, er sah den Arm der göttlichen Allmacht in den verworrensten Perioden walten, und stellte alles in die Begebenheiten scharf Einschneidende, jede neue die Welt erschütternde Idee, jede Bereicherung der Kenntnisse oder des Glückes der Nationen als eine Stufe der göttlichen Welterziehung hin. So mußte Sokrates, so Jesus, so Spinoza kommen. Die Geschichte gleicht hier einer Aloe, wo aus dem unten ersterbenden Blatte oben wieder ein neuer grüner Keim hervorschießt. Gott selbst wäre, nach diesem Bilde bei dem Pantheisten jener Zeugungskeim, der in ewiger Metamorphose niemals stirbt; bei Lessing ist er der fromme und gute Gärtner, der seinen Stock begießt bei jedem Sonnenuntergang, und der sich zuweilen mit gemütlicher Pfeife vor ihn hinstellt, um das Ungeziefer von seiner lieben Pflanze zu vertreiben.
Dennoch muß ich gestehen, daß in Lessings Schriften etwas liegt, was dieser wohlgefälligen, genügsamen und beinahe optimistischen Ansicht der Geschichte zu widersprechen scheint. Leset seinen Laokoon! Wie schwelgt der enthusiastische Antiquar in Ausmalung jener Griechenwelt, wo selbst die Künste in das Staatsgewebe verflochten waren und sich eine Zartheit des Geistes in ihrer politischen Bevormundung aussprach, welche unsere Zeit nun und nimmermehr wieder produzieren wird. Der Olympische Sieger bekam eine Statue; aber nur erst derjenige, welcher es dreimal geworden war, eine solche, die seine eigne Gestalt wiedergab. Man wollte den Adel der menschlichen Figur bewahren, man wollte durch das Porträt nicht die ästhetische Anschauung des Volks an das Ordinäre und Zufällige verweisen. Dies ist eine so goldene und feinhaltige Regel, daß man bei einem Blicke auf unsere Zeit dagegen nur auf Barbarismen und gesellschaftliche Solözismen zu stoßen glaubt. Wie zerfahren und materiell sind unsere Interessen! Wie drängen sich Künste und Wissenschaften durch den Lärm des Tages hindurch! Unser Körper ist verweichlicht, unser Geist ist ohne Harmonie, und selbst das Christentum muß erst durch dialektische Mutmaßungen und Kühnheiten mit den edelsten Blüten der menschlichen Kultur verknüpft werden. Hätte Lessing diese Vergleichung angestellt, ich weiß nicht, ob ihm seine Perfektibilität nicht wie eine grundlose Schwärmerei erschienen wäre.
Ich bin Ihnen noch einen Bericht über eine Vorstellung Nathans des Weisen schuldig. Da Lessing für dieses Gedicht auf dramatische Darstellung verzichtete, und dem Schauspieler keine Winke gab, so ist es schwer, über eine richtige Auffassung des Nathan zu schreiben. Seitdem dieses herrliche, an Gemüts- und Verstandesleben so reiche Werk auf der deutschen Bühne heimisch ist, gefällt man sich darin, den idealen Charakter Nathans hervorzuheben und seine Realität als Jude, seine Nationalität fallen zu lassen. Einige Darsteller entschlossen sich, ihm wenigstens annäherungsweise eine ungefähre orientalische Färbung (in matterem Licht jedoch) zu geben: nur einen sah ich, der ganz Jude war, Th. Döring in Stuttgart.
Seydelmann, der sich rein an die ideale Bedeutung des Nathan, als eines weisen Mannes, hält, und das Jüdische nur in einer gewissen Gedrücktheit verrät, berief sich, als ich ihn um Aufklärung bat, auf die Tradition. Ich kann mir diese Tradition nur daraus erklären, daß die Juden den Helden ihres Lieblingsdramas, recht im Gegensatz gegen den abscheulichen Shylock, auch dadurch geehrt wissen wollen, daß sie die jüdische Färbung hier getilgt wünschen. Dem Juden ist der Jude auf der Bühne ebenso unangenehm, wie dem Pietisten Tartüffe, dem Advokaten der schlechte Advokat, dem Literaten ein Journalist, der sich auf der Bühne bestechen läßt. Die Juden mögen den Nathan nicht jüdeln hören und fragen: Sprechen die Juden denn auch im Orient so das Arabische, wie die polnischen Juden das Deutsche? Die Juden haben, bei ihrem wirklichen Interesse für Kunst, heutzutage in Kunstfragen eine große Macht. Es ist für Künstler und Dichter immer mit Unannehmlichkeiten verknüpft, wenn sie noch wagen, auf den Brettern und in Büchern Juden zu schildern, wie sie sind.
Nun kommt aber das eigentlich für die Juden Schmeichelhafte nicht heraus, wenn Nathan nur im allgemeinen ein weiser Mann ist. Die Tendenz des Lessing'schen Werkes war, den Wert und die Indifferenz dreier Religionen zu zeichnen, im besondern aber für eine bessere Anerkennung und Beurteilung des Judentums zu wirken. Diesen Zweck wird die Darstellung nie in dem Vollgrade erreichen, wenn sie in Nathan, diesem Weisen und Gefühlvollen, diesem echt menschlich denkenden Menschen, nicht eben auch wirklich den Juden gibt. Alle die sanften Regungen seines Herzens, seine Wohltätigkeit und Ehrlichkeit legen nur dann das gewünschte Zeugnis für seine Nation ab, wenn Nathan auch als Vertreter derselben auftritt.
Müßte nicht ferner schon die bekannte Tatsache, daß Lessing im Nathan seinen weisen, wohltätigen und toleranten Freund Mendelssohn (bis auf das Schachspiel treu) schildern wollte, für die jüdische Färbung sprechen, so sollte doch ohne weiteres dieser Umstand entscheiden: Der Schauspieler ist ohne den Juden Nathan auch nicht imstande, die Weisheit des Nathan so zu treffen, wie eben Nathan weise ist. Man lese doch genau, was Lessing seinen Helden sprechen läßt. Wird man nicht durchgängig jene den Juden eigentümliche Dialektik finden? Bilder, Gleichnisse, Schlüsse, wie sie nur dem Juden eigen sind? Man merkt es in den ersten Zeilen, die Nathan zu sprechen hat, daß er in der talmudischen Denk- und Schlußweise erzogen ist. Nathan ist auch Humorist. Er hat witzige Einfälle. Er kann (bei der Stelle: Kurz und gut – wo ist denn hier das Gut?) selbst in Augenblicken der höchsten Besorgnis nicht unterlassen, seine Befürchtungen in einen Witz zu kleiden. Dies alles ist so jüdisch, daß es, vom Schauspieler nicht hervorgehoben, für das Ganze wesentlich verloren geht. Die bloß rhetorische Wiedergabe dieses Charakters läßt ihn nie aus einem fahlen Grau heraustreten, so daß selbst eine so im übrigen durchdachte und würdige Leistung, wie der Nathan Seydelmanns, doch zuletzt eine Monotonie ist.
Wir sahen kürzlich Lessings »Hoheslied der Humanität« wieder, den unsterblichen Lobgesang der religiösen Duldung. Lessing nannte sich keinen Dichter! Wüßten wir nicht, daß die Zeit, in der Lessing lebte, nicht so krampfhaft versessen war des Dichters, mit dem jetzt Hunderte von Dichterlingen wie die Leipziger Lerchen sich in Musenalmanachen und Anthologien, wenn ihnen ein paar Reime gelangen, Sprenkel- oder wie man sagt spießweise aufhängen lassen; wüßten wir ferner nicht, daß man 1780 im Namen eines Dichters beinahe etwas Geringeres erblickte als im Namen eines Denkers, wir würden nicht fassen können, warum Lessing einen Kranz ablehnte, der unverwelklich ihm allein schon für diese kunstvolle, aus tiefstem Herzen geflossene und vom mildesten Hauche des Orients angewehte Schöpfung seines Nathan, seines Derwischs, des Klosterbruders, des milden Saladin und des Tempelherrn gebührt. Es ist wohl an der Zeit, der Gegenwart dies gemütvolle Gedicht zu jeder Stunde vorzuführen. Stehen wir doch leider wieder am Vorabend von Debatten, die wir über die bürgerliche Gleichstellung der Glaubensbekenntnisse in unsern Tagen kaum noch für möglich gehalten hatten.
»Emilia Galotti« wird sich seiner scharfen Charakteristik und des so sicher angelegten Aufbaues seiner Szenen wegen für die deutsche Literatur dauernd erhalten, wenn auch die vorgeführte Handlung, namentlich die Katastrophe in unsern Tagen noch mehr als in früheren wenig Überzeugendes behalten sollte. Lessing trug sich lange mit einer Übertragung der römischen Erzählung von Virginia, der Tochter des Appius Claudius, in die Sphäre moderner Anschauungen. Ein Vater ermordet seine Tochter, um sie nicht in die Hand eines tyrannischen Wüstlings fallen zu lassen. Um eine so entsetzliche Tat gerechtfertigt erscheinen zu lassen, bedurfte es überzeugender Motive. Für die Tat des Appius Claudius lag sie in der Tyrannei des Tarquinius, in dessen unwiderstehlichem Machtgebot. Damals gab es noch keine Rechte der Frauen, kein Ja oder Nein des selbständigen Herzenswillens, das Weib wurde dem übergeben, der es begehrte oder bezahlte, die Freiheit ihres Willens wahrte die Jungfrau, wenn sie nicht liebte, Liebe nicht erhören und erwidern wollte, höchstens durch ihren Tod. Der Vater kam in jener Erzählung der Tat zuvor, die vielleicht seine Tochter selbst vollzogen hätte.
Ohne Zweifel hat Lessing berechnet (denn vom Rechnen kann man seine Art zu dichten nicht freisprechen), daß die Hauptkraft der Schauspielkunst seiner Zeit in den Leistungen der Väterrollen, in denen eines Eckhof, Schröder und der ihnen Nachstrebenden lag. Liebliche elegische Mädchenerscheinungen gingen schon manche der zu früh vollendeten Charlotte Ackermann voran. Ein rührendes inniges Geheimleben waltet überhaupt zwischen einem Vater und einer Tochter – eine romantische Erhebung, der Glaube an die Tugend, der Glaube an eine Berechtigung der Tugend, sich aus dieser Welt voll Laster in reinere Regionen flüchten zu dürfen, hat ohne Zweifel die Seele Lessings bei diesem Werk dichterisch bewegt und zu den feinen Künsteleien des Verstandes im Aufbau der Szenen und der Charakteristik den Grundakkord der höheren Harmonie gegeben. Und doch – ein Vater könnte den kalten Stahl in das Herz seines Kindes stoßen? Die Rechtfertigung dieser Tat durch die politische Lage Roms erinnerte den Dichter an alles, was von ihm als Kritiker bekämpft wurde. Da sah er sogleich die Tragödien der Franzosen, wie sie gerade dies Motiv in ihrer phrasenhaften Gewöhnlichkeit, wie eine matte ausgeblaßte Hinterwand, die Rom und sein Kapitol auf Theater-Leinwand gemalt wiedergab, hinstellen würden. Durchaus wollte Lessing hier die Staatsaktion fernhalten und nur den reinen Quell des Lebens geben, ein sozusagen von melancholischen Hängeweiden beschattetes stilles Murmeln aus den Urtiefen der menschlichen Seele her. Sein römischer Hintergrund wurde somit das Leben der deutschen Duodezstaaten jener Zeit, sein Tarquinius Superbus jener Prinz von Guastalla, der mit dem einschmeichelnden Gift moderner Bildung, mäzenatenhafter Kunstliebe, poetischen Lebens auf schönen Villen, für welche man nur die Monrepos und Solituden Deutschlands zu setzen brauchte, um sogleich alles zu sagen, ein junges Mädchenherz betörte und einem Vater wünschenswerter erscheinen lassen konnte, daß – »eine Rose lieber von seiner eignen Hand geknickt wurde, ehe der Sturm sie entblätterte«.
In der Seele Lessings gestaltete sich dieser Plan mit deutsch-bürgerlicher Einfachheit. Die Tochter eines verdienten Offiziers, Odoardo Galotti, ist im Begriff, einen achtbaren, mit seinem Landesherrn nicht auf dem besten Fuße stehenden Grundbesitzer, den Grafen Appiani, zu heiraten. Die eigne Neigung Emiliens kommt dem liebenswürdigen Grafen entgegen. Zu gleicher Zeit hat sie das zweifelhafte Glück, dem jungen Landesherrn zu gefallen. Dieser verfolgt sie bis in die Messe und von dort bis ins Elternhaus; er läßt die Veranstaltungen gewähren, die sein Kavalier und Ratgeber, Marinelli, trifft, um ihm Emilia auf sein Lustschloß Dosalo zu verlocken. Marinelli überschreitet die ihm gegebene Vollmacht und rächt sich für eine ihm vom Grafen Appiani widerfahrene Beleidigung auch noch dadurch, daß er vorher den Bräutigam ermorden läßt. Emilia flüchtet sich mit ihrer Mutter in ein nächstes Obdach. Dies ist das gefahrvolle Schloß des Prinzen. Der Prinz bietet seine Überredungskunst auf, die junge Braut zu beruhigen, den Grafen als unverwundet darzustellen. Marinelli ordnet die Verzögerung der Gewißheit über den Ausgang des Überfalls. Schon kommt der Vater Emiliens mit der vollen Wahrheit; er kann nicht zur Tochter und zur Gattin dringen; der Zufall führt die Mätresse des Fürsten zu gleicher Zeit auf das Schloß, sie klärt ihm mit visionärem Blick den Gang der Intrige auf und Marinellis Verlegenheit läßt ihn auch nicht länger zweifelhaft über das, was hier entweder schon geschehen ist oder noch geschehen kann. Nun fliegt die Tochter in maßlosem Schmerz an seine Vaterbrust, er sieht die Mutter in Verwirrung; die Reden der Mätresse Orsina, die auch ihm Gift in die Hand gegeben, atmen Verzweiflung am ganzen Dasein, ja malen die Vernichtung als das süßeste Lebenslos aus. Die verwirrende Phantasie versetzt alle seine Geister in Aufruhr; in dieser Stimmung sieht er die Furcht, den Schmerz, die Bedrängnis seines Kindes und ersticht Emilien. Emilia bittet ihn selbst um diesen Tod. Die Wechselreden zwischen Vater und Tochter vor und nach der Tat sind von unvergleichlicher, tief ahnungsvoller Schönheit.
Goethe teilte bereits die Meinung der Zeitgenossen, daß Lessing angenommen haben müßte, Emilia hätte entweder bereits den Prinzen zu lieben angefangen oder gefürchtet, ihn künftig lieben zu müssen. Er tadelt Lessing für das, was ihm in dem Werke zu fehlen und hinter der Bühne liegen geblieben zu sein scheint.
Rätselhaft und peinlich lange währen allerdings die Szenen, wo Emilia mit und ohne Mutter beim Prinzen in dessen innern Gemächern verweilt. Wäre Emilia wirklich fähig gewesen, zu lügen, als sie ihr ganzes Glück aussprach, dem Grafen Appiani zu gehören? Wäre sie wirklich fähig gewesen, vom blutenden Leichnam dieses Geliebten hinweg in die Arme eines Verführers zu sinken? Kann »das Haus der Grimaldi«, in welches sie eingeführt zu werden fürchtet, in der Tat eine so vergiftende Atmosphäre ausgeströmt haben, daß sie ganz bestimmt voraussah, dort müßte sie unterliegen?
Der Vater deutet dies an – dieser Vater, der ein Krieger ist, ein geachteter Mann, kein Bettler, kein Pensionär, nicht gezwungen, von den Almosen des Fürsten zu leben! Die Mutter scheint schwach, aber sie scheint es doch nur; man hat keine Berechtigung, ihrem Entsetzensschrei über die Tat, die am Grafen verübt wurde, ihrem Jubelruf, die Stimme der Tochter im Nebenzimmer zu vernehmen, zu mißtrauen. Aber in der Tat– hier sind Lücken, hier sind hinter der Szene liegen gebliebene Motivierungen; hier hat uns wirklich die sichre Führung des sonst so verständigen Dichters verlassen. Stahr will diese Lücken nicht anerkennen. In begeisterter Durchführung sieht er eine psychologisch gerechtfertigte Tat, soweit man nur annähme, daß die handelnden Personen – Italiener sind. Ihr rasches Blut lasse sie schneller handeln, schneller hassen, schneller fürchten und wohl auch schneller – lieben? Bedenklich für die Deutung seiner Meinung, derzufolge Emilia dem Prinzen zu unterliegen fürchtet trotz ihres Glaubens an Tugend, zu bedenklich, sagen wir, zitiert er die bekannte Szene zwischen Richard III. und Königin Anna an der Leiche ihres ermordeten Gemahls. Dennoch scheinen ihm alle nur im rascheren Rollen des italienischen Blutes zu handeln. Er sagt: »Emilia will sterben dem zum Trotz, der ihr den Geliebten gemordet, sie will sich selbst mit dem Opfer ihres Lebens den Hoffnungen dessen entziehen, der ihr ihr Lebensglück zerstört hat.« Die Bemerkung ist fein; ob auch wahr? In allem, was sie oder ihr Vater äußert, liegt die Furcht vor dem, was möglich wäre. Also – sie hat sich halb und halb ergeben – warum sagt uns darüber nichts der Dichter?
Und nirgends mit Ausnahme der Zeichnung des Banditen Angelo, ist in dem Drama der italienische Schauplatz als am Gang der Handlung speziell beteiligt geschildert. Einige landschaftliche Striche ausgenommen und die Handlung könnte ebensogut spielen, wo »Kabale und Liebe« spielt. Von einem als rascher umkreisend vorausgesetzten Blut der handelnden Personen ist keine Spur. Im Gegenteil tritt nach der am Grafen vollführten Tat eine bedenkliche Stockung, ja unitalienische Schläfrigkeit des Szenenganges ein. Ein Mord, vollzogen in der Nähe eines fürstlichen Schlosses! Und wenn die Anstalten Marinellis auch noch so gut getroffen waren, schon die Verstellung mußte den Effekt eines solchen Überfalls greller hervorheben. Statt dessen bleibt alles wie im tiefsten Frieden. Ruhig und gemächlich geht die Handlung ihren Gang. Wenn auch fürstliche Nähe dem Ausbruch eines persönlichen Schmerzes noch soviel Dämpfer aufsetzen mochte, so bis zu einer fast wesenlosen, so zwei Akte hindurch fast stummen andauernden Zurückhaltung des natürlichsten Ausbruchs der Verzweiflung, der Untersuchung des Vorgefallenen, des Ausrufes: »Wo bleibt nur der Graf?« – so weit können sich in der Tat wenigstens keine italienischen Charaktere beherrschen. Oder ist das Kommen und Gehen, das Schweigen und Schleichen, diese unbestimmte Ausfüllung der Szene und mangelnde Verständigung der Hörer vielleicht wirklich ein Mangel der Dichtung, eine dem Autor weniger gelungene Bewährung seiner sonstigen Meisterschaft?
Einen klaren Einblick in die Absicht des Dichters kann das im Werke selbst so lose Gebotene nicht gewähren. Wohl aber können wir die Wirkung verstehen, die bei alledem diese unmotivierte, rein dem Ahnenden im menschlichen Gemüt überlassene Tat Odoardos auf Lessings Zeitgenossen ausübte. Zwar klagte der Dichter über die Aufnahme seines Werks, zwar erfuhr die in Charakteristik und Dialog so große Schöpfung für den Gang der Handlung den schärfsten Tadel von Kunstrichtern, die man achten darf, aber die magische Wirkung der Tat Odoardos blieb nicht aus. Es muß in jener Zeit, den gegebenen politischen und sozialen Zuständen gegenüber, gegenüber der tyrannischen Willkür, die an den größeren und kleineren Höfen herrschte, eine Stimmung des Gemüts gegeben haben, die den Selbstvernichtungsphantasien einer Orsina entgegenkam und ein Suchen und Beschleunigen seines Endes unter jeder nur irgend hinzutretenden Nebenveranlassung als ein Ziel lehrte, wie der damals zuerst in Deutschland auftauchende Hamlet sagte: »auf's Innigste zu wünschen«. Alle Spötteleien Schlegels und Börnes: Warum nahm Oberst Galotti nicht Extrapost und fuhr mit seiner Tochter aus dem kleinen Guastalla in einen andern Duodezstaat? Alle Ungewißheit über die wahre Sachlage der Relationen zwischen Emilia und dem Fürsten, ähnlich dem Verhältnis zwischen Hamlet und Ophelia, können auch jetzt noch nicht hindern, daß eine weihevolle und vom rechten Glauben an die Sache getragene Darstellung beim Anblick dieses Endes die Seele mit Schauern überrieseln läßt und uns zwingt, aus der Tiefe der Ahnung heraus das Los dieser uns vorgeführten schwachen, unentschlossenen und wie die armen Insekten sich in die Flamme stürzenden, weil willen- und machtlos gewordenen Menschen mit- und nachzufühlen.
Weniger wohltuend wirkt am Schluß allerdings die nur schwach betonte Gerechtigkeit. Fast will sich der Prinz noch als ein Gegenstand des Mitleids aus dem Konflikt der von ihm hervorgerufenen Leidenschaften empfehlen. Fast scheint es, als wenn Seydelmann Recht gehabt, wenn er Marinelli sich mit einem Blick entfernen ließ, der gleichsam sagte: in kurzem rufst Du mich doch wieder zurück.
Unsere Meinung ist, um alles zusammenzufassen, die: Lessing ging in seinem Haß gegen das, was Staatsaktion und französischen Geschmack berührte, in der Tat zu weit. Seine »Dramaturgie« ist nicht das letzte Wort, das die Gesetze des Dramas erledigt hat. Der Tod einer Tochter durch die Hand des Vaters bedarf eines mächtigeren Motivs, als Lessing in »Emilia Galotti« gefunden. Daß Emilia selbst sterben will, ist glaubhaft – warum sollte sie nicht schon allein dem gemordeten Freunde folgen wollen! Daß aber auch der Vater ihr diesen Tod gibt – aus Furcht vor »dem Hause der Grimaldi«! – aus Furcht vor der Macht eines solchen Duodezfürsten! – aus einem rätselhaften Instinkt, der sich nur gleichsam verirrt und statt des Prinzen dessen Opfer ersticht! – das ist ein Protest gegen Corneille und Racine, der nicht überzeugt. Corneille und Racine hätten in ihrer Weise allerdings gesagt: Appius erstach Virginia aus Haß gegen den Tyrannen Tarquinius und zur Ehre und Größe Roms! Sie wohl hätten dies phrasenhaft dargestellt, Shakespeare aber vielleicht – groß.
Lessing war in den letzten Jahren seines so kurzgemessenen Lebens auch in Italien. Er sah es endlich, das Land seiner Sehnsucht; er war in Rom und Neapel und kehrte vom klassischen Boden seltsam verstimmt, ja – wir können keinen andern Ausdruck finden, kleinlaut zurück. Prinz Leopold von Braunschweig, den er begleitete, mag ihn gequält haben mit den Repräsentationspflichten eines fürstlichen Reisenden; Zeit und Gelegenheit besaß er aber vollauf, alles zu sehen, was Winckelmann sah. Fand Lessing, daß er das Schöne und Antike zu sehr – aus Büchern studiert hatte? Einen vollen, freien, unbefangenen Blick für südliches Leben und südliche Welt hatte sich der deutsche Philolog von Stendal errungen. Der deutsche Philolog von Camenz war nur groß in den Gesetzen der Abstraktion geblieben. Vielleicht erschien ihm auf dem Marsfelde Roms sein alter polternder Oberst Odoardo schwächlich gegen jenen Appius Claudius, den er in seinen jüngeren Jahren, nach den Voraussetzungen der römischen Erzählung, hatte wiedergeben wollen – »Nathan der Weise«, Lessings letztes dichterisches Werk, hat einen unverkennbar südlicheren Hauch. Lessing wäre vielleicht nicht der einzige gewesen, dem die volle dichterische Weihe erst im spätem Alter kam.