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Sowie Blasedow den ersten Fuß in seine Wohnung gesetzt hatte, fiel ihm wieder eine centnerschwere Last auf die Brust. Die durchgefallene Preisschrift fing jetzt erst an zu wirken. Die kleine Hausflur, die niedrigen rothen Thüren, die verbrannten Fensterscheiben, die halsgefährliche Treppe in dem obern Stocke bildeten wieder einen dunkeln Hintergrund, auf welchen er seine zornigen und grollenden Phantasien zeichnete, die Verwünschungen seines Schicksals, die Ironien über seinen Stand. Gertrud, seine Frau, lärmte im Hinterhofe, wo sie den Knechten, die eben vom Felde kamen, ihr morgendes Pensum aufgab; seine Kinder sprangen ihm wohl wie die Hasen über den Weg, allein sie interessirten ihn nur als Stoff, nicht als Person. Er sah in ihnen nur, was sie werden konnten; ihr eigenes Wesen zog ihn nicht an. So blieb er verschlossen gegen alle Welt und wurde von dieser in der That für einen recht bösen Mann gehalten.
»Es liegt oben ein Brief an dich;« schrie Gertrud vom Hofe her und fügte, unbekümmert über das Gesinde, hinzu: »wer weiß, was du dir schon wieder eingebrockt hast. Es ist ein Schinken und kommt gewiß vom Amte oder vom Consistori.«
»Satan!« brummte Blasedow vor sich hin und dachte: »Was ist die Frau roh! Wenn ich todt bin, heirathet sie noch einmal meinen Nachfolger. Sie hält die Pfarrei für eine Wirthschaft und ihre Männer bloß für einkehrende Reisende. Großer Gott! wo bin ich hingerathen? Lag dies denn Alles in deinen Plänen?«
Der Gedanke einer Scheidung beschlich ihn oft. Nur die Rücksicht für seine Kinder hielt ihn ab, den Gedanken weiter zu verfolgen. Eines Tages hatte er seiner Frau schon eine Anzeige vorgelegt, die sie Beide unterschreiben wollten, mit folgenden Worten:
»Wir Endesunterzeichnete setzen all unsere Freunde und Verwandte davon in Kenntniß, daß wir nach reiflicher Ueberlegung uns entschlossen haben, unsere Ehe factisch für null und nichtig zu erklären. Freud- oder Beileidbezeugungen werden verbeten.«
Allein Gertruden kam bei Lesung dieses Zettel-Grabsteines ihrer zweiten Hochzeit so sehr das Weinen und Schluchzen an, daß Blasedow einen Blick gen Himmel warf und ausrief: »Also, Herr, du lässest diesen Kelch nicht an mir vorübergehen!« Mit jener Entsagung, die immer bei Verzweifelnden das höchste Stadium ihrer Leidenschaft ist, steckte er den Zettel in die Tasche und begnügte sich nur, sie leise und vornehm mit dem kleinen Finger zu bedrohen. Wie sie ihn so groß und stolz sah und den goldenen Siegelring am Finger, hemmten sich ihre Thränen und sie sah ihn mit einem eben so dummen, als stieren Blick an. Er trat feierlich aus dem Wohnzimmer, wo diese Scene vorfiel, und begab sich oben in sein Studirzimmer. Sie aber, beschämt von ihrem Schmerze und ergrimmt über seinen Stolz, fiel über einen der Hausleute mit den heftigsten Vorwürfen her und dichtete, um sich nur austoben zu können, Jedem, der ihr in den Weg kam, Versehen an, die Niemand begangen hatte. Sie war mit einem Worte eine seelengute Frau, aber etwas roh.
Blasedow stieg auch heute mit Stolz und Verachtung seiner irdischen Verhältnisse in sein Studirzimmer hinauf. Es lagen einige Hindernisse auf der Treppe, die ergriff er und warf sie hinunter. Der Brief machte ihn nicht neugierig: denn er dachte, Schlimmeres könne er nicht enthalten, als seine Absetzung. Diese würde ihm sehr erwünscht gekommen seyn. »Werd' ich abgesetzt,« sagte er, als er sich seine Reitstiefeln auszog; »hab' ich irgend etwas gethan oder vielmehr noch wahrscheinlicher unterlassen, was ich thun oder nicht thun soll, so würd' ich dies als einen Fingerzeig ansehen, daß mein Leben eine bessere Wendung nimmt. So von der Pfarre weglaufen mag ich nicht. Es würde mir keinen Ruf machen. Auf den Ruf eines Religions- oder Dienstprocesses würd' ich schon eher meine fernere Zukunft bauen können. Was plag' ich mich mit Gedanken und Räthseln!«
Blasedow betrachtete den Brief und das Siegel. Er kam vom Consistorium. »Wahrscheinlich der Text,« sagte er, »den ich am Pfingstfeste der Gemeinde lesen soll, oder vielleicht liest Blaustrumpf mir den Text. Er kann meine Weigerung, der Einzige im Lande, ihm meine Lebensnotizen zu geben, nicht vergessen, denn dadurch ist sein Buch unvollständig und an der Ferse verwundbar geworden. Ich werde meine triviale Lebenslaufbahn noch gar an den Pranger stellen lassen! Ich weiß recht gut, daß ich unter den Menschen bin, was ein Kienapfel unter den Aepfeln; aber mich damit zu brüsten, das fehlte noch.«
Damit streckte sich dieser gefesselte Prometheus auf dem Lande weit über ein hartes Sopha hin, dachte dann einige Augenblicke nach, sprang auf und holte sich einige Bücher aus einem Wandschranke. Aber so schaal waren seine Empfindungen, so abgestorben seine Gefühle, daß Alles, was er unternahm, wie welk von selbst zusammenknickte. Hätte er etwas weniger Galle in seine Stimmung gemischt, so würde er in solchen Augenblicken, die ihn oft beschlichen, zur lyrischen Poesie reif gewesen seyn; aber sein Groll erstickte die Klarheit seiner Gedanken. Er streckte sich wie ein auf Beute lauerndes hungriges Thier.
»Es hilft doch nichts,« gähnte Blasedow endlich und erbrach das Consistorial-Siegel. Er erhielt folgendes Schreiben:
Herrn Pfarrer Blasedow in Kleinbethlehem!
Da es das feste Bestreben unserer Hohen Landesregierung ist, innerhalb ihrer Grenzen die Gottesfurcht auf reine, nur in der Vernunft begründete Principien zurückzuführen: so glaubt Ihre Ihnen vorgesetzte Behörde, daß zunächst alles auf dem platten Lande und den Städten verbreitete abergläubische Wesen, alle Ueberreste der finsteren Vorstellungen des Mittelalters, ja, der heidnischen Zeit mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden müssen. Es wird Ihnen zu dem Ende aufgetragen, sich nach der Schrift des Dr. Mörder: Thomasius oder die Religion innerhalb der Grenzen des natürlichen Menschenverstandes umzusehen, und haben Sie besonders auf die anti-abergläubische Erziehung der Kinder in den Schulen zu achten. Ihre Berichte haben Sie von Zeit zu Zeit dem Consistorium einzureichen.
Section des fürstlich Sayn-Sayn'schen Consistorii
zur Ausrottung des Aberglaubens.
Blaustrumpf.
Ein spöttisches Lächeln verbreitete sich über Blasedows Mienen, als er dieses Rundschreiben gelesen. Er wußte recht gut, daß Blaustrumpf's Schwiegersohn sein Substitut Dr. Mörder war, und daß die von Thomasius gemachte Auflage, bei welcher sich der Schwiegervater in Kosten gesetzt hatte, durch diese Empfehlung flott gemacht werden sollte. »Das ist eine saubere Clique!« dachte er; »der Eine hebelt die Anderen in die Höhe, während die Religion dabei zu Grunde geht. Nun wollen sie die stillen und abgelegenen Seen des menschlichen Gemüthes für grüne Morastlaken ausgeben und in das hohe rauschende Schilf des Glaubens ihre eigenen Kukuks- und Windeier legen! Da die Religion vom Himmel ist, so hat sie keine Sprache; aber sie wollen sie ganz und gar in die Grenzen der Heinsius'schen Sprachlehre einzwängen und ihren Geheimnissen keine andere Laute gönnen, als die im Adelung verzeichnet sind! Es soll bei ihnen Alles auf der Zunge liegen, damit statt der Religion ihr Ehrgeiz Platz hat, sich im Herzen einzunisten. Ich werde mich hüten, ihren Thomasius zu kaufen und damit die Gespenster zu bannen. Diese Leute auf dem Lande, ja, ich selbst bin so verbauert, daß wir das ganze Jahr hindurch nichts Neues zu sehen bekommen, als höchstens einmal ein Gespenst. Es fällt mir nicht ein, mein ganzes Dorf nun gar noch mit rationalistischen Mäusefallen zu umstellen und dem Aberglauben hinter allen Kirchhofsmauern Fußangeln zu legen. Was kann ich denn den Leuten groß für Christenthum predigen! Ich bin froh, und das Consistorium sollte es auch seyn, daß vom Mittelalter und dem Wodanglauben soviel noch übrig geblieben ist, daß die Menschen, wenn sie doch keine rechte Christen sind, wenigstens einen gewissen Respect vor der Finsterniß und dem Geheimnißvollen erhalten. Könnte ich meine Michel alle in den Mailänder Dom führen, dann brauchten sie nur etwas Weihrauchnebel, einige Lichter und Musik, um einen gewissen religiösen Flor vor die Augen zu bekommen; so aber sitzen sie ja im Wirthshause besser, als in der alten eingefallenen Kirche mit weißen Wänden und grünen Fensterscheiben, und ich danke Gott, damit sie mir nicht ganz verwildern, daß hinter den Hecken des Nachts die Kobolte lauern und sie ein wenig zusammenschauern, wenn sie um Mitternacht einen heiseren Hund in der Ferne bellen hören.«
Blasedow war gewohnt, mit dem Consistorium in stetem Hader zu liegen. Seit der Unvollständigkeit, welche durch ihn in das oft erwähnte Lexikon gekommen, suchte sich, wie er selbst sagte, der fette Consistorialrathskäse immer an der trockenen Brodrinde seiner winzigen Landpfarrer-Existenz zu reiben und hinterließ doch nur denen einen guten Appetit, denen jener ihn verderben wollte. Blasedow warf wie ein kecker Grönländerfahrer eine Harpune nach der andern in den dicken Wallfischbauch des Consistoriums und erzürnte dieses so heftig, daß er wenigstens durch sein eines Nasenloch, durch Blaustrumpf, mannsdicke Ströme von allgemein gesundvernünftigen und menschenverständlichen Redensarten spritzen mußte. Bald galt es einer Reparatur des Glaubens, bald einer Reparatur der Beichtschemel. Bald war ein Dogma, bald eine Orgelpfeife heiser geworden. Wenn irgend ein theologischer Streit auf den Tennen der Literaturzeitungen durchgedroschen wurde, so turbirte Blasedow seine Vorgesetzten, wie er sich gegen das Resultat dieser Kämpfe zu verhalten hätte. Ueber das Gebet des Herrn z. B. wurden zwischen Blasedow und Blaustrumpf Aktenstöße gewechselt. Die Regierung wollte durchaus das moderne Unservater in dem Lande einführen; alle Geistliche beugten sich unter die grammatische Zuchtruthe derselben, nur Blasedow behauptete: das Vaterunser sey wenigstens in seiner Gemeinde der letzte Hoffnungsanker für Leute, die ihn, und die er nicht verstände. Wollt' er nun auch daran noch rütteln, so riss' er ihn vielleicht aus dem Boden heraus und könnte dann bei manchem Individuum sein Leben lang warten, bis er ihm wieder beikäme. Auch würden, fuhr er fort, die Leute des Abends vor Schlafengehen doch immer wieder den Vater voransetzen und dadurch gegen die Kirche eine Opposition unterhalten, die für das Muckerwesen recht das Feld ackere. Auch sey es nur eines so egoistischen Zeitalters, wie das unsere wäre, würdig, vor Gott, dem Geber alles Guten, dem Schöpfer der Welt und dem Vater unser Aller, erst uns wieder vorangehen zu lassen. Mit einem Worte, er würde niemals die Religion gegen die Grammatik in Nachtheil bringen. Dixit.
Was wollte das Consistorium machen? Es konnte doch wahrlich keine Amtsentsetzung durch grammatikalische Gründe motiviren. Blasedow behielt hierin seinen Willen und setzte ihn sonst noch öfter durch.
Es war schon spät geworden. Er hörte, wie man unten die Vorbereitungen zum Nachtessen traf. War er aber einmal in einen Irrgarten von lebhaften Vorstellungen gerathen, so lief er die verschlungenen Pfade alle durch, statt daß er mit einem Sprunge über den grünen Rasen hin den Ausweg gefunden hätte. Er hätte ja das Schreiben ignoriren dürfen. Allein dies schien ihm Feigheit. Er war gewohnt, sich fortwährend Rechenschaft über seine Gedanken zu geben, und würde, wenn er nicht so gewissenhaft gegen sich selbst gewesen wäre, auch nicht so viel gelitten haben. Für diesen Brief grübelte er jetzt nach einem passenden Schlusse und nahm sich vor, nicht eher zu Nacht zu essen, bis er seinen Appetit durch den Caviar einer pikanten Polemik gereizt hätte. Er schnitt sich mit jenem Schmunzeln eine Feder, welches wir immer haben, wenn wir nicht die Zeit erwarten können, um einen guten Gedanken aufzuschreiben. Blasedow begann:
Hochwürdiges Consistorium!
Vor etwa drei Tagen starb in meinem Kirchsprengel eine Katze, hochbetagt, mäusemüde, auf ihren Lorbeeren ruhend. Der Tod ereilte sie mitten auf der Landstraße, welche das Eigene hat, daß sie Kleinbethlehem in vier Viertel theilt, weil nämlich noch eine andere Straße hindurchgeht. Sie streckte alle Viere aus und konnte nicht begraben werden. Die Gemeindeglieder verweigerten ihr das Begräbniß, nicht, weil sie kein ehrliches verdient hätte, sondern weil der Volksglaube besteht, daß man gewisse Thiere, unter anderen die Katzen, verwesen lassen müsse, wo sie der Tag ihres Verhängnisses ereilt. Auch ohne die Instruction eines hochwürdigen Consistorii würde ich gegen diese Katze eingeschritten seyn. Wenn der Aberglaube auf die Höhe kommt, daß er nicht bloß mehr eine moralische, sondern schon physikalische und atmosphärische Pest ist, wenn man Gefahr läuft, bei der Spinnstubenweisheit nicht bloß die Ohren, sondern auch die Nase sich zuhalten zu müssen, dann ist es Zeit, sich in's Mittel zu legen. Ich ließ die Katze aus dem Wege räumen. Ich ließ sie begraben.
Wenn ich nun aber auch den Sonntag darauf über die todte Katze hätte predigen sollen; ja, dann hätt' ich wohl von einem hochwürdigen Consistorio einen dazu passenden Bibeltext gewünscht. Meines Wissens steckt in der heiligen Schrift so viel Aberglaube, so viel dämonisches Besessenseyn und Teufelaustreiben, daß mir die Gemeinde auch wohl hätte erwidern können, so gut der Teufel in die Säue von Genezareth fuhr, eben so gut kann auch dem ein Leids angeblasen werden, welcher seine Hand an ein Thier legt, das in Egypten, dem Vaterlande der Zigeuner, göttliche Verehrung genoß.
Allein ein Hochwürdiges Consistorium scheint selbst daran zu verzweifeln, mit Hülfe der Bibel den Hexenspuck auszutreiben. Mit dem Glauben kann man wohl den Unglauben, aber nicht den Aberglauben widerlegen. Solange das Christenthum nicht anerkennen will, daß mit seiner Stiftung auch das böse Princip ausgerottet ist, solange die Macht des Bösen sogar noch auf einen einzigen Repräsentanten und Fürsten der Hölle übertragen wird, kann auch das Hexenwesen nicht durch die Bibel getilgt werden, Bonifacius und Dr. Mörder mögen noch so viel heilige Eichen umhauen.
Ein Hochwürdiges Consistorium deutet auf die Erziehung, als das beste Hülfsmittel gegen den Aberglauben hin; und dies ist der Nagel, für welchen ich einen besseren Kopf gewünscht hätte. Was wird uns Landpfarrern nicht Alles als Zweck der Schule angegeben? Bald sollen wir schon die zarte Jugend auf die Inoculation der Bäume und die Zucht der Seidenraupe aufmerksam machen. Dies rührt vom Finanz-Collegio her. Bald sollen die Kleinen auf die Ausbildung ihrer körperlichen Kräfte angewiesen und zu militärischen Spielen angehalten werden. Das ist ein Fingerzeig des Kriegs-Collegii. Dann erhalten wir die Weisung, auf die Belebung vaterländischer Gesinnung zu achten und früh in die Kinderseelen einzupflanzen die Anhänglichkeit an das angestammte Fürstenhaus. Dies ist specielle Cabinets-Vorschrift. Nun kommen noch die Ansprüche der Geistlichkeit und der Juristen, die Ansprüche der Polizei wegen des Nesterausnehmens und der Baumschulen-Beschädigung. Das Kind wird gezerrt und gezogen nach den verschiedensten Seiten hin. Was der Eine befiehlt, widerräth der Andere. Was da passend ist, ist dort schon ungereimt. Die Kinder gleichen hier jenem grünen weichen Serpentinsteine, aus welchem man Tintenfässer, Speinäpfe, Leuchterknechte, Apothekermörser, alles Mögliche schneiden will.
Statt daß ich nun ein Hochwürdiges Consistorium gegen dieses Gebrechen, welches nicht nur die Erziehung in Sayn-Sayn, sondern beinahe schon in der ganzen Welt auf eine Hanswurstsposse zurückführen wird, kämpfen sehe, tritt dasselbe gleichfalls für jene Hopfenstangen auf, welche man neben zarte zolllange Blümchen stecken will, damit sie sich daran heraufranken. Den Kindern den Aberglauben nehmen, heißt sie mit Braunbier statt mit Milch säugen. Ich vertheidige die Spinnstube nicht und den Hexenbesen, welchen die alten Weiber beharnen, um ihm für die Walpurgis-Nacht, wahrscheinlich durch die dadurch erzeugten Flöhe, jene Sprungkraft zu geben, die sich von einem Schornsteine aus nach dem Brocken versetzen kann; allein den Kindern die ganze Natur zusammenzusetzen, wie mit einem Dominospiel, ihnen zu beschreiben, wie alle geheimnißvolle Dinge sich unter der Luftpumpe der Aufklärung kümmern und schwach werden, das heißt gerade, die Kinder schwimmen lehren, noch ehe sie laufen, oder griechisch, noch ehe sie sprechen können. Ich erkläre mich hiemit für unfähig, in Kleinbetteln den Aberglauben zu vertilgen, wenigstens durch die Erziehung; es sey denn, daß der Aberglaube die Luft verpestet, wie bei der unbegrabenen Katze zu fürchten stand.
Ueberhaupt ist es ein Jammer, zu sehen, was man jetzt in der Schule sieht. Man überhäuft die Schule und das Haus mit so entsetzlich vielen Vorschriften, daß die Kinder unter dem Wust ersticken. Alle Wege, welche die Kinder einschlagen müssen, um Menschen zu werden, führen erst immer zum Engel oder Vieh; keiner geht gerade auf die Bestimmung los, welche die Natur jedem ihrer Erzeugnisse schon auf die Stirne gedrückt hat. Der Beruf bleibt nicht selten dem Zufall überlassen, und der Zufall macht oft, daß sich ein Bube, der längst über seine Zukunft im Reinen seyn sollte, erst dann darüber besinnt, wo es fast zu spät ist, und er eine Laufbahn einschlägt, die entweder unter oder über seine Kräfte ist. Die Erziehung ist keine absolute Wahrheit, die etwa bei Plato und dem Hochwürdigen Consistorio ganz gleichlautend seyn sollte; nein! sie ist immer die arithmetische Wurzel, welche man aus den Quadrat- und Cubik-Verhältnissen einer gegebenen Zeit ausziehen soll. Die Erziehung soll zwar dahin streben, Menschen zu bilden, die besser sind, als ihre Zeit; aber sie thut es verkehrt genug, wenn sie nur Menschen schafft, die die Zeit lieber gar nicht verstehen.
Blick' ich auf die Zeit, wie sie vor mir liegt, so finde ich, daß alle Fächer außerordentlich besetzt sind. Ich finde eben so, daß man sich allmählich der sonst so gerühmten Vielseitigkeit entwöhnen und sich vielmehr auf eine außerordentliche Virtuosität in einem einzelnen Fache beschränken muß. Sonst staunte man Leute an, die zu gleicher Zeit mit Händen und Füßen, mit Mund und Nasenlöchern alle Instrumente eines Orchesters spielen können; jetzt muß man es auf seiner einzigen G-Saite bis zu dem Seiltanz eines Paganini bringen können. Kurz, der Egoismus, das gefräßige Ungeheuer, das Alles in sich selbst verwandelt, worauf es sich lagert, der Materialismus, dieser ungeheuere Mastkoben, wo der erstere immer mit seinem Rüssel hineinwühlen kann und immer Stoff findet zu jener Aneignung, die sogar ein Göthe gelehrt hat: dies sind leider die Gesichtspunkte, von welchen man heute bei der Erziehung ausgehen muß. Der Himmel vergeb' es uns! Wir erziehen unsere Kinder für Rom und Griechenland und werfen sie dann, nachdem wir in philologischer Wollust die Keuschheit der Kinder für uns bekommen haben, abgenutzt und der Welt entfremdet, in eine Zeit, die sie nicht versteht, und die sie nicht verstehen. Diese Bosheit der jetzigen Erziehung, diese Veruntreuung anvertrauter Existenzen, dies Erbschleichen und Mündelprellen, dieses gemeine Abnutzen jener edeln Fähigkeiten, welche die Kinder brauchen werden, um sich einmal durch den drängenden, stoßenden Matrosenlärm des großen Seehafens unserer Zeit hindurch zu finden – o, es pocht gewaltig in meiner Brust und lockt mich, Hand anzulegen und die Subtilitäten-Krämer und pädagogischen Wechsler aus dem Tempel der Menschheits-Hoffnungen auszutreiben. Das Schulhaus ist ein Bethaus, möchte man mit dem großen Nazarener sagen, aber ihr macht eine Mördergrube daraus. Ja, Mördergruben sind unsere Schulen: nämlich bis zu einem gewissen Alter der Kinder, wo sie anfangen müssen, mit Rücksicht auf das Nothwendige und Ueberflüssige behandelt zu werden. Ein Hochwürdiges Consistorium verzeihe mir diese schroffen Aussprüche. Ich bin Vater von vier bis jetzt noch unerzogenen Kindern; ich werde sie erziehen, ich werde den Beweis liefern, was man aus dem Wachse der Kindheit für Gestalten bilden kann. Bin ich mit meinen Kindern zu gewissen Resultaten gekommen, so werd' ich ein Buch darüber herausgeben zu Nutz und Frommen der Welt. Ich werde darin ein vollständiges Seitenstück zu Karl Witte aufstellen: denn dieser junge Mustermensch ist nach dem Principe der Alleskönnerei erzogen; mein Princip ist das der Vereinzelung. Der Knabe soll Alles wissen, aber nur Eines können; er soll Jeden verstehen, aber nicht Jedes verstehen; er soll jede Fähigkeit zu schätzen, aber nur eine auszuüben wissen. Das ist mein Ideal, meine blumige Zukunft, das ist mein Trost für die schlechte Pfarre, auf der ich noch immer sitzen muß trotz der vielen Vacanzen, bei welchen ich regelmäßig von dem Hochwürdigen Consistorium übergangen werde. Ich zürne Niemanden. Gott, meinetwegen macht mich zum Zuchthaus-Prediger oder besetzt eure Pfarren mit fürstlichen Reitknechten: ich lasse euch in Frieden; aber schreibt mir auch in Unterrichtssachen nichts vor; laßt die Mägde binden und lösen, zu St. Andres, zu Sylvester, wann sie wollen, wenn sie nur die Milch nicht überkochen lassen und sich sonst hübsch reinlich und sauber halten. Ob meine Frau das Brod auf den Rücken oder den Bauch legt, das soll das Wenigste seyn, was ich ihr nachtrage, wenn es nur gut gebacken ist, und es nach dem Bäckersprüchworte nicht heißen darf, ich hätte sie durchgejagt, weil es nämlich abgebacken ist. Nein, ein Hochwürdiges Consistorium möge mir verzeihen, daß ich hiermit nach reiflichem Erwägen meine Weigerung erkläre, dem Rundschreiben eines Hochwürdigen Consistoriums die gewünschte Folge zu geben.
A. G. Blasedow,
Pfarrer in Kleinbethlehem.
Nachdem wir nun den Inhalt dieses aufsätzigen Briefes kennen, wollen wir unsere Verwunderung nicht verschweigen, daß es zehn Uhr Nachts geworden ist, daß Weib und Kinder mit großem Spectakel zu Bette gingen, und Niemand dachte, dem Hausherrn eine Einladung zum Essen zu schicken. So sehen wir, daß die Lebensglocke im Pfarrhause schon lange einen tiefen Riß und nicht einmal mehr so viel Klang hat, daß sie ihm zum Essen läuten kann. Die Herzen und Empfindungen in dem Hause waren schon untereinander geworfen, wie in einer Folterkammer. Jedes war froh, in seinem Winkel nicht gestört zu werden. Wäre hier jede Persönlichkeit, jeder Anspruch ein Instrument gewesen, welch eine Disharmonie würde das gegeben haben! Auch die Kinder paßten wie Milch und Obst zusammen, eine Mischung freilich, die Kinder oft in ihrem Magen zu vereinigen wissen. Ja, Gertrud, so eine gute Frau sie war, so reinlich sie ihre Kinder zweiter Ehe hielt, so viel sie an ihnen wusch und rieb und ihnen nach hohen Festtagen, wo gewöhnlich die Mägen gereinigt werden mußten, Rhabarber eingab, ja, selbst Gertrud hatte noch ein kleines verstecktes Interesse gegen diese Kinder, ja, sogar gegen sich selbst, indem sie dafür darbte und sparte, nämlich ihren Sohn erster Ehe, der ein Handwerk hatte lernen müssen und gegenwärtig auf der Wanderschaft war. Er wäre gerne nach der Schweiz und Paris gegangen, allein die Sayn-Sayn'sche Diplomatie hatte ihm dorthin nicht den Paß visiren wollen. Peter reiste somit jetzt in Ungarn und Siebenbürgen. Wenn ein Brief von ihm ankam, so küßte sie ihn, ob Blasedow gleich erklärte, er wäre durchstochen und käme direct aus der Pest her. Das legte sie ihm als Lieblosigkeit aus und sagte: »Mein Peter ist viel zu rein gehalten, als daß der je die Pest haben könnte, und überhaupt« – Wenn Blasedow dies Ueberhaupt und was darauf folgte, hörte, ging er immer mit einem Blicke gen Oben aus dem Wohnzimmer, welches auch allein das Sprechzimmer war.
Heute Nacht jedoch bemerkte der gefesselte Titan die Vernachlässigung nicht einmal. Er hatte in dem Briefe an das Consistorium so gewaltig mit seiner Kette geklirrt, daß er sich fast wie frei vorkam und mit leuchtenden Blicken in sein Bett stieg. Umjubelt und umlacht von den erträumten Wirkungen seines Briefes schlief er ein. Ja, er träumte früher, als er schlief. Das muß man nämlich können, wenn man gut und fest schlafen will.