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Der Sonntag (von dem ich nicht weiß, schließt er, oder beginnt er die Woche) wusch die Hände und Herzen der Bewohner Kleinbethlehems von den Werktagsresten rein. Blasedow that in der Kirche sein Mögliches (Tobianus that immer mehr, als sein Mögliches, weil er nämlich fremde Predigten ablas), um im Lichte der Religion die Entbehrung darzustellen wie den größten Reichthum. Er rieb das harte Holz seiner Gemeinde an das etwas weichere seiner Worte (er war kein großer Redner) und brachte wenigstens einen erbaulichen Rauch aus dieser Friction hervor, wenn er auch Keines Gemüth gerade entzündete. Er predigte nur über die Episteln, weil er gewohnt war, der Bequemlichkeit wegen seine Texte nur zu umschreiben und sich bei dem Evangelio nicht gut vorstellen konnte, wie sich eine Geschichte mehrfach sollte umschreiben lassen. »Die Menschen sind am glücklichsten,« sagte Blasedow, »wenn sie immer wieder in ihre Heimath zurückkommen. Führt man sie im Zirkel herum, so haben sie am ersten das, wornach sie trachten, die Beruhigung. Sie wollen zwar Alles lernen; allein sie halten nur das für wahrhaft neu, was sie schon einmal gewußt haben.«
Blasedow hatte nicht vermuthet, daß jener neuliche olympische Siegesapfel, den er einer modernen Atalante, der Gräfin Sidonia, im Wettlaufe des Witzes unter die Beine warf, ihn in ein so vertrauliches Verhältniß zu ihr führen würde. Er wußte auch noch gar nicht,ob er die Einladung annehmen sollte. Die Aussicht, mit dem ritterlichen Grafen oder auch mit Herrn Ritter in eine Fehde verwickelt zu werden, dafür schien ihm der Siegespreis einer Tasse Thee nicht lockend genug. Allein Gertrud bot ihre eigenthümliche polternde Ueberredungskunst auf, um ihn zu der Nachmittagswanderung auf die Neige zu bewegen. Sie griff den Hochmuth ihres Mannes an und sagte nicht ohne Grund: »Wenn sie auch nichts Anderes haben, so haben sie doch noch ihren Namen.« Sie meinte ferner, daß dieser vielleicht noch so viel werth wäre, wie der Blaustrumpf's, und daß Blasedow's Zukunft ohne die Sonne der Gunst schwerlich zur Reife kommen würde. Er leugnete dies aber und bemerkte bitter genug für seine Frau, »er hätte nur zwei Möglichkeiten noch, entweder den Regen einer gräflich von der Neige'schen Theevisite oder die Traufe eines langen Zankabends mit seiner Frau.« Mit dieser Erklärung machte er sich denn in der That auf den Weg.
Dieser Weg aber führte ihn über Dreifelden an dem rothen Ochsen vorüber, wo es noch heute einen Tanz geben konnte, und die Instrumente der Dorfkapelle schon dazu gestimmt wurden. Blasedow wollte eben am Fenster den Wirth zum rothen Ochsen grüßen, als er bemerkte, daß es dieser gar nicht wäre. Der Fremde aber nahm den Willen schon für die That und riß das Fenster auf, sich dem vorüberwandelnden Worte Gottes vom Lande kenntlich zu machen. Blasedow besann sich auch gleich und sagte: »Ei der Tausend, Herr v. Lipmann!«
»Ja, Pfarrerchen,« rief der Fremde, der es aber, ob er gleich ein Jude war, schon so weit gebracht hatte, doch als Fremder kein Schutzgeld mehr zahlen zu dürfen, und sogar baronisirt wurde. »Wir sind's wirklich! Kommen Sie her, kommen Sie herauf, Männchen! Nun, wie geht's denn Ihnen, Herr Pfarrer!«
Blasedow ging auch wirklich in den ersten Stock des rothen Ochsen, wo Herr v. Lipmann, fürstl. Sayn-Sayn'scher Hofagent, ihm sogleich den besten Platz auf dem Sopha einräumte und ihn nach der vertraulichen und protectionsfähigen Art der Juden behandelte, wie seinen besten Freund. »Herr v. Lipmann,« sagte unser Held, »Sie werden ja in der Umgegend der Neige so rar, wie die Ducaten! Sonst wurde gar kein Hase geschossen, daß Sie ihn nicht gleich beim Genick gehabt hätten.«
»Ja, nun ich ihn hab' herausgezogen aus der Patsch,« fiel Herr v. Lipmann ein, »nun ich die Güterlotterie für den verwegenen Mann riskirt und mir alle meine Freunde in Staatspapieren zu Feinden gemacht habe von wegen der Concurrenz und der Verderbniß, die in die Börse kommt bei den vielen Lotterien, die bloß das Geschäft untergraben! Wie konnt' ich aber anders zu meinem Geld kommen? Der Herr Graf hat gezogen von mir eine jährliche Apanage auf – straf' mich Gott – zweitausend Brabanter des Jahrs, und, um nur etwas davon wieder zu haben, mußt ich ihm auch noch die Güter verwalten und hinter die Oekonomie, hinter Forst- und Landwesen herseyn und nach dem Rechten sehen. Ich hab' an dem Geschäft mit der Lotterie, wozu ich gezwungen war, meine Mühe und Versäumniß nicht bezahlt bekommen. Jetzt hat er durch eine Finte, die, wenn ich kein so guter Mensch wäre, ihn auf die Galeeren brächte, mich noch um einen ansehnlichen Wechsel betrogen. Deßhalb bin ich hier und will ihm heute noch zu Leibe gehen.«
Blasedow fiel erschrocken ein: »Heute noch, Herr v. Lipmann, heute gibt der Graf einen großen Gesellschaftsthee?«
»Thee?« entgegnete der Hofagent; »was Thee? werd' ich ihm einbrocken dazu! Was ist Thee? Thee? Ich habe Vollmacht in der Tasche und Beweis, daß er falsche Wechsel hat ausgestellt auf Banquiers in meinem Namen und auf seine Ordre, Wechsel auf Paris, wo die meisten von denen Losen noch sind abgesetzt worden, was noch mein Glück war, da ich mir in Deutschland alle Staatspapiere auf den Leib gezogen habe durch die verfluchte Lotterie, alle meine guten Correspondenten und geschwornen Makler.«
Herr v. Lipmann deutete mit diesen Bemerkungen Verhältnisse an, die Blasedow zu wenig Financier war zu verstehen. Daß aber Herr v. Lipmann so gar verzweifelt that, und ihm alle Glieder so schlaff am Körper hingen, wie die goldne Uhrkette auf dem wohlgerundeten Bauche, schien ihm lächerlich, wenn er die ungeheuren Glücksgüter dieses Mannes in Erwägung zog. »Herr Baron,« sagte er, »Sie übertreiben! Sie haben uns ja doch Alle in der Tasche. Was Sie an einem Einzelnen einbüßen, gewinnen Sie am Ganzen wieder. Sie übernehmen eine Anleihe des Staats, Sie emittiren Canalactien und Eisenbahnbillets und behalten die Hälfte davon für sich. Sie unternehmen ein kleines Geschäft mit Spanien und lassen sich für die Vorschüsse, die Sie geben, eine Provision zu gut schreiben, die ihnen immer den Rücken deckt. Die Völker brauchen ja immer Geld, wenn ihre Häupter dabei etwas verdienen können. Herr v. Lipmann, ich muß gestehen, ich habe allen Respect vor ihrem Genie!«
»Ob ich ein Genie bin,« sagte der Hofagent, »weiß ich nicht; aber mein Sohn ist eins, und meine Tochter kann ihm beinahe das Wasser reichen. Mein Sohn studirt, Herr Pfarrer; wenn Sie in die Residenz kommen, besuchen Sie mich, überzeugen Sie sich, was ein Knabe von fünfzehn Jahren leisten kann, wenn's nicht an den Eltern liegt. Meine Tochter ist ein Jahr älter, aber es ist das nämliche Blut. Sie singt, sie componirt, sie spielt Variationen (Variationen von Kalkbrenner) einzig. Wir Väter haben's geschafft. Nun, unsre Kinder werden's anwenden. Ich habe mit alten Büchern angefangen und Schildereien, und mein Sohn wird selbst welche schreiben, und von meiner Tochter ist eine Landschaft schon auf der Kunstausstellung ausgespielt worden. Mein Sohn sollte mit Gewalt auf's Geschäft; ich habe sein Genie verkannt, ich habe eine große Sünde gethan, bis ich mit Herrn Itzig gesprochen.«
Blasedow bedauerte, Herrn Itzig nicht zu kennen. Herr v. Lipmann verwunderte sich darüber und bemerkte: »Was? Sie kennen Herrn Itzig nicht? Herr Itzig ist ein College von Ihnen. Er ist der größte Feind von Thalmud, und hat sich vor zwei Jahren bei uns mit dem neuen Gottesdienst etablirt. Er predigt lauter Liebe, Glaube und Hoffnung und hält Vorlesungen über die schönen Künste und Wissenschaften, das Billet ein Carolin. Der kam eines Tages zu mir und sagte: Herr von Lipmann, Sie sind grausam; Sie wollen unterdrücken das Genie von Ihrem Sohn. Agathon wird in sich vereinigen: Heinrich, Michel und Meyerbeer, er ist ein Astronom von Wissenschaftlichkeit, ein Dichter von einem Gelehrten, ein Componist von einem großen Clavierspieler. Herr Itzig, sagt' ich, setzen Sie sich; wenn es Gottes Wille ist, daß mein Geschäft künftig, von meinem ersten Cassierer soll fortgesetzt werden, so machen Sie ein Genie aus meinem Sohne! Und nun bitt' ich Sie nur, Herr Pfarrer, besuchen Sie mich und lassen Sie sich vorspielen von meiner Tochter eine Oper, von meinem Sohn declamiren ein Trauerspiel. Sie werden sagen: Herr von Lipmann, Sie sind ein glücklicher Vater!«
Blasedow's Ideen streiften etwas nahe an die des Hofagenten. Ihn rührte das Entzücken eines Mannes, der im Schmutze der Gewinnsucht aufgewachsen war und doch so viel Adel des Herzens noch in sich bewahrt hatte, daß er den Vorzug der freien Geistesbildung vor dem Wucher fühlen konnte. Er schwieg zu der begeisterten Sprache des großen Börsenmaklers; allein in seinen Blicken spiegelte sich der Ausdruck der wärmsten Theilnahme wieder, und er drückte sogar die Hand des Hofagenten, der ihn bat, zu trinken und zu sagen, ob es einen bessern Wein gäbe, als den, welchen Herr v. Lipmann aus seinem Keller mit sich führte? Als nun der Hofagent im Detaillobe seiner Glücksgüter sogar auf seinen Garten gekommen war und erklärt hatte: er hätte im vorigen Jahre Tulpenzwiebeln gesetzt, von denen das Stück tausend Gulden kostete, sprang Blasedow auf und sagte: »Herr v. Lipmann, haben Sie Mitleid mit dem Grafen! Es ist, weiß Gott! ein schuftiger Krippenreuter; allein wer einmal in die Minusregionen hineingerathen ist, aus dem kommt sein Lebtag kein Plus mehr heraus! Es ist mir um die Frau, die allerdings eitel ist, aber kein schlechtes Herz hat und innerlich viel ausstehen mag!« Blasedow mochte sogar Angst haben, daß der heutige Besuch des Hofagenten auf der Neige zu betrübenden Gewaltthätigkeiten führen könnte; allein Herr v. Lipmann fixirte ihn scharf und rüstete seine Haut gegen jeden Angriff. »Die Frau?« sagte er; »der Frau will ich schenken ein golden Armband, kostet mehr, als was ich heute noch von ihrem Mann heraushaben muß; allein es nützt nichts! Sie verkaufen Alles; sie haben verkauft meine goldene Dose, die ich ihnen nicht einmal geschenkt, sondern bloß bei ihnen vergessen hatte. Er hat verkauft das goldne Taufbecken, was ich geschenkt habe wegen der Aufklärung, da er meine jüdische Gegenwart bei der Taufe von seinem zweitältesten Kinde nicht gescheut und dem Junker Gustav Adolph Nathan sogar einen von von meinen Namen gegeben hat. Er hat verkauft den ehrlichen Namen, den ich ihm verschafft habe durch die Lotterie mit meinem eigenen Nachtheil an der Börse, wo man haben will Metalliques und nicht schlechte Partialobligationen von bankerutten Ritterschaftsgütern. Er hat eine Geschichte gemacht von einer Stecknadel, die ihm ans Leben gehen könnte, wenn ich wollte Untersuchung anstellen und ihn fragen, wo er den unschuldigen, bethörten Waisenknaben gelassen hat, dem er sein übermenschliches Glück, seine Güter wieder zu gewinnen, verdankt. Herr von Blasedow, lassen Sie mich ausreden, der Graf ist ein schlechter Mensch. Ich will ihn nicht an den Pranger, aber an den Bettelstab bringen.«
Herr v. Lipmann war so in Eifer gerathen, daß er in ein krampfhaftes, von einem langen Ja! Ja! begleitetes Zucken und Nicken des Kopfes verfiel. Blasedow wurde über die Leidenschaft des Mannes unruhig und bedachte sich, daß er Eile hätte. Als er sich empfahl, bat ihn der Hofagent dringend, seine Nähe zu verschweigen. Wie kann ich auch davon sprechen, dachte Blasedow, da ich gar nicht wüßte, wie ich bei der Vornehmheit dieser Menschen die Einleitung dazu treffen sollte! Die idealistische Richtung des Hofagenten beschäftigte ihn mehr, als die Gefahr des Grafen, und dennoch sagte er zu sich: Sein Enthusiasmus für das Edle ist nicht der rechte. Die Juden haben ihre eignen Gedanken dabei, wenn sie sich mit dem Ruhm und den schönen Künsten befassen. Sie sind stolzer auf die Person, die sich den Wissenschaften hingibt, als auf den Gegenstand. Sie wollen gerechtfertigt seyn, sie wollen die Christen auch an geistigen Gütern überflügeln, wie sie an materiellen sie schon überflügelt haben. Blasedow wußte dabei nicht einmal, daß Herr von Lipmann eine Handelskrisis voraussah und einen Sturz des Anleihewesens fürchtete, er hatte sogar vergessen, wie oft ihn dieser in der Zeit, als die von der Neige'schen Güter auf Rechnung des Hofagenten administrirt wurden, gefragt habe: Was sagen Sie, Herr Pfarrer? Was hat Göthe verdient? Was kann wohl der Faust gekostet haben? Blasedow wußte damals nur, daß Milton das verlorne Paradies für sechzig Gulden verkauft hatte. Als Herr v. Lipmann dies hörte, kniff er die Augen zusammen und sagte, künstlich schielend: Sechzig Gulden? Machen Sie keinen Spaß! In der That, Herr Hofagent, hatte Blasedow geantwortet, fünf Pfund Sterling. Der Banquier flüsterte ihm spöttisch zu: Hören Sie, dann war das Paradies verloren genug! Um so mehr verwunderte sich Blasedow, daß Herr v. Lipmann jetzt doch mehr auf die Zinsen der Unsterblichkeit geben mußte, wenn er seinem Sohne gestattete, Verse zu machen. Herr Itzig mußte ein gewaltiger Redner gewesen seyn, wenn er die früher so ernsten Scrupel des Geschäftsmannes überwinden konnte: denn auf Thatsachen hatte sich doch auch dieser nicht stützen können, da im Gegentheil dichtenden und componirenden Israeliten bis jetzt ihr Ruhm mehr gekostet, als eingetragen hat. Exempla odiosa.
Blasedow kam auf der Neige nicht ohne Besorgniß an, die erträumte Annehmlichkeit dieses Abends möchte sich in eine für den Grafen gefährliche Katastrophe auflösen. Zunächst hatte er aber nur seine Freude daran, zu sehen, wie Tobianus ihn im Vorzimmer, wo einstweilen Herr Ritter die Gäste empfing, anlächelte. Wenn sich zwei Bekannte unwissentlich, aber nach vorhergegangener Einladung bei einem Dritten finden, so pflegt ihre erste Begrüßung in einer Miene zu bestehen, die man nur erwähnen, aber nicht schildern kann. Der feierliche Aufzug ist es wohl zunächst, die erwartungsvolle Voreinrichtung, der schwarze Frack, den aber nur Tobianus, nicht einmal Blasedow trug, welche in dem Antlitz zweier sich so Begegnender ein Lächeln hervorruft. Tobianus hatte eine gebrannte Halskrause vor der Brust, auf welcher ihm jedoch Blasedow die gelben Spuren der Tropfstein-Gebilde seiner Nase nachwies. Er hatte ein ostindisches gelbseidenes Taschentuch außerdem lang genug heraushängen, um von Blasedow über eine Mode verspottet zu werden, die längst veraltet war. Tobianus hatte indessen in Herrn Ritter, dem er eine unbedingte Huldigung schenkte, bereits einen Verbündeten erhalten, was denn Blasedow, der wohl wußte, wie selten junge Männer in der Familiarität mit ältern die Grenzen zu halten verstehen, vermochte, von seinen Scherzen abzulassen. Nachdem sich noch mehrere andere Personen der Umgegend, alle in festlichem Aufzuge, versammelt hatten, erschien endlich der Graf, eine Figur, auf deren Aeußeres wir nach so vielen Präliminarnachrichten über ihr Inneres gewiß einige Neugier zu befriedigen haben. Der Graf war aber sonst ein ganz einnehmender Mann; es paßte sein aufgeschossener Wuchs vollkommen zur Pappelgröße Sidoniens. Sein Haar ging schon etwas in graue Schattirungen über, worin er selbst wohlweislich nicht die Folgen der Sorge zugestehen wollte und sich also schon bequemen mußte, sie dem Alter zuzuschreiben. Er war ein starker, obschon sehr schmächtiger Vierziger. Seine Mienen waren freundlich und sogar grüblerisch, was Blasedow sich aus dem Sprüchworte: »Noth lehrt beten!« erklärte. Man schrieb diese nachdenkliche und träumerische Art des Grafen seinen ernsten Landraths-Pflichten zu, während dies freilich nur der ostensible Grund war. Das Capitel der »Mittel und Wege,« wie man im englischen Parlamente das Budget nennt, hatte diesen in seiner Jugend gewiß sehr anziehenden Cavalier früh aufgerieben. Er hielt sich jedoch durch feine und gewandte Manieren aufrecht und schleuderte sich durch eine künstliche Lebhaftigkeit in eine Uebertäubung seiner mißlichen Gefühle und grübelnden Reflexionen hinein. Ueberhaupt ließ sein Aeußeres nur für den einen Schluß übrig, der sein Inneres bereits kannte. So gibt es Personen genug, an denen die glatte Ebene Kobi auf ihren Mienen nicht verräth, wie viel tausend Fuß hoch sie über der Fläche des Meeres, über uns Andere harmlose und gewiegtere Menschen und den stillen sorglosen Meeresspiegel derer, welche ihren Platz zur Genüge ausfüllen, hinaus liegen. Wie oft sah nicht Blasedow schon Personen, die hinter dem glatten Theatervorhange ihrer Mienen ganze Schicksals-Tragödien verborgen hatten und nicht selten mehr als bloß gemalte Coulissen-Verzweiflung! Wie oft hatte er nicht gefunden, daß gerade nicht allein bei den Schnellfüßigsten später der hinkende Bote des Gerichtes kam, sondern auch bei den ebensten und ausgeglättetsten Begegnungen man nicht ahnen mochte, wie sie auf einem Stücke Kirchhof vor sich gehen, nur daß die Hügel und die Kreuze fehlen, und die Trauerweiden längst vertrocknet sind. Ach, Mensch, betete er einmal auf der Kanzel, ohne daß ihn jedoch Einer verstanden hätte, tritt mit Vorsicht auf und schone selbst das, was du nicht siehest: denn es kommen immer auf einen Fröhlichen sieben Trauernde, auf jeden frohen Tag kommt mehr als eine durchweinte Nacht! Auf allen deinen Wegen schlummert etwas Verborgenes, eine Vergangenheit, die unwiderbringlich ist, eine Zukunft, die mit heißer Sehnsucht erwartet wird! Denke, daß in jeder Hütte, an der du vorübergehst, ein Pilger deiner harren kann, daß dein Bruder, den du in so vielen Jahren nicht sahest, an dir vorüberzieht auf der Landstraße, daß jede Ecke, um die du dich wendest, dir eine Ueberraschung gewähren kann!
Tobianus wurde aber weit mehr vom Grafen ausgezeichnet, als Blasedow. Der Graf setzte gleichsam auf alle Knöpfe des Frackes, den der Erstere trug, die Krone seines Wappens, so daß, indem sich dieser am meisten geehrt glaubte, er einem freien Manne wie ein Laquai vorkam. Blasedow ging gemeinschaftlich mit Herrn Ritter in das Gesellschaftszimmer. Sie hatten sich Beide umschlungen, obschon mehr wie zwei Disputanten, die Arm in Arm und in deutscher Sprache auf den Katheder schreiten, um oben in lateinischer Sprache kein gutes Haar an sich zu lassen. Sidonie waltete in weißem Battist hinter dem kleinen Vesta-Altare, auf welchem das Wasser, wie Herr Ritter sagte, das Vehikel des Thees, sott. Sie hielt es mit ganz entgegengesetzten Neigungen, als ihr Mann. Sie zog Blasedow in ihren engeren Ausschuß hinein und eröffnete ihm freiwillig eine Rennbahn der Unterhaltung, wo sie in liebenswürdiger Herablassung mit ihrem Schützling um die Wette lief. Jeder steckte erst, wie in einem Conventikel, sein kleines mitgebrachtes Wachslicht auf, ehe sich eine allgemeine Lichtglorie über die ganze Gesellschaft legte, und der Graf Gelegenheit hatte, sie ganz allein zu beherrschen. Er entwickelte seine Bildung, die Blasedow in ihren Grundzügen längst kannte. Er brauchte Tobianus dabei als Puppenkopf seiner Reden, die er darum nicht weniger an Alle richtete. Seine Philosophie war eine weltmännische Mischung der Stoa und der epikurischen Gärten. Er, der so viel in seinem Leben hatte darben müssen, entblödete sich nicht, die Theorie des Ueberflusses gewissermaßen die seinige zu nennen. Seine Moral wäre stoisch, und seine Lebensart epikurisch, bemerkte er. »Ich ziehe den Genuß dem Stolze aller Entbehrungen vor,« sagte er, indem er magere Brödchen zu seinem Thee verzehrte.
Tobianus kam schon gleichsam athemlos mit einem Gemeinplatze angelaufen, um ihn für das hohe Pferd, auf welches sich der Graf schwingen wollte, als Steigbügel hinzusetzen. Blasedow ahnte dies und riß ihm die Erniedrigung, die zuletzt die ganze Gesellschaft traf, aus der Hand und sagte: »Wenn Ihre Grundsätze, Herr Graf, stoisch seyn wollen, was die Pflichten, und epikurisch, was Ihre Rechte und Privilegien anlangt, so muß ich mich darüber wundern, weil ja die ganze Lehre der Stoiker auf jene Gleichgültigkeit gebaut ist, die aus dem Mangel und der Entbehrung hervorgeht.« Der Graf sagte nichts darauf, weil er nicht die Miene annehmen wollte, auf einen Mann zu hören, der sich geweigert hatte, in seiner Güterlotterie mitzuspielen. Im Gegentheil wandte er sich zu Tobianus, der zehn Lose genommen hatte, und sprach mit ihm im Stillen weiter, dem Candidaten Ritter die Abfertigung der Opposition überlassend. Dieser erhob auch, zum großen Entzücken Sidoniens, seine bewährte Lanze und sagte: »Ich weiß nicht, wie man nur über jene einseitigen Systeme der alten Philosophie aus den Zeiten des Verfalls noch stolpern kann, über Systeme, die auf eine bloße »Beliebigkeit« der Individuen berechnet sind und keinen innerlichen Urgrund, keine metaphysische Wahrheit ansprechen dürfen!« Blasedow wandte sich zur Gräfin und sagte: »Nun sehen Sie, wie jetzt Alles wieder auf seinem eigenen Loche pfeift! Die Schuld dieser streitsüchtigen Unterhaltung trifft aber nur den Grafen und den ganz in Widerspruchseifer gerathenden Tobianus. Sehen Sie nur, wie ihm vom Thee und Grafen der Kopf ganz roth wird!« Allein Tobianus wurde nur über die Beistimmung so erhitzt. Er gerieth ganz in Eifer vor nichts als Billigung und Lob. Er winkte ein Mal über das andere den zu laut Redenden Ruhe zu, so daß man wirklich hören konnte, wie der Graf folgendes Gemälde seiner moralischen Pflichtenlehre mit weltmännischer Gewandtheit und Wahl der Ausdrücke entwerfen konnte: »Ich gehe davon aus,« sagte er, »daß Reichthum dann ein Glück ist, wenn man Maximen befolgt, als hätte man ihn nicht. Ich bin Herr meiner Wünsche, ich bin sogar der Diener derselben, ich kann sie erfüllen. Allein ich nehme an, die äußern Dinge gehörten mir nicht, ich gebe sie verloren und ziehe daraus zunächst Ruhe und Seelenstärke. Kann man glücklicher seyn, als wenn man, wie ich, vermögend ist und doch davon den Schein vermeidet? Ich strebe nach der Ruhe der Weisen. Was mich aufbringt, das verschieb' ich auf eine andere Zeit. Das, wornach ich trachte, muß mein seyn: so kann ich es auch nur mit Zufriedenheit vermissen. Bei all' meinem Vorhaben rechn' ich auf Zufall und Hinderniß. Was uns unglücklich macht, ist nur der Begriff, den wir von den Dingen haben. Auch gehen die Dinge alle ihren Gang, ohne daß man sie ändern kann. Die Meinung des Volks verachte ich. Was ist der gute oder böse Leumund? Ich kenne mich selbst nicht einmal, wie werden es Andere! Ich strebe nur darnach, mich zu ergründen. Was soll ich gegen die thun, welche keinen Trieb dazu haben können? Ich bin auch überall Sieger, wenn ich mich in keine Streitigkeiten einlasse. Ich gehe ungern zu Andern, weil ich damit aus meinem Vortheil herauskomme. Wer mich wünscht, suche mich! Was soll ich auf fremde Klagen hören? Mögen sie meinen Trost oder mein Mitleiden in Anspruch nehmen, ich höre nicht darauf, weil Klagen überhaupt unweise sind. Freunde dürfen von mir verlangen, was ich von ihnen auch fordern würde; doch bedarf ich ihrer? Ich bedarf ihrer nicht. Ich wähle meinen Umgang: denn Umgang steckt an. Nochmals, Verleumdungen, die mich treffen, glaub' ich dadurch am besten zu widerlegen, daß ich sie selbst noch vergrößere u. s. w.«
In dieser Art fuhr der Graf fort und wühlte damit Blasedow's innerste Eingeweide um. Die goldne Krone der epiktetischen Moral schien sich ihm in einen Armensünderstrick zu verwandeln. Er sah an diesen Grundsätzen, daß sie die Frucht der äußersten Entbehrung gewesen seyn mußten, und staunte über die Verwegenheit, aus dem System der gefühlvollsten Menschenwürde ein System der unempfindlichsten Dickfälligkeit zu machen. Er dachte: Der Lehrer dieser Grundsätze war ein unglücklicher Sklav, dem ein gemeiner Liebling Nero's das Schienbein zerschlug. Wenn er die Menschen verachtete, seinen Ruf und selbst die Götter, wer kann ihn verdammen? Allein – »Herr Graf,« fuhr er auf, »Sie scherzen mit einer Philosophie, die unmöglich die ihrige seyn kann, oder mit Tobianus, der Ihr nächster und vielleicht gläubigster Zuhörer ist. Es gibt zwei Wege, zufrieden zu seyn: entweder hat man Alles und entsagt, oder man hat Nichts und gibt sich zufrieden, weil man nichts vermißt.« Blasedow konnte unmöglich hinzufügen: »Sie werden in wenig Augenblicken von Herrn v. Lipmann aus dem Sattel Ihrer Maximen gehoben werden.«
Der Graf haßte unsern Helden; allein jetzt mußt' er ihn wohl einer Antwort würdigen. »Wenn ich reicher bin, als daß ich Stoiker zu seyn brauchte,« sagte er, »warum sollt' ich nicht die Grundlage meiner entsagenden Maximen von Epikur hernehmen?«
»Epikur hatte täglich einen Thaler zu verzehren,« fiel Blasedow ein und setzte durch die Anwendung dieser bekannten Thatsache auf die nicht minder bekannte, daß der Graf nur auf eben so viel täglich angewiesen war, alle Anwesende in Erstaunen. Dieser wandte sich auch ab von ihm und fuhr in seinen Disputationen nur gegen die ihm zunächst Sitzenden fort. Blasedow aber sagte zur Gräfin: »Wohin sollt' es wohl mit der Menschheit kommen, wenn die Glücklichen und Begüterten sich einer solchen Empfindungslosigkeit hingäben, wie sie von Ihrem Gemahle als sein höchstes moralisches Gut dargestellt wird? Sollen nicht die Thränen der Unglücklichen und Bedürftigen, wenn sie das Bollwerk so schlechter Principien nicht fortschwemmen, nach und nach den Stein eines so harten Herzens aushöhlen? Wenn der Arme seinen Stolz darin findet, zu hungern, ohne gedemüthigt zu werden, soll ihn der Reiche in diesem Stolze bestärken und nicht vielmehr seinen Menschenhaß durch Gaben der Liebe und des Mitleids zu untergraben suchen?«
»Sie verkennen sein Herz,« klagte Sidonie empfindlich, und Herr Ritter versuchte, im Bewußtseyn seiner klaren Gedanken, die des Grafen als unklar darzustellen. »Sie müssen,« sprach er leise zu Blasedow, »den Dilettanten an Sr. Excellenz übersehen. Ich bin fest überzeugt, seine Philosophie ist keine andere, als die, welcher Göthe alle seine Schriften und sein ganzes Leben gewidmet hat. Der Graf scheint in seinem Leben viel von dem Zudrang der Massen belästigt gewesen zu seyn und sich gegen das Lästigste, was uns im Umgange mit Andern nur begegnen kann, gegen Zumuthungen haben schützen zu wollen. Möchten wir doch alle Menschen darauf hinführen können, nichts vom Andern zu begehren, als was dieser ihm freiwillig bietet! Das Lauern, Lungern und Erwarten von Andern ist eine der traurigsten Erfahrungen, die man im Leben machen kann. Wie gern, will der Graf sagen, möcht' ich Protector seyn; allein, gibt man der Annäherung eines nicht verwandten und auf ungleicher Stufe mit uns stehenden Menschen erst einen Finger hin, so wird er uns bald die ganze Hand ausreißen. Die Großen sind gezwungen, sich abzuschließen, weil sie sonst bald Jedermann in Anspruch nehmen würde. Der Graf möchte Viele, denen er begegnet, und die der Hülfe wohl bedürftig sind, protegiren; allein warum ihn zwingen und anreden und in Verlegenheit setzen, da nicht immer Ort und Stunde glücklich gewählt sind! Sehen Sie, dies scheint mir die eigentliche Grundlage dessen zu seyn, was der Graf mit dem originellen Instinkte eines philosophischen Laien über die philosophische Moral sagen will! Es macht seinem Herzen alle Ehre, daß er das, was zunächst nur als vornehme Entfernung und Abweisung auftreten sollte, aus einem höhern Principe herleitet und auf die courante Wahrheit begründet: Was du nicht willst, daß dir die Leute thun, das thue ihnen auch nicht!«
Die Gräfin begleitete diese von ihr wohlverstandenen Worte des Erziehers ihrer Kinder mit einem Blicke, der über die ganze Oberfläche der Gesellschaft wie der Strahl der aufgehenden Sonne hingleitete. Blasedow wurde in der That davon geblendet und nahm, was ihm Sidonie an trockenem Zwieback darbot, mit einer gewissen unterwürfigen Scheu hin. Im Innern seines Herzens aber fingen die weißen Birken seiner Natürlichkeit und seiner von der Freiheit des Waldes gewiegten Seele zu weinen an, so daß er die Zweige hängen ließ und in unhörbaren Lauten also zu sich flüsterte: »Ach, nicht die Vorurtheile, die Stände und der Bettelstolz betrüben mich, sondern nur die Ideen, welchen sich unsre Jungen hingeben, und die gleißenden Worte, mit denen sie sie aufzuputzen wissen. Auf der Stirne der Unmündigen schon furchen sich Reflexionen ein. Sie reden weiser als die Weisen, sie machen uns den Vorwurf der mangelnden Welterfahrung; sie, die wir kaum noch auf unserm Schoße hüpfen und sich schaukeln ließen, verweisen uns bereits unser leichtsinniges, unbewachtes und gläubiges Herz! An die Stelle des Enthusiasmus ist der Zweifel getreten. Die Kränze der Freude welkten schnell über Häuptern, die ach! eben so schnell welken werden. Für die Schönheit der Irrthümer tauschen sie die regelrechte Gestalt der Wahrheit ein. Und wenn sie sie fänden! Wenn ihre Formeln Leben brächten in ihre vertrocknenden Herzen! Der unreife Kern wird aber nicht bleiben, und die Blume ist schon längst abgeblüht. Klag' ich die Eltern oder die Erzieher, klag' ich die Luft und die Temperatur an? Wo auch der Wurm Zugang gefunden haben mag, er hat das Mark aus den Sehnen der Jugend gefressen. Sie sind älter als wir, als wir, die wir sahen, wie sie geboren wurden!«
Der Graf hatte die Melancholie, welche sich eines Widerspenstigen unter seinen Gästen bemächtigte, benutzt, um ohne Widersprüche seine Ideen zu entwickeln. Es war eine seiner Eigenheiten, daß er fortwährend Raisonnements pflegte und sich in Theorien verlor. Er war durch die Zerrüttung seines Besitzstandes gezwungener Weise ein Projectenmacher geworden und hatte immer etwas Neues auf das Tapet zu bringen. Wer hätte nicht zu jener Zeit, als diese Vorgänge alle sich entwickelten, in öffentlichen Blättern ihn stets im Vordergrund gefunden, wenn es galt, eine neue mechanische, technologische oder Agriculturerfindung anzuempfehlen! Er hatte viel Papier verschrieben, um die Menschheit und sich auf einen grüneren Zweig zu bringen. Er hatte sich allen Zeitungsredactionen furchtbar gemacht durch seine unaufhörlichen unverlangten Einsendungen. Durch Niemanden sind so viele Actienunternehmungen in neuerer Zeit angeregt worden, als durch den Grafen von der Neige. Ja sogar zwei eigenhändige Erfindungen seines industriösen Kopfes waren ihm gelungen und hatten ihm nicht nur ein Patent eingebracht, sondern sogar einen ansehnlichen Gewinn, den Niemand verschmäht, am wenigsten er. Er hatte eine neue Art Mausfalle und eine verbesserte Caffeemaschine zusammengesetzt. Die erstere zeichnete sich durch die Schnelligkeit aus, mit welcher die Maus, hat sie nur erst den Speck angerührt, verloren ist. Die zweite enthielt eine recht artige Vorrichtung, zum Caffee auch sogleich die Milch zu sieden, durch Umstürzen der Maschine den ersteren zu filtriren, ja, sogar den ganzen Mechanismus so einfach auseinanderzulegen, daß er für Reisende, die sich in Gasthöfen, wie der Graf zu thun pflegte, ihren Caffee selbst kochen, von einer außerordentlichen Bequemlichkeit war. Einige andre Entdeckungen, die der Graf machte, wollten ihm weniger glücken, und er begnügte sich nur, in den öffentlichen Blättern anzukündigen, daß er auf dem Wege wäre, bald wieder etwas Neues zu haben. Sparöfen, Schornsteine mit Klappen, Kamine, die nicht rauchen: in diesem Fach verrieth er eine seltene Behendigkeit und war auch darin für etwas angesehen. Wie er aber unbeständigen Charakters war, so wechselten auch seine Neigungen. Sidonie sagte: »Er ergreift Alles mit einem wunderbaren Eifer und läßt es wieder fallen, wenn er auf ein kleines Hinderniß stößt.« Sie wollte damit sagen, daß er die Ausdauer des Plebejers doch nicht besäße, trotz dem, daß er dem Plebejer in's Handwerk fiel. Seit einiger Zeit beschäftigten den Grafen die neuen Theorien über Volkverarmung und Bürgerrettungs-Institute. Er handelte so eben (natürlich nur im Interesse der Menschheit) das Kapitel über die Armencolonien ab und bewies zur dankbaren Anerkennung jedes Freundes der Volkswohlfahrt, daß nur diese Colonien das Radicalmittel zur Ausrottung des Bettels abgäben. »Ich würde mit Freuden,« sagte er, »dazu zwanzigtausend Thaler vorschießen, wenn ich die Erlaubniß von der Regierung erhielte, in unserm Fürstenthum eine Armencolonie zu gründen. Meine mehrfachen Vorschläge sind aber noch immer ohne Erfolg geblieben, weil man nicht haben zu wollen scheint, daß es heißen soll, wir hätten unsrer vielen Armen wegen eine Colonie für sie im Lande anlegen müssen. Lieber duldet man den Bettel, als daß man an seine Stelle eine neue Vermehrung unsres Nationalreichthums stellte.« Der Graf setzte das Verfahren, welches er bei seiner Armencolonie befolgt wünschte, umständlicher auseinander, als es seiner Gattin lieb war. Er sagte: »Jede angesiedelte Bettlerfamilie bekommt ihren Antheil an Land; allein jede muß auch selbst für den zum Anbau desselben erforderlichen Dünger sorgen. Ich befolge darin ganz die Vorschriften, welche van der Bosch von den Chinesen entnommen hat. Ich gebe jeder Familie zwei Kühe oder, was eben das sagen will, eine Kuh und zehn Schafe, bedinge jedoch, daß die Ansiedler selbst noch für ferneren Dünger zu sorgen haben, indem sie Haidekraut und Gras zu Streu benutzen und mit den thierischen Abgängen vermischen. Aussaat, Handwerkszeug, erste Lebensbedürfnisse, Alles schieß' ich aus meinen eigenen Mitteln oder im Wege einer Actienvereinigung vor, so daß die Familien bei allmählicher Rückzahlung der erhaltenen Vorschüsse schuldenfrei werden. Diese Armencolonien sind das einzige Mittel, den einreißenden Pauperismus zu heben und eine ungefähre Gleichheit im Volke herzustellen. Denn eine mathematische Gleichheit werden wir doch nie erreichen, um so weniger, da sie auch gegen die Bestimmungen über den Unterschied der Stände, welche die Natur einmal festgehalten wissen wollte, verstößt. Diesem großen Werke, die Völker auf friedlichem und die aristokratisch-monarchische Ordnung nicht gefährdendem Wege einem besseren Ziele zuzuführen, die Völker durch materielle Erleichterungen ihrer drückenden Umstände zu beglücken, hab' ich bereits einen großen Theil meines Vermögens gewidmet und will auch das Ganze daran setzen, weil man nirgends segensreichere und sicherere Zinsen ziehen kann, als von dem Schweiße eines dankbaren und mit seinem Lose zufriedenen Volkes.«
Tobianus und einige Unterbeamte der Umgegend mußten den Ort und die Person bedenken, um sich nicht einer Freude zu überlassen, die ihnen bereits das Herz abdrückte. Der Erstere leidet, dachte Blasedow, ohnedies am Ueberfluß fauler Capitalien, an einigen tausend blanken Heckthalern, die er noch nicht gewußt hat in eine gut procentirende Ehe zu verheirathen. Wenn der Graf an seiner verbesserten Mausfalle noch etwas Neues und kürzeren Proceß Machendes auf dem Wege einer Actienverbindung hätte bringen wollen, so wartete Tobianus nur darauf, um sich sogleich zu unterzeichnen. Die Gemüther der Zuhörer hatten übrigens bei den national-ökonomischen Vorträgen des Grafen von dem edeln Metallhintergrunde derselben eine so magnetische Einwirkung bekommen, daß sie zwar nicht ein geheimnißvolles Streichen durch das Zimmer rauschen hörten, wohl aber ein klingendes Einstreichen, einen in baare Realitäten sich verdichtenden Niederschlag ihrer Einbildungskraft. Es tröpfelte von der Decke und den Wänden herab mit langen Zehnthalerstalaktiten, und in eine phantastische Baumannshöhle aus krystallisirten und metallisirten tropfbaren Ideenflüssigkeiten schien sich das Zimmer um so mehr verwandelt zu haben, als der Graf, ein rüstiger Erz- und Schürmeister, die Fackel seiner Projectirkunst, d. h. der Kunst, Pläne zu entwerfen und Risse zu machen, recht in die Höhe hielt, um das phantasmagorische Wunder, Wind und Wasser in Geld zu verwandeln, in desto schönerer und beinahe durchsichtiger Beleuchtung zu zeigen. Für Blasedow wurde das Zimmer eine Hundsgrotte, in welcher ihm der Athem verging. Allein die Uebrigen sahen nichts als blendende Stalaktitenwände, so schön und glänzend, als sie sich in der Höhle von Montferrat finden. Verwandelt sich der Karlsbader Strudel nicht auch in Steine, die weltberühmt sind? Finden sich in den alten römischen Wasserleitungen nicht die berühmten Canalsteine? Allein die Zapfen, welche der Graf von seinem der Industrie und dem Ackerbau gewidmeten Tempel herabhängen ließ, waren nicht bloß ordinäre Kalksinter, sondern vor den Augen der Gesellschaft überzogen sie sich bald mit metallischen Oxyden und gaben den Anblick von alten Stollen, die sich mit der Zeit, vor Wiedergeburt und unermüdlicher Schöpfungskraft der Natur, grün und gelb färben und neue Metalle ansetzen. Doch dauerte diese Verwandlung nur einige Minuten; der Schacht stürzte zusammen, da der wahre Metallkönig erschien, nämlich Herr von Lipmann.
Blasedow hatte diesen Moment zuerst mit banger Besorgniß erwartet, später sehnte er sich nach ihm, als dem Augenblicke, wo der Vorhang des Industrietempels zerreißen, die Gräber der alten Schulden und Lotterieumtriebe sich öffnen, und seine Erlösung vollendet seyn würde. Das Ungewitter zog mit dem bescheidenen Rollen eines Einspänners herauf, der im Hofe der Neige einfuhr, aber von der Gesellschaft überhört wurde. Indem stürzt ein Dienstbote herein und flüstert dem Grafen etwas in's Ohr, daß dieser erbleichte, aufsprang und, ohne ein Wort zu verlieren, in's Nebenzimmer sich entfernte. Es war die höchste Zeit, daß er den Moment benutzte: denn so eben trat auch Herr v. Lipmann ein und richtete, wie Macbeth, alle seine Aufmerksamkeit auf den leer stehenden Stuhl, nur mit dem Unterschiede, daß Macbeth eine Person sah, die Herr v. Lipmann zu vermissen schien. Die Herrin des Hauses hatte die Fassungskraft verloren, weil sie sich einen solchen Ueberfall an dem hellen, lichten Tage dieser Theevisite nicht geträumt hätte. Sie erhob sich matt, mit mehr Verleugnung ihres Stolzes, als man ihrem Stolze hätte zutrauen sollen, und ersuchte Herrn von Lipmann den Sessel einzunehmen, welchen sie in angenehmer Vorahnung seines Besuches für ihn allein hätte leer stehen lassen. Herr von Lipmann, von den vielen Menschen etwas geängstigt, that es mechanisch, mochte aber kaum die gebundene Wärme des enthusiastischen Grafen in dem Polster verspürt haben, als er schon merkte, daß hier nicht nur die Anwesenheit des Schuldners geleugnet, sondern sogar verborgen gehalten werden sollte. Herr v. Lipmann gab indessen viel auf Bekanntschaften. Er sah gern Fremde, um sie seinem Herzen näher zu bringen oder wenigstens einzuladen, ihn seiner talentvollen Kinder und seiner Tulpenzwiebeln wegen zu besuchen. Er war in all' seinen Angriffsoperationen gelähmt, solange ihm die anwesenden Personen nicht Name für Name vorgestellt waren. Israeliten sind durch die Unbill alter Zeiten mißtrauisch gegen alle Welt und halten es doch gern mit ihr, dachte Blasedow, wie er das ängstliche und freundliche Forschen des Hofagenten bemerkte; sie halten sich immer noch für Pilger im Westen und glauben, wenn's ihnen noch so wenig nöthig, nicht Freunde genug haben zu können. Die Gräfin war eben so klug, wie Blasedow. Sie vermied es wohl, dem Hofagenten die Anwesenden zu nennen; oder fürchtete sie, ihren Umgang in ein schlechtes Licht zu stellen, wenn sie hier einen Pächter, dort einen Steuereinnehmer und zwei Pfarrer, nur wenigstens als studirte Leute, dem Herrn v. Lipmann zugestanden hätte? Dadurch erhielt indessen ihr Mann einen großen Vorsprung, wenn er in der That nicht wieder erscheinen durfte. Herr v. Lipmann freute sich wenigstens, durch Blasedow mit den Uebrigen anknüpfen zu können, wenn dieser auch nicht aus Mitleid mit der Gräfin sich entschließen konnte, als Helena den Schiffskatalog der versammelten Helden aufzuzählen. »Um Vergebung,« fragte Hr. v. Lipmann seinen Nachbar Tobianus, »worin machen Sie Geschäfte?« Auf diese Weise orientirte er sich allmählich in der Gesellschaft, und erst dann, als er sie vollständig übersehen konnte und überzeugt war, in Finanzsachen könne ihm hier Niemand die Stange halten, rückte er der Gräfin mit der schroffen Frage nach dem Grafen zu Leibe. Sie entschuldigte seine Abwesenheit. Er hätte sich schon am frühen Morgen in Geschäftssachen entfernt. Als die Scene diese Wendung nahm, waren die Anwesenden trotz ihres Aufenthaltes auf dem Lande zartfühlend genug, ein leicht errathenes Geheimniß zu schonen und aufzubrechen. Die untergehende Sonne am Himmel mußte als Vorwand dienen, die untergehende Sonne des Grafen von der Neige nicht bis in den Anbruch einer unheimlichen Finsterniß zu verfolgen. Die Gräfin zuckte krampfhaft mit ihren Wangen, als man sie nur unter dem Schutze des Herrn Ritter, dem Hofagenten gegenüber, verließ. Sie hatte längst schon nach ihrem zweiten Sohne, dem Pathen des Millionärs, Gustav Adolph Nathan, gerufen, um ihn als Blitzableiter des vom Berge Sinai herabrollenden Ungewitters zu benützen. Leider flammte auf diesem Sinai nicht bloß das mosaische Gesetz, sondern auch der allgemeine deutsche Civilproceß. Blasedow hatte die Frau gern und war tief gerührt, wie er so leicht und behaglich aus dem Hause trat und drinnen eine so reife Bombe zurückließ, von der es ihm auch bald so vorkam, als zerplatze sie schon hundert Schritte hinter ihm. Tobianus rückte wie eine Katechismushälfte (die nämlich nur aus Fragen besteht) an Blasedow heran und schoß auf ihn mit einem wahren Was ist das?-Pelotonfeuer ein; allein dieser würdigte ihn keiner Antwort, höchstens daß er ihm erwiderte, er wolle lieber allein nach Hause gehen. Tobianus begriff nicht, wie bei vornehmen Leuten gemeine gewesen seyn konnten, ohne hernach die Köpfe zusammenzustecken und das Erlebte mit etwas plebejischer Medisance wiederzukäuen. Allein Blasedow sah sich genöthigt, sein gewöhnliches Kunstmittel zu ergreifen, um Tobianus abzuschütteln. Er brauchte nämlich immer ein Buch, um ihn zu bannen: ein Buch, was er selbst schreiben wolle. »Dann freilich, lieber College,« pflegte Tobianus regelmäßig zu sagen, »muß ich Sie allein lassen, weil ich selbst wünsche, daß Sie etwas herausgeben und dazu alle nur mögliche Muße als Brütezeit ihrer Gedankeneier benutzen.« So trennten sie sich auch heute. Blasedow aber lief spornstreichs nach Hause und sprach nur zuweilen, wenn er Milzstechen bekam und etwas einhalten mußte, zu sich selbst: »Nur zu gut seh' ich jetzt, wie jeder Mensch um mich herum sein Stück Biographie am Fuß hat und hinken muß, um damit fortzukommen. Muß ich nicht eilen, endlich den Riß des Gebäudes, mit dem ich mich trage, in Ausführung zu bringen? Die Zeit ist immer im Abrollen begriffen. Jedes Blatt, was vom Baume fällt, ist eine Pendelschwingung, die den Weiser der Ewigkeit in Bewegung setzt. Führ' ich nicht ein Leben wie im Orient, wo man niemals eine Uhr schlagen hört?« Und gleichsam als käm' er mit dem Dampfschiffe aus Alexandria nach Marseille, so hatte er die ängstliche Empfindung der zurückkehrenden Levante-Reisenden, die plötzlich nach dem harmlosen Dolce far niente des Ostens wieder alle Uhren picken hören, in jedem Zimmer, auf Kirchen, an den Thoren, öffentlichen Gebäuden, in der Tasche jedes Menschen, dicht am Herzen, die ewige Erinnerung an die Flucht der Zeit und an den Werth jeder verlorenen Minute. So konnt' er daheim auch kaum mit Ruhe schlafen, weil jeder Moment ihm unersetzlich schien. Am nächsten Morgen wollte er seine pädagogische Theorie mit Gewalt angreifen und seinen Kindern statt Marmorkügelchen den ganzen Erdball in die Hände geben, um damit zu spielen.