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So haben wir nun die Grundzüge gezeichnet jener wunderbaren Erziehung, welche Blasedow ihrem Principe nach schon in der schlesischen Preisaufgabe zu lösen gesucht hatte, die er aber jetzt erst mit festem Eifer in ein zusammenhängendes System brachte. Er wollte den natürlichen und anfänglichen Menschen die Zukunft mit vollen Händen in den Schoß werfen. Er machte seinen Kindern den zukünftigen Ernst jetzt zum Scherze. Er ließ sie ihrem Fache so entgegenreifen, wie Prinzen und Könige immer schon das sind, was sie einst werden sollen, Prinzen nämlich und Könige. Unter den vielen Erziehungs-Systemen, welche unser Jahrhundert trotz seiner großen Bildung immer wieder entdecken zu müssen glaubt, war das seinige einzig genug. Er verzichtete sogar auf die Ausbreitung seines Evangeliums, weil er behauptete, bloße Apostel seiner Lehre könnten immer nur die Hälfte, d. h. gar nichts von dem thun, was darin ein Messias thäte. Denn seine neue Heilsordnung für die Kinder bestand darin, daß die Kinder aus den Schulen herausgenommen werden müßten, und jedes für sich einen eigenen Seelsorger hätte, »weil ja,« sagte er, »erstens Kinder keine Bienen sind, die nur massenweise ihren Honig weben und es gar nicht des Anfangens für werth halten, wenn sie nicht gleich ein ganzes Honigkloster mit hundert Wachscellen aufbauen können, und weil zweitens diejenigen Kinder am leichtesten fortkommen, die das Handwerk ihres Vaters lernen.« Blasedow sagte: »Erziehungsmethoden muß es geben so viel, als es Kinder oder zukünftige Berufe gibt.« Er verlangte für jede Pflanze einen eignen Gärtner oder wenigstens ihre eigne Behandlung und Pflege, worin auch gar nichts Widersinniges zu liegen scheint. Blasedow war überzeugt, daß es in dieser Sache nur darauf ankäme, sich die Zeit zu nehmen. Man müsse aushalten, und er hielt treulich aus.
Wir können unmöglich den ganzen Verlauf dieser vier verschiedenen Erziehungs-Cursus verfolgen, wie anziehend es auch seyn möchte, Blasedow's Ansichten über die schönen Künste und Wissenschaften, denen er seine Kinder widmen wollte, zu vernehmen. Ja, es kann selbst für den Liebhaber der Groteske kaum etwas erfunden werden, was ihm so viel Erschütterung für das Zwerchfell abwärfe, als dieser aus ernsten und kindischen Elementen zusammengesetzte Unterricht. Blasedow machte es mit seinem, wie mit dem Clavier-Unterricht, wo man den Kindern, die kaum die Octave greifen können, kein Duodez-Piano hinstellt oder sie nur Compositionen ohne Oktave spielen läßt; sondern die Töne müssen heraus, sollten es auch die Gelenke mit aus den Fingern. Eine Zubereitung der Wissenschaften für Kinder war ihm ein Unding, oder wenigstens sagte er: »Von diesem mit dem Schleim pappelnder Ammen und Kindswärterinnen angefeuchteten Brei bleibt bei den Kindern wenig zurück. Es geht ihnen Alles wieder dünn weg, und man muß in späteren Jahren Alles noch einmal von Vorn anfangen.« Blasedow erklärte, die Wissenschaften seyen den Kindern und überhaupt den Menschen nichts Natürliches; es müsse dabei immer ein Zwang stattfinden. Träte aber dieser Zwang, statt mit der Ruthe, mit einer Puppe auf, so würden die guten Stoffe nur unnütz verschwendet, ja, beschwerten auch das Kind mit Säften, die zu stark seyen für das noch dünne und hellrothe Blut. Seine pädagogische Physiologie bestand also darin, den Kindern vom Rostbeaf der Wissenschaft und Burgunder der Kunst die größten, ganzen und wahren Portionen vorzuhalten. Erst würden sie lecken, dann kosten, sie würden einige Bissen verdauen. Sie würden mit der Zeit noch mehr verlangen, als man ihnen Anfangs geboten hätte. So erzählte er denn auch nie: Seht einmal, lieber Engel, da gab es einmal ein Volk, die nannten sich die Römer und waren sehr kriegerisch und hatten einen König, der hieß Julius Cäsar; sondern im Gegentheil, er nahm, als er dem Schlachtenmaler Unterricht gab, Niebuhr zur Hand und sprach von Rom, als von einer ewigen Thatsache; er schämte sich, die Geschichte der Römer wie Zwieback einzubrocken und mit der Milch eines gemüthlichen Mährchentones aufzuweichen. Er sprach mit jedem Kinde über sein künftiges Fach ohne allmähliche Annäherung, sondern trat mitten hinein in die Verwirrung der Objecte, indem er sich auf die Spürkraft der Jugend verließ, die sich schon Licht und Luft machen würde, wenn sie rings nichts als Bäume um sich sähe und Gesträuch. Homer, Shakespeare, Lessing, da machte Blasedow nie einen Unterschied, geschweige, wenn er mit dem Schlachtenmaler oder dem Satiriker darüber sprach, obgleich sechs Jahre reichlich zwischen diesen beiden Jungen in der Mitte lagen.
Wir haben im vorletzten Kapitel wohl zu verstehen gegeben, daß Blasedow an den Schrecken der Scharfrichterei sich gewöhnen würde, wenn es sich darum handelte, in Theobald, dem Volksdichter, den Sinn für die Ballade zu wecken. Ja, so schwer es ihm wurde, so gab er dem Unterrichte Linke's, so hieß der Nachrichter, vor dem Schumacher's doch den Vorzug. Gertrud erfuhr davon und wollte sich das Leben nehmen; erst die Erklärung, daß Theobalden, als er zum ersten Male Linke's Wohnung betreten, der Hals mit dem Schwerte leise geritzt worden wäre, diese Genugthuung, die man im Volksglauben dem Rabenstein geben muß, um vor ihm sicher zu seyn, beruhigte sie. Theobald mußte sich alle Geschichten, die er von Linke erfuhr, alle Lieder, die dieser Mensch zu singen pflegte, aufschreiben. Blasedow war so unerbittlich, daß ihn sein eigenes Zittern und nicht einmal das seines Jungen rührte. Seine Methode war ihm heiliger Ernst, und er hatte zu viel Vertrauen auf sie gesetzt, als daß er nicht in jedem Gange, den Theobald zu Linke machen mußte, einen Schritt weiter rechts zum dereinstigen Parnaß erblickt hätte. Theobald machte noch keine Verse: denn Blasedow sagte: »Man leiert sich leicht in einen Ton hinein, der später nicht mehr auszurotten ist. Diejenigen Dichter, welche schon im vierzehnten Jahre Verse machten, sind keine große Dichter geworden oder mußten sich aus der Lyrik in andere Gattungen werfen. Die Dichtkunst ist nicht die Braut, sondern nur die Tochter des Genius. Sie kann sich nur vermählen mit dem Bräutigam der Reflexion. Die echte hinreißende Poesie begleitet auch seltner die erste, als die zweite Liebe, wie auch Cäcilia, die Heilige der Musik, kein Kind ist, sondern eine reife Jungfrau, die entweder noch keinen Geliebten gefunden oder den, den sie hatte, durch den Tod verlieren mußte.« So wollte also Blasedow in Theobald lieber die Sehnsucht nach Poesie, als diese selbst wecken. Poesie, die Fähigkeit, sich in Reimen auszudrücken, ist nichts Seltenes, aber die Sehnsucht darnach und die echte ohnedies – darauf zielte der Schütze hin. Wie oft aber faßte er nicht seinen künftigen Homer an der Hand und sagte ihm: »Mein Sohn, die Poesie ist gegenwärtig bei allen europäischen Nationen, die selbst welche oder den Sinn dafür hatten, in Widerspruch mit sich selbst gerathen.« Theobald hatte gerade eine neue Jacke und Alboin seinen Zeitungspanzer bekommen, als Blasedow einmal das Thema während eines Spazierganges so fortführte: »Die Dichtkunst überall,« sagte er, »ist an sich selber irr geworden, indem sie selbst zugegeben hat, daß sie eine neue Welt schaffen könne. Die gegenwärtige deutsche, französische und englische Literatur zeigt uns, wie verlegen sie ist um ihren Inhalt, um ihren Zweck und ihre Wirksamkeit. Unser Maschinen- und Erfindungs-Zeitalter hat den Gedanken erzeugt, daß auch die Literatur sich den Entdeckungsreisen anschließen müsse, den polytechnischen Gesellschaften und ähnlichen Instituten, die um jeden Preis etwas Neues aufbringen wollen. Die Miß- und Mistgeburten der neuen Romantik sind diese gewaltsam abgetriebenen halbfertigen Leibesfrüchte einer so an der Vergangenheit verzweifelnden Literatur. Und ich frage dich, Theobald, hat nicht selbst Göthe den Unfug dadurch begonnen, daß er manche Gattungen in der Poesie ineinanderschmolz und geglaubt hat, aus solchen Mischungen könnten sich specifische neue Gattungen für die Poesie herausscheiden? Die Folge dieser Verwirrung kann dir nur zu gute kommen: denn wir sehen immer mehr, daß das krampfhafte Productiv-Vermögen in der Literatur sich auf die breite Basis des Romans zurückzieht und dadurch der wahren Beruhigung der Aufregung in die Hände arbeitet, einer Beruhigung, die nur im Epos liegen wird.« Ein ander Mal sagte er ihm: »Im Ausdruck, Theobald, Einfachheit! Der Gedanke gibt den Ausdruck. Das Wort, mit Schmuck überladen, erdrückt oft den Sinn. Der Sinn muß der schmucke, stattliche Bannerträger eines Gedichtes seyn, nicht das Wort. Ein Büschel auf dem Haupt eines Rosses schmückt das Thier mehr, als die kostbarste, mit Gold gestickte Schabracke. Der gute Dichter nennt ein Bett: ein Bett; der schlechte nennt das Bett: des Schlummers Lagerstätte. Der gute Dichter sagt: Gib mir die Hand! der schlechte: Reich' mir deine Rechte! Der Schmuck und das Hauptbild des Gedichtes, die Allegorie und das Symbol müssen im Ganzen liegen; beim Volksdichter zumal, der von Allen gesungen werden will und überhaupt gesungen. Ich sage nicht, Theobald, daß jedes Gedicht singbar seyn muß, daß ein Gedicht keinen Werth hat, welches man nicht in Musik setzen kann: es gibt Gedichte genug, die ihre Musik in sich selber tragen und durch Töne überladen werden würden; allein deine Gedichte sollen in Musik gesetzt werden, d. h. du mußt die Musik nicht vorwegnehmen, du mußt nicht Ausdrücke gebrauchen, die schon die Stelle der Musik vertreten, du mußt sparsam mit Bildern seyn, und die Composition die blühenden Bilder seyn lassen. Was ist z. B. musikalischer als die Nachtigall? und ein Lied, worin die Nachtigall singt, eignet sich so schwierig für die Composition; es ist schon eine Ueberfüllung, das schöne Wort Nachtigall, das allein einen ganzen Glockenwald von Accorden in unser Ohr duften und klingen läßt, durch Gesang auszudrücken. O, die Sprache und der Geist, der sie belebt, mein Sohn, ist ein unendlich Feines, und du wirst dir noch viel die Ohren stutzen müssen, um für diese Wunder der Kunst und Natur ganz empfänglich zu werden.« Und dann sagte er ihm auch wohl wieder: »Heutiges Tages, mein Sohn, will man in der Dichtkunst immer nur die Originalität sehen. Laß dich dessen nicht irren. Die Zeiten ändern sich, die Nerven beruhigen sich. Heute soll aus jedem Gedicht etwas Eigenthümliches herausspringen, weil man eben an das Alte und Ewige nicht glaubt und immer eine neue Erfindung, eine neue Dampfvorrichtung etwa und dergleichen selbst in idealischen Dingen entdecken will. Aber sey getrost: schon morgen will ich nachfragen und bin gewiß, man wird mir und dir einräumen, daß keine Originalität origineller ist, als die Schönheit. Wie viel Gedichte haben sich nicht bemerkbar gemacht, weil sie originell sind! Allein, sind sie nicht auch schön, so dürften sie bald vergessen seyn. Das wahrhaft Schöne ist auch immer originell. Das einfachste Gedicht, zart und sinnig durchgeführt, ist originell. Deßhalb also, Theobald, brauchst du keine Angst zu haben.«
Und so sprach Blasedow mit seinem dritten Knaben Stunden lang und wiederholte sich so oft, bis er in der That Einiges davon begriff und sich in solche Anschauungen, wie sie Blasedow nur leider nicht entwickelte, sondern gleich fertig hinstellte, doch allmählich hineinzudenken anfing. Dem Bildhauer gab er die besten Aufmunterungen, indem er sagte: »Die Zeit, Amandus, wo man die Verdienste durch Dummheiten, die Erinnerung an große Männer durch Flanelljacken für Gichtbrüchige ehrte, wird mit der allmählichen Auflösung des immer noch nicht ganz entbundenen Zopfes der Menschheit enden. Wer wird noch ferner das Copernicanische Sonnensystem dadurch ehren, daß man zwölf Knaben jährlich in Thorn einmal die Rotznase putzt, ihnen ein neues Hemd auf den Leib zieht und Thorner Pfefferkuchen schenkt? Ich rechne stark darauf, daß sich der Geschmack für das wahrhaft Schöne in kommenden Jahren besser anläßt, und daß die Menschen, je kleiner sie mir allerdings zu werden scheinen, doch die Größe an den Todten werden zu schätzen anfangen. Ich bin überzeugt, Amandus, daß ich keinen Beruf für dich passender wählen konnte. Die Menschen werden immer träger werden, ohne jedoch gerade Rückschritte in geistiger Bildung machen zu wollen. – Im Gegentheil, sie werden nach Gelegenheiten geizen, um dadurch wenigstens Verdienste sich zu erwerben, daß sie die der Andern anerkennen. Der Sinn für das Große wird sich mit der Kraft dafür nicht verlieren, sondern nur steigern, da es doch eine Betünchung der Schande geben muß. Wer in Antrag bringt, den Gänsen des Capitols ein Denkmal zu setzen, wirft damit ehrenvoll die Genugthuung zurück, als könne er noch einmal dazu kommen, das Capitol retten zu müssen, wenn auch nur durch sein Geschrei. Dixi et salvavi animam meam, kann Jeder sagen, der, ohne lesen zu können, doch für die Errichtung eines Guttenberg-Denkmals Geld hersteuert. Wer Göthen und Schillern Denkmale setzt, kauft sich gern damit einen Ablaß, die Schriften dieser Geister nicht zu studiren. Die Denkmäler werden die katholische »Fülle der guten Werke« werden, opera operata, aus denen heraus der Pabst oder das Gewissen Dispens ertheilen, um zu thun, was man will, und Gott, Schiller und Göthe einen guten Mann seyn zu lassen. Je schlechter unsre neue Literatur wird, desto mehr werden der alten Denkmäler gesetzt werden. Die Statuen werden Pasquille auf die Nachlebenden seyn; die Lorbeern des Miltiades werden, ungleich dem alten Themistokles, den Themistokles unsers Publikums wenigstens desto besser schlafen lassen. Warum auch nicht? Man bezahlt seine Kirchensteuer, wenigstens einen Stuhl in der Kirche, wenn man auch nicht darauf sitzt, man gibt dem Armen, dem Könige, man gibt den Künsten und Wissenschaften, was man schuldig ist – nun laßt mich in Ruhe und stört mich in meinem Garten nicht, den ich hinter meinem Hause und Perlhühner und Fasanen darin habe!« Und wieder ein ander Mal sagte Blasedow: »Gib Acht, der steigende Sinn für Denkmäler, Amandus, gibt noch mehr Denkmäler, als nöthig wären! Die Fürsten und Minister werden bald auf den wissenschaftlichen Ruhm eifersüchtig werden, den man jetzt so geflissentlich zu ehren anfängt. Man wird bald nicht anders noch Concessionen zu öffentlichen Statuen erhalten, wenn man nicht (wie du ja vom Brodbacken weißt, wo immer noch Teig genug übrig bleibt, um eine Puppe daraus zu backen) verspricht, auch den regierenden Landesfürsten gleichsam als eine Nachgeburt des in Stein zu verewigenden Local-Homers und Local-Sophokles aushauen zu lassen. In solchen Fällen tröste dich mit dem Alterthum, wo du finden wirst, daß wenigstens auf öffentlichen Beschluß hin selten diejenigen abgebildet wurden, welche es verdienten, und weit öfter solche, die keine Hoffnung hatten, anders, als durch Stein oder Erz, auf die Nachwelt zu kommen. Wie Demetrius in Athen im Nu durch dreitausend Bilder hat geehrt werden können, erklärt sich auch kaum anders, als durch eine Form, aus der die Bilder wie zinnerne Soldaten oder Münzthaler hervorgingen. Also tröste dich, es waren nicht Alle Alexander und Pindare, die die alte Plastik zu verewigen hatte, sondern oft nur ihre Lieblinge und Sklaven und guten Gevatter. Agesilaus sagte sogar: Hab' ich Großes gethan, so brauch' ich kein Denkmal; hab' ich nichts gethan, so helfen mir alle Denkmale der Welt nichts! Diese lakonische Ansicht reißt nicht ein, mein Sohn; laß uns nur erst die ganze deutsche Literatur und Kunst verewigt sehen, so wird man Eifersucht genug erweckt haben und die Menschen bald davon überzeugen, daß gerade diejenigen, welche keine Kunde von sich hinterließen, am ersten des Denkmals bedürftig sind. Dein Verdienst wird dabei die beste Rechnung machen.«
Ein Hauptmittel Blasedow's, den Satiriker für den Witz empfänglich zu machen, bestand auch darin, daß er ihm komische Schriften zu lesen gab und ihn während dessen beobachtete. Sowie die satirische Arznei wirkte, und die Gesichtszüge des Knaben sich zum Lächeln verzogen, befahl er, das Buch zuzuschlagen, und sprach mit Alboin die Ursachen durch, die ihn vermocht hatten, gerade hier zu lachen. Freilich lachte Alboin noch weit öfter über Dinge, die gleichgültig waren, als über das wahrhaft Witzige; doch war es Blasedow schon hinreichend, ihm dasjenige, was ihm komisch dünkte (und später traf er schon das wahrhaft Witzige), in die einzelnen Faktoren zu zerlegen und ihm zu zeigen, wie hier der Contrast oder der Nonsens oder sonst eine rhetorische Figur dem Lesenden wie ein Flaum in die Nase kitzelte. Es entging Blasedow nicht, daß die Grundbestimmung des Lächerlichen auch in der Schmerzlosigkeit und Behaglichkeit liegen müsse, und so hätte er gern gewünscht, ein künstliches Mittel zu finden, um Alboin auf unschädliche Weise Schmerzen zu verursachen und ihm dabei den Don Quixote in die Hand zu geben. Er frug Tobianus öfters und in allem Ernst, ob er in seiner Haus-Apotheke kein Mittel hätte, künstliches Leibschneiden (aber ohne Stuhlgang) zu erregen, weil gerade nichts so sehr zur Unbehaglichkeit stimmt, als Bauchgrimmen. Allein Tobianus trug sich nicht mit erfolglosen Mitteln, und Blasedow konnte sein Experiment nicht ausführen, wie wichtig es ihm auch gewesen wäre, Alboin zu zeigen, wie man den Witz als Mittel gegen Unterleibsbeschwerden anwenden könnte. Blasedow ging in diesem Unterricht so methodisch zu Werke, daß er nach einander eine Woche nur für das Launige, die zweite für den Witz schlechthin, die dritte für das Humoristische, die vierte für das Naive, die fünfte für das Bizarre und Baroke bestimmte. Namentlich für diese beiden letzten Begriffe ließ Blasedow seinen Schüler selbst die Beispiele suchen. Um ihn für das Bizarre zu erziehen, hätt' er ihm freilich nur die Tollheit seiner eigenen Erziehungsmethode eingestehen sollen; er sagte ihm aber: »Bizarr ist alles Außerordentliche, was du in's Lächerliche ziehst, und barok alles Gewöhnliche.« Er gab z. B. Alboin auf, die Kleidung zu beschreiben, welche Julius Cäsar trug, als er den Pompejus besiegte. Alboin hatte nicht antiquarische Kenntnisse genug, um das Costume der damaligen Zeit richtig einzuhalten; doch mußt' er schriftlich eine vollständige Garderobe Cäsar's entwerfen, die denn freilich barok und lächerlich genug war. Er trug ihm unter Anderem einmal auf, als ihm seine Beinkleider zerrissen waren, sich in einem Briefe deßhalb an den heiligen Geist zu wenden und ihm frei und offen sein gegenwärtiges Bedürfniß einzugestehen. Dieser Brief fiel in die Hände Tobianus, circulirte in Abschrift bei dem ganzen Sayn-Sayn'schen Klerus und trug nicht wenig zur Entwicklung der späteren Schicksale unsers Helden bei. Alboin mußte Gespräche zwischen dem Landesvater und der Katze des Hauses aufsetzen, Briefwechsel zwischen zwei Spazierstöcken, er mußte die schönsten Gedichte parodiren, indem ihm Blasedow die Anleitung dazu gab. Auch trug er ihm nicht selten auf, gewöhnliche Gegenstände in goldne Prunkkleider zu hüllen und einen Spaziergang durch Kleinbethlehem zu beschreiben, als wenn er durch die Residenz ginge, die er schon kannte. Er mußte sich dabei auf Stelzen heben und wie ein Dorfmonarch herablassend seyn. Er mußte die Heuwägen mit Staatscarossen vergleichen und die Kühe eine neue Art gehörnter Pferde nennen. Selbst für die Ironie suchte Blasedow nach Anknüpfungen, obgleich diese höchste Potenz des Witzes dem Jungen schon einzuimpfen ihm nicht gelingen wollte. Es trat noch Alles derb und grob auf in diesen wunderlichen Geistesspielen. Sehr beliebt war bei ihm auch diese Uebung, hundert Dinge zu einem Ganzen zusammenzumischen und dabei die Wahl des Passenden ganz zu vergessen. Er trug ihm z. B. auf, eine Schicksals-Pastete zu backen, wozu Alboin dann alle nur mögliche Begriffe zusammenraffte, die in ihrer Verbindung Lachen erregten. Ueber die Satire endlich selbst sagte er: »Wenn Witz und Carricatur durch alle Künste, durch den Ton so gut, wie durch die Farbe, können ausgedrückt werden, so ist Satire nur durch das Wort, nur durch die Poesie zu üben. Der Zweck der Satire ist, die Thorheit zu geißeln; allein nicht Alles darfst du strafen. Den Irrthum erreicht die Satire nie. Du kannst auf das Verbrechen keine Satire machen, du kannst einen Dieb nicht persifliren. Regierungen, die sich vor der Satire fürchten, pflegen den Schriftstellern zu sagen: Werft Euch auf passende Gegenstände! damit meinen sie, man solle Satiren auf die Galeeren schreiben, Satiren auf die Zucht- und Armenhäuser! Dieses Feld ist jedoch so sehr ohne Satire, daß, wenn z. B. ein Gourmand allerdings persiflirt werden kann, man sogleich damit aufhören muß, wenn er sich den Magen verdorben hat. Wo man sich selbst mit seinen Irrthümern, Thorheiten und Verbrechen schon die Finger verbrannt hat, da würde die Satire mit dem glühenden Brandmal-Eisen nur den Henker verrathen. Nimmermehr wirf also deinen Stachel dahin, wo die Polizei schon den ihren hingeworfen hat. Die Satire, mein Sohn, hat über alle Gattungen des Lächerlichen als Mittel zu gebieten; allein du mußt dich wohl hüten, einen chirurgischen Schaden durch die bloße Klystierspritze der leichten Ironie oder eine hysterische Frauenzimmergrille mit der Knochensäge des verwundenden Spottes heilen zu wollen. Einen Irrthum des erhitzten Verstandes thust du am besten und heilst ihn durch lauliche ironische Aufschläge. Du mußt, um z. B. den Pietismus lächerlich zu finden, diese, man kann wohl sagen, schwierigste Aufgabe der Satire, dich gar nicht mit dem Pietismus selbst einlassen, wie hier rohe Hände zu thun pflegen, sondern darfst nur, um siegreich zu Werke zu gehen, einen Weg einschlagen. Du mußt alle Intention des Spottes fahren lassen, sondern gehst vom Princip des Pietismus aus, führst dies in begeisterter Art durch, kömmst immer höher und höher, näherst dich der Vorhalle der göttlichen Ideenwelt, siehst im Triumph einer wahrhaften Vernunft- und Gefühlsreligion die Himmel vor dir aufgethan und blickst nun, im Vollgenuß göttlicher Seligkeit, mit jenem Lächeln, das ja auch Christus seinen Gläubigen nicht untersagt hat, auf den Irrthum zurück, der, weit, weit hinter dir geblieben, dir vergebens auf deinen Sinai hinauf nachklettern wird, und dessen eitle Bemühungen du jetzt erst mit großherziger Herablassung bemitleiden kannst. Dies ist der einzige Weg, wie die Satire dieser falschen Schöpfung, dieser Pseudo-Organisation, dem Pietismus beikommen kann. Vor allen Dingen hüte dich, in der Satire zu stark aufzutragen, wenn es sich nur um Irrthümer handelt oder um Handlungsweisen, deren Zwecke sonst offen und ehrlich sind. Schön und sanft ist jene Satire, wo sich der Schalk im Dichter die Erfolge einer zu verspottenden Absicht selbst ausmalt und sie natürlich ganz anders erfindet, als der Zweck jener Absicht war. Kann man einen Arzt, dem viele Kranke sterben, und der doch ein eigenes System in der Medicin haben will, heftiger und zugleich harmloser verwunden, als wenn man alle die glücklichen Kuren beschreibt, die ihm gelungen sind, und ihn darstellt als Jupiter Soter, der Erretter? Oder gesetzt, ein Vermöglicher schützte vor, er gäbe den Armen deßhalb nichts, weil sie durch Almosen nur im Bettel bestärkt würden, so würdest du eine Satire auf diesen Mann nicht besser einrichten können, als wenn du die großen und edeln moralischen und nationalökonomischen Folgen schildertest, die der hochherzige Gedanke des Vermöglichen dir zu haben schiene! Ueberhaupt muß die Satire, selbst wenn sie die Gebrechen ganzer Zeitalter geißelt, immer komisch zu bleiben suchen, weil die Menschen sich auch eher deßhalb bessern, wenn sie lächerlich, als wenn sie als schlecht dargestellt werden. Das Mittel aber, um immer komisch zu bleiben, liegt darin, daß du dich an nichts hältst, als an die Consequenzen der Thorheiten. Die Motive stelle nie in Abrede, sondern entwickle nur die Folgen, und der Contrast des Wahren und Falschen wird sich bald von selbst ergeben.«
Und an diese Vorschriften knüpfte Blasedow nun immer Uebungen an. Er ging die verschiedenen Zeitalter und Stände durch, um ihre Widersinnigkeiten zu entdecken. Er befahl Alboin, Bücher anzulegen über die Lächerlichkeiten der Aerzte, der Soldaten, der Advocaten, der Fürsten, der Hofmarschälle, der Liebhaber, der Sängerinnen, der Geistlichen u. s. f. Jede Woche mußte Alboin zwei Satiren machen. Er führte ihn dabei in ganz verwickelte Situationen ein. »Denke dir z. B.,« sagte er ihm, »du schriebest ein Journal und haßtest einen anmaßenden Schauspieler. Wie würdest du das anfangen, ihn zu verspotten?« Er gab ihm dann die Themen ungefähr so an: Herr N. N. erwirbt sich nicht bloß um die Literatur, sondern auch um die Geschichte die größten Verdienste. Ihm verdankt nicht bloß Schiller, daß er verstanden, sondern auch Wallenstein, daß er nicht vergessen wird. Wir würden keine rechte Vorstellung mehr von einem gewissen Tasso haben, wenn ihn Herr N. N. nicht spielte u. s. w. Diese Schemata, welche Blasedow seinem Sohn über die Recensenten, Prahler, Geizhälse u. s. f. sammelte, waren jenen Schablonen zu vergleichen, über welchen Amandus zeichnen lernte.
Und Oscar, der Schlachtenmaler – wie weit rückte dieser Bataillen-Raphael vor! Blasedow machte bei diesem eine bittere Erfahrung: denn, nachdem derselbe mehrere Jahre lang gezeichnet und gemalt hatte und seines Vaters Anleitung und Unterricht genossen, ergab es sich, daß er gar kein Auge für die Farbe hatte, sondern Alles grau in Grau sah. Die schönsten Gemälde, die er betrachtete, kamen ihm wie Chodowiekische Kupferstiche vor. Hätt' er Domenichino's Johannes ansehen können, er würd' ihn für die Müller'sche Copie desselben gehalten haben. Oscar zeichnete recht artig; allein von der Farbe sprach er wie ein Blinder und mischte sie untereinander, blau und grün. Beides konnte er nicht unterscheiden, wie wir Andern auch, wenn es nämlich bei Licht ist. Blasedow war erzürnt genug und hielt die Sache für Verstellung; er war gewiß, daß der Schlachtenmaler, falls ein organischer Fehler an seiner Pupille wäre, sich doch wenigstens durch eine gute Anordnung seines Farbenkastens orientiren könnte, wie Blinde in einem Zimmer sich leicht zurechtfinden, wenn es nämlich immer in der Verfassung bleibt, wie sie einmal von ihnen ertastet worden ist. Möglich, daß sich der Fehler legt. Wir können es abwarten.
Wir schließen nun hiemit die Betrachtungen, die wir dem Erziehungssysteme Blasedow's ausschließlich gewidmet haben, und kommen auf den ferneren Verlauf unsrer Memoiren zurück.