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Von Dr. K. S. Baltar, Odessa.
Aus dem Russischen übersetzt und bearbeitet von Curt von Dehn, Riga.
Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß die Arbeiten und Erfahrungen der Rettungsgesellschaften mitunter für den Kriminalisten von größtem Interesse sein können. Ich entnehme folgenden Fall, der entschieden kriminalistisches Interesse in hohem Grade verdient, dem 7. Jahresbericht der Odessaer »Station für schnelle ärztliche Hilfe«:
Am 3. Mai 1910, um 5 Uhr nachmittags, wurde zur »Station für schnelle ärztliche Hilfe« in Odessa, von seiner Mutter ein Kind im Alter von 1 Jahr und 4 Monaten, L. S., zur Erweisung ärztlicher Hilfe gebracht. Nach den Worten der Mutter hatte diese es aus einer Schlinge befreit, die zweimal um den Hals desselben geschlungen war. Bei der Besichtigung fand ich zwischen dem oberen Teil der Gurgel und dem Zungenbein eine tiefe dünne Strangulationsfurche, Das Kind war bewußtlos, die Atmung unregelmäßig, der Puls schwach; die Pupillen waren stark erweitert, die Farbe des Gesichtes blaßbläulich und die Lippen blau. Sofort wurden Wiederbelebungsversuche angestellt: künstliche Atmung nach Silvester, Einatmung von ammonium liquidum, Einspritzung von Camphora aetherea (1 Spr. 10 Proz.) unter die Haut. Hierauf setzte die Atmung wieder regelmäßig ein, der Puls wurde besser, die blauen Flecken begannen zu verschwinden und allmählich kehrte die Besinnung wieder. Ich schlug der Mutter vor, das Kind zur weiteren Behandlung ins Krankenhaus überführen zu lassen. Diese lehnte den Vorschlag ab, mit der Motivierung, der Mann würde sie schlagen, wenn er etwas vom Vorgefallenen erführe. –
Da mich das weitere Schicksal, wie die näheren Umstände dieses Falles interessierten, begab ich mich zwei Wochen später, am 17. Mai, in die Wohnung des S., wo ich den Vater mit den Kindern vorfand. S., seiner Profession nach Schuhmacher, bewohnte eine Kellerwohnung, bestehend aus Zimmer und Küche. Er hat vier Kinder: einen Knaben (7 Jahre), ein Mädchen (5 Jahre), ein Mädchen (3 Jahr 8 Monate) und ein Mädchen (1 Jahr 4 Monate). Nach dem Bericht des Vaters hatte seine Frau eine dünne Schnur von einer Wand des Zimmers zur anderen gespannt, um Wäsche zu trocknen. Die Höhe der Schnur über der Diele betrug 1 Arschin 2 Werschok (80 cm), die Länge 1½ Arschin (106 cm); die Schnur war nicht straff angezogen, so daß sich der mittlere Teil ca. ¾ Arschin (53 cm) über dem Fußboden befand. Zu Hause befanden sich am 3. Mai nur die Mutter und die beiden jüngsten Kinder. Die Mutter verließ auf kurze Zeit die Wohnung, um ihre auf der anderen Straßenseite wohnende Schwester aufzusuchen. Nach mehreren Minuten zurückgekehrt, fand sie das Kind in der Schnur hängend vor, wobei Letzteres die Hände vorgestreckt hielt und sich mit den Knien auf den Boden aufstützte. Die Mutter befreite sofort das Kind aus der Schlinge und brachte es zur Rettungswache. Zu meinem Bedauern war es mir nicht möglich, etwas Positives über den Hergang der Sache festzustellen, da die einzige Zeugin, die 3 Jahr 8 Monate alte Schwester, an einem Sprachfehler litt, der ihre Aussagen unverständlich machte. Die von mir vorgenommene Untersuchung des verunglückten Kindes ergab, daß dieses normalen Körperbau hatte. Es war schlecht ernährt und sehr blaß; am äußeren Winkel der Hornhaut des rechten Auges fand ich eine Ecchimose von ½ cm Länge und ½ cm Breite. Das Kind hatte ein normal entwickeltes Skelett; Anzeichen von Rhachitis fehlten; Kehle und Luftröhre waren in Ordnung, ebenso die inneren Organe. Auf dem Halse war an Stelle der Strangulationsfurche nur noch eine schwache gelbe Stelle zu sehen. Harnblase und Darm waren intakt; Krämpfe sind nicht beobachtet worden. Der Vater berichtete, daß das Kind mehrere Nächte nach dem Unglücksfall sehr schlecht geschlafen habe und dazwischen mit einem Schrei aus dem Schlafe gefahren sei. –
Wenn wir uns darüber klar werden wollen,-wie diese Erhängung vor sich gegangen ist, können wir folgendes voraussetzen:
In Abwesenheit der Mutter, nimmt das Mädchen M. S. (3 Jahr 8 Monate), von gesundem und kräftigem Körperbau, 1 Arschin (71 cm) hoch, ihre Schwester L. S. auf dem Arm und läßt sie dann fallen. Das fallende Kind schlägt mit dem Kinn auf die ausgespannte Schnur. Die Schnur ringelt sich, (sei es durch den Aufschlag, sei es durch die Bemühungen der Schwester, das Kind zu befreien), zweimal um den Hals desselben.
Eine andere Erklärung wäre folgende:
Das Kind ist von selbst gestolpert, oder von der Schwester gestoßen worden, ob mit oder ohne Absicht; nach vorn fallend, verwickelt es sich in die Schnur, sich mit den Füßen auf den Boden stemmend. Die Schwester bestrebt, das Kind zu befreien, verwickelt dieses noch mehr in die Schnur. – Bei Durchsicht der mir zugänglichen Literatur habe ich einen analogen Fall nicht finden können. Das Erhängen von Kindern, auch durch Erwachsene, kommt außerordentlich selten vor. So werden in der gerichtlichen Medizin von Hofmann folgende Fälle erwähnt:
1875 erhängte ein Schneider in Wien seine Kinder im Alter von 8 Monaten und 2, 6, 8 und 9 Jahren und dann sich selbst. 1878 überfiel ein geisteskranker Beamter seine Töchter im Alter von 6 und 12 Jahren und erhängte sie. – Vor zwei Jahren berichteten die Zeitungen von einem Fall, der in Kischinew passierte:
Ein Knabe im Alter von 12 Jahren war beim Räuberspiel von seinen Kameraden aufgehängt worden. In Kursk spielten drei Kinder, von denen das älteste 12 Jahre alt war, Gericht und verurteilten einen 5 Jahre alten Knaben zum Tode. Sie schleppten ihn auf den Hausboden und hängten ihn auf. Durch Zufall sah es die Mutter. Dieser Umstand rettete das Kind. In Woronesh wollten drei Kadetten ihren Kameraden aufhängen, wurden aber dabei gestört. –
Die Erhängung resp. Erstickung kann auch eine zufällige sein:
Taylor erwähnt einen Fall, in dem ein Knabe beim Spiel zufällig in eine Schlinge geriet und sich dabei erhängte. In einem anderen Fall erhängte sich ein Knabe, nachdem er einer Hinrichtung beigewohnt hatte und den Vorgang beschreiben wollte. Ein Mann, der in seinem Zimmer Gymnastik zu treiben pflegte, wurde erhängt vorgefunden, wobei die Schnur seinen Körper mehrmals umschlang.
Zülch berichtet von zwei Fällen zufälliger Erhängung. Ein Knabe glitt auf der Treppe aus und erhängte sich in seinem Halstuch, das an einem Nagel hängen geblieben war. Ein anderer Fall betrifft einen Stallknecht, der in betrunkenem Zustande von einer steilen Treppe fiel und sich in einer Wäscheleine erhängte. Dr. Gorecki in Paris erzählt von einem Arzt, der sich im Apparat Sayre erhängt hatte. –
Die Erscheinungen, die bei der Wiederbelebung Erhängter resp. Erstickter beobachtet werden, teilt man in lokale und allgemeine. Die Strangulationsfurche erscheint in Form eines geröteten und aufgeschwollenen Streifens. Die Potenz und die Dauer dieser Erscheinungen ist proportional dem Grade des Druckes und der Tiefe des Einschnittes der Schnur. Je weicher die Schnur, desto schneller verschwinden die Strangulationsfurchen.
Pellier hat bei einem erhängten Manne die Strangulationsfurchen 15 Tage lang beobachtet. Bei manchen Erhängten kann die Bewußtlosigkeit Stunden und Tage dauern. Ähnliche Fälle können letalen Ausgang haben. In Raab kam ein Erhängter nach 10 Minuten zu sich und starb erst am andern Tage. In der Meinertschen Klinik starb ein Mann nach 30tägiger ununterbrochener Bewußtlosigkeit. Tardieu beobachtete bei einem Erhängten und ins Leben zurückgerufenen Manne nach zweitägiger Bewußtlosigkeit, Paralyse der Harnblase und des Darmes, sowie Krämpfe und Schmerzen in den unteren Extremitäten. Petrina fand einen 50jährigen Mann, der sich bemüht hatte, sich mittelst einer Schnur zu erhängen, in bewußtlosem Zustande, mit scharf ausgeprägter Strangulationsfurche und einer Ecchimose in der Bindehaut der Augen. Die Bewußtlosigkeit dauerte bis zum Morgen und wurde von klonischen Krämpfen unterbrochen. Darauf trat Paralyse des Gesichtsnervs der rechten Seite ein, auf der linken Paralyse und Anästhesie, ebenso Störung der gleichmäßigen Bewegungen und Bluterguß in der Gegend des Pons Varoli.
Naville Hart beschreibt in seiner Arbeit über »Die nervösen Symptome nach einem mißglückten Versuche des Erhängens«, eigenartige Symptome, die bei einem ins Leben zurückgerufenen Erhängten beobachtet wurden:
Bei 40 Stunden währender tiefer Bewußtlosigkeit, Verengung und Unbeweglichkeit der Pupillen, mit nachfolgendem Wahnsinn und Blutzirkulationsstörungen im Gehirn.
Stubenrath, aus Würzburg, beschreibt in seiner Arbeit »Über Ohrenblutungen bei Erhängten«, die ungewöhnlich starken und noch nach dem Tode beobachteten Ohrenblutungen, welche durch das Platzen der hinteren unteren Quadranten beider Trommelfelle, infolge erhöhten Blut- und Luftdruckes bewirkt werden.
Puppe berichtet in seiner Arbeit »Die Diagnose der gewaltsamen Erstickung durch weiche Bedeckung« über beim Leben und auch bei der Obduktion beobachtete Erscheinungen. Leers, aus Berlin, berichtet über akute alveoläre und intersticielle Lungenblähung, infolge eines Alveolärrisses durch Erstickung. –
Unser, oben beschriebener Fall, ist auch in sozialer Beziehung interessant, da die offenbar Schuldige ein kleines Mädchen ist, das noch nicht das 4. Lebensjahr erreicht hat. Dann muß man die ungewöhnliche Lage der Ecchimose auf der Hornhaut hervorheben, weil diese bei Erhängungen resp. Erstickungen sich gewöhnlich auf der Bindehaut der Augen befindet; die Strangulationsfurche hat eine Spur in Form eines trockenen Streifens von blaßgelber Farbe hinterlassen, noch zwei Wochen nach der Erhängung; andere ernste Folgeerscheinungen, außer unruhigem Schlaf in den ersten Tagen, sind in unserem Falle nicht beobachtet worden.
Auf diese Weise ist der Unglücksfall mit dem Kinde durch die mangelnde Aufsicht der Erwachsenen herbeigeführt worden. Die der Literatur entnommenen Fälle konnten meist auch nur durch den bei Kindern stark entwickelten Nachahmungstrieb möglich werden. –
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