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Mitgeteilt von Staatsanwalt Dr. Bercio in Insterburg.
Der nachstehend mitgeteilte Kriminalfall bietet psychologisch nach zwei Richtungen hin Interesse. Einmal zeigt er, wie sich aus nicht erkennbaren Gründen Mutterliebe in Bestialität verwandeln kann, und zweitens, daß eine aus Furcht vor Todesstrafe im Entstehen begriffene Psychose durch Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe wieder zum Abklingen gebracht worden ist. In letzterer Beziehung wiederhole ich damit lediglich die Ansicht von Ärzten, mit denen ich über diesen Fall gesprochen habe.
Im Jahre 1888 gebar die damals 29 Jahre alte, noch unverehelichte Kätnerfrau Migge eine Tochter, deren Erzeuger der spätere Mann der Migge war. Das Kind wurde im Herzogtum Lauenburg geboren und bald nach seiner Geburt zu den in Ostpreußen wohnenden Eltern der Migge gebracht. Hier wuchs es bis zum Herbst 1891 auf. Nachdem die Migge zu dieser selben Zeit geheiratet hatte, kehrte sie mit ihrem Manne ebenfalls zu ihren Eltern zurück. Der Ehemann arbeitete außerhalb des Dorfes und kehrte meist nur zum Sonntag nach Hause zurück. Gleich beim ersten Wiedersehen ihres Kindes begrüßte es die Migge mit den Worten: »Das Beest hat sich gut ausgewachsen.« Auch in der Folge nannte sie das Kind stets nie anders als Beest, Tierstück, Plaester, faules Tier, und äußerte wiederholt, daß sie das Kind nicht leiden könnte, und daß sie es tot stechen könnte. Einen Grund hierfür gab sie niemals an.
Indessen blieb es nicht bei dieser wörtlichen lieblosen Behandlung und gleich am Tage nach ihrer Rückkehr ins Elternhaus schlug die Migge das damals dreijährige Kind ohne jeden ersichtlichen Grund mit der Faust, und seitdem verging selten ein Tag, an dem das Kind nicht Schläge bekam. Zu diesen Mißhandlungen benutzte die Migge nicht nur die Hand, die Faust, sondern sie schlug auch mit einem Riemen, an dessen Ende sich eine eiserne Schnalle befand, mit einem starken Stock, mit dem Besen, mit einem Stück Holz und mit einem hölzernen Besenstiel. Diese Mißhandlungen ließen am Körper des Kindes Spuren zurück in Form von Striemen und Beulen; mehrfach war das Gesicht aufgeschwollen und blutig, das Blut war bis auf die Schürze gelaufen. Als einmal eine Frau zum Weben von der Migge angenommen war, sollte das damals 5 Jahre alte Kind das Garn vom Spinnrocken auf Spulen bringen. Als es sich dabei ungeschickt anstellte, wurde es von der Mutter wiederholt gegen den Kopf geschlagen und zwar so heftig und roh, daß die webende Frau der Migge drohte, die Arbeit zu verlassen, wenn sie die Mißhandlungen nicht einstellte.
Das Kind durfte nicht am Tische mitessen, sondern mußte an der Ofenbank seine Mahlzeiten einnehmen und wurde auch während des Essens häufig ohne jeden Grund mit der Faust an den Kopf geschlagen und ihm das Essen dann fortgenommen. Die Ernährung des Mädchens war überhaupt eine äußerst mangelhafte, so daß es, um seinen Hunger zu stillen, rohe Wrukenschalen und öfters sogar rohe Kartoffeln aß. Als die Migge zu Ostern Kuchen gebacken hatte, gab sie dem Kinde davon nichts, sondern reichte ihm ein Stück grobes Brot dar. Eine Nachbarsfrau, der das leid tat, nahm das Mädchen in ihre Stube und gab ihm ein Stück Kuchen; als die Mutter dies bemerkte, nahm sie ihm den Kuchen fort. Nachdem das Kind das fünfte Lebensjahr vollendet hatte, starben die beiden Großeltern. Der Großvater äußerte vor seinem Tode noch: »Wenn ich sterbe, wird auch die Kleine durch die Züchtigungen und den Hunger bald tot sein; die Migge wird noch den Galgen zieren, weil sie das Kind tot schlägt und tot hungert.«
In der Tat nahmen die Mißhandlungen nach dem Tode der Großeltern noch zu, so daß die Nachbarn sich beim Pfarrer beschwerten. Die Migge wußte indessen einer Untersuchung vorzubeugen und ließ ihre Tochter in der Folge kaum noch aus dem Hause heraus. Einer Nachbarin, welche ihr Vorhaltungen machte, sagte sie: »Weißt Du, wenn ich auf das Tierstück sehe, könnte ich es gleich mit dem Messer durchspicken.« Im Sommer 1893 begab sich die Migge mit ihrem Mann für 14 Tage auf ein Gut zur Erntearbeit und übergab die Tochter ihrer Schwägerin. Diese bemerkte, außer vielen anderen Spuren von Gewalttätigkeiten, auch auf dem Kopfe des Kindes kahle Stellen. Auf Befragen erzählte es, daß die Mutter es, wenn sie es mit dem Stocke schlage, bei den Haaren festhalte und ihm so die Haare büschelweise ausgerissen habe. In den ersten drei Nächten konnte das Mädchen wenig schlafen, sondern wimmerte fortwährend, weil es im ganzen Körper Schmerzen verspürte.
Bald nachdem die Eltern von der Erntearbeit zurückgekehrt waren, nahm eine Bauerfrau das Mädchen zur Aufwartung ihres kleinen Kindes zu sich in Dienst. Die Migge führte ihre Tochter nicht durch das Dorf zu der genannten Frau, sondern querfeldein, offenbar damit die Leute die Verletzungen nicht sehen sollten, die sie ihr im Gesicht durch Schläge mit einem Besen beigebracht hatte. Die neue Dienstherrin nahm wahr, daß das Kind nicht nur im Gesicht, sondern auch auf dem Rücken verletzt war, daß sich hier sogar noch frisch geronnenes Blut zeigte. Auf dem Kopfe hatte es fast gar keine Haare, da ihm die Mutter diese in der schon oben angedeuteten Weise ausgerissen hatte. Der Ernährungszustand des Kindes war ein überaus dürftiger.
Die Bauerfrau schilderte das Mädchen als durchaus artig, fleißig und willig und gab an, daß es nicht andere Unarten gezeigt habe, wie sie Kinder in diesem Alter auch sonst zu haben pflegen.
Etwa 14 Tage vor Weihnachten 1893 brachte die Bauerfrau das Kind auf Veranlassung der Mutter wieder nach Hause. Es befand sich in wohlgenährtem und gesunden Zustande, auch die Haare waren wieder gewachsen, so daß man einen kleinen Zopf flechten konnte.
Nunmehr begann für das bedauernswerte Geschöpf das Ende seiner Leidenszeit, bis zu seinem am 22. Januar 1894 erfolgten Tode. Die Mißhandlungen wiederholten sich in verstärktem Maße; im Januar mußte es bei großer Kälte, notdürftig bekleidet und barfuß, den Hausflur ausfegen. Als eine Nachbarin um dieselbe Zeit die Migge besuchte, sah sie, daß eine Seite des Gesichts des zu Bett liegenden Mädchens mit einem Tuche bedeckt war. Die Frau hob das Tuch auf und erschrak, da sie verschiedene blutige Verletzungen auf der bedeckten Gesichtshälfte bemerkte. Die gröbste Mißhandlung hat die Migge ihrer Tochter dadurch zugefügt, daß sie einmal beim Kämmen den Kamm in den Haaren umdrehte und einen größeren Wisch Haare vom Kopfe losriß. Seit dem 14. Januar war das Kind dauernd bettlägerig, und den Leuten fiel es nun auf, daß die Migge seit dieser Zeit ihre Tür stets verschlossen hielt. Wie schon erwähnt, endete der Tod die Leiden am 22. Januar 1894 kurz vor Vollendung des sechsten Lebensjahres.
Die Leichenöffnung ergab folgenden Befund: Der Körper war mit Wunden geradezu bedeckt, insbesondere wies das Gesicht, der Rücken, das Gesäß, der Kopf, die Schultern und die Schenkel, massenhafte Spuren von Mißhandlungen auf. Diese Spuren bestanden hauptsächlich in von der Oberhaut entblößten, braunroten, pergamentartig anzufühlenden Stellen von Linsen- bis Talergröße, die zum Teil Eiter enthielten. Es wurde ferner festgestellt, daß sich das Kind in einem außerordentlich schlechten Ernährungszustande befunden hatte, daß es nahezu zum Skelet abgemagert war. Die Leichenöffnung ergab endlich aber noch folgenden auffallenden Tatbestand: Die Zehen an beiden Füßen, die Fingerspitzen der linken Hand und die Spitze des kleinen Fingers der rechten Hand waren erfroren und infolge davon brandig geworden. Das Gutachten ging dahin, daß diese Erfrierungen durch zeitweiligen Aufenthalt im Hausflur nicht entstanden sein konnten, daß das Kind vielmehr längere Zeit der Kälte ausgesetzt gewesen sein mußte. Die Migge gab an, daß ihre Tochter während ihrer letzten Krankheit stets in der gemeinschaftlichen Wohnstube auf Stroh unter einem Zudeck geschlafen habe; allerdings habe sich der Ofen in dieser Stube schlecht geheizt. Die Feststellungen ergaben jedoch, daß diese Angaben der Migge unrichtig waren, daß das Kind vielmehr während seiner letzten Krankheit, bis auf die letzten drei oder vier Tage, in einer ungeheizten Kammer, auf Stroh und nur mit einer Bettdecke bedeckt, hatte liegen müssen. Das Gutachten der Obduzenten lautete dahin, daß die so massenhaft über den ganzen Körper verbreiteten brandigen Zerstörungen der Haut und der darunter liegenden Gewebe, die mit heftigen Schmerzen, hohem Fieber sowie mit Eiterung und hochgradigem Säfteverlust verbunden waren, notwendigerweise zum Verfall der Kräfte und schließlich zum Tode führen mußten, daß ferner das Kind an Erschöpfung gestorben, und daß die festgestellten Zerstörungen der Haut und des Gewebes durch Mißhandlungen und durch Erfrieren herbeigeführt waren.
Am 26. Januar 1894 wurde die Migge zum ersten Male gerichtlich vernommen. Von ihrer Verhaftung wurde Abstand genommen, weil sie hoch schwanger war. Nachdem am 24. Februar 1894 ihre Entbindung erfolgt war, wurde sie am 30. März 1894 verhaftet. Am 23. Mai 1894 meldete der Gefängnisinspektor des Amtsgerichts, in dessen Gefängnis die Migge zunächst eingeliefert war, daß sie bereits kurze Zeit nach der Einlieferung angefangen habe, viel zu weinen und zu jammern. Dann nahm sie wenig Speise zu sich und zwar nur dann, wenn der Gefangenaufseher dabei stand und ihr zum Essen zuredete. Während sie in der ersten Zeit sich dem Lesen von Büchern aus der Gefängnisbibliothek hingab, erlosch sehr bald auch dieses Interesse. Ihr Schlaf war vielfach gestört und unruhig; oftmals ging sie nachts jammernd in der Zelle umher. Ihr Zustand änderte sich auch nicht, als ihr zur Zerstreuung leichte Arbeit gegeben wurde und trotzdem andere weibliche Gefangene mit ihr zusammengelegt wurden; im Gegenteil verschlimmerte sich ihr Befinden zusehends und nahm schließlich einen so bedenklichen Charakter an, daß ihre Überführung in das Landgerichtsgefängnis angeordnet werden mußte. Hier wurde sie vom Gefängnisarzt dauernd beobachtet. Dieser kam zu der Ansicht, daß sie unter dem Drucke ihrer Schuld und der ihr drohenden Strafe in Melancholie verfallen sei. Da der Gefängnisarzt bezüglich des Zeitpunktes des Beginnes ihrer Psychose Bedenken hatte, so wurde ihre Überführung in die Landesirrenanstalt zwecks Beobachtung angeordnet. Nach sechswöchigem Aufenthalt daselbst wurde sie aus der Untersuchungshaft entlassen, nachdem der Anstaltsdirektor begutachtet hatte, daß die Migge an melancholischer Geistesstörung leide, die sie sich vermutlich im Gefängnis zugezogen habe. Am 8. September 1894 wurde das Verfahren vorläufig eingestellt. Eine Anfrage bei dem Amtsvorsteher ihres Wohnortes im Dezember 1894 wurde dahin beantwortet, daß der geistige Zustand der Migge sich nicht gebessert habe, daß sie sich vielmehr in steter Schweigsamkeit, Niedergeschlagenheit und Ängstlichkeit befinde. Zugleich berichtete der Amtsvorsteher, daß die Migge vor ihrer Verhaftung einen durchaus normalen Geisteszustand gezeigt habe und eine sehr freche und ausgelassene Person gewesen sei. Auf eine gleiche Anfrage vom Juni 1895 wurde geantwortet, daß die Migge, nachdem sie ihre Betten und Kleider verkauft habe, unter Hinterlassung ihres Mannes und Kindes, unbekannt verzogen sei. Nunmehr wurde sie steckbrieflich verfolgt und erst am 5. September 1895 in Eisleben, wo sie sich unter ihrem Mädchennamen aufhielt und arbeitete, verhaftet. Sie wurde wieder in das hiesige Landgerichtsgefängnis gebracht, nachdem sie auf dem Transport einen Fluchtversuch gemacht hatte. Der Gefängnisarzt, der sie bereits früher beobachtet hatte, setzte mit seiner Beobachtung sofort wieder ein und hatte nach kurzer Zeit den Eindruck, als ob sie jetzt ihren früheren krankhaften Zustand simuliere. Sie war völlig einsilbig und zu Antworten gar nicht zu bewegen, verhielt sich im Übrigen aber still und beschäftigte sich mit Federn reißen. Wiederholt sprach sie die Befürchtung aus, daß sie hingerichtet werden würde.
Nunmehr wurde das Hauptverfahren wegen Körperverletzung mit Todesfolge eröffnet und am 13. Februar 1896 zur Hauptverhandlung geschritten. Zu dieser Hauptverhandlung waren sowohl der Gefängnisarzt als auch der Direktor der Provinzialirrenanstalt zugezogen. Die Erklärungen, welche die Migge in der Hauptverhandlung abgegeben, beschränken sich auf die Äußerung: »Ja, ich habe es gemacht.« Im Übrigen antwortete sie mit ja und nein und zeigte einen völlig apathischen Zustand. Die nach der Zeugen-Beweisaufnahme vernommenen Sachverständigen erklärten, daß die Migge gegenwärtig zwar nicht als geisteskrank anzusehen sei, daß sich indessen bei ihr die von den Sachverständigen vor zwei Jahren beobachtete Psychose wieder zu entwickeln beginne. Auf die Frage des Vorsitzenden, ob die Sachverständigen glaubten, daß der Geisteszustand der Migge gegenwärtig ein derartiger sei, daß sie der Verhandlung nicht zu folgen und sich nicht sachgemäß zu verteidigen vermöge, gaben die Sachverständigen eine bestimmte Erklärung nicht ab. Demgemäß beantragte der Verteidiger, das Verfahren gegen die Migge wegen zeitiger Geistesstörung vorläufig einzustellen. Diesem Antrage widersprach der Staatsanwalt, und der Gerichtshof beschloß, in der Verhandlung fortzufahren, da nach deren Gange anzunehmen sei, daß die Angeklagte zurzeit nicht geisteskrank und auch verhandlungsfähig sei.
Die Verhandlung endete mit der Verurteilung der Migge zu zwölf Jahren Zuchthaus. Sie wurde alsbald in die Strafanstalt überführt. Eine Anfrage vom Dezember über den zeitigen Geisteszustand der Migge wurde von der Strafanstaltsdirektion dahin beantwortet, daß die Verurteilte auch jetzt noch eine, allerdings wenig ausgesprochene Melancholie an den Tag lege und immer noch bisweilen die Befürchtung ausspreche, für ihre Straftaten hingerichtet zu werden. Dieser Zustand hatte sich jedoch im Jahre 1899 vollständig verloren. Sie korrespondierte vielfach mit ihren Angehörigen und schrieb ihnen ausführliche und durchaus verständige Briefe, bat ihren Bruder auch, sich für ihre Begnadigung zu verwenden und führte sich zur Zufriedenheit des Direktors. Kurz vor ihrer Entlassung wurde der Anstaltsarzt nochmals zu einer Äußerung über den Geisteszustand der Migge veranlaßt.
Er teilte mit, daß die Migge in den letzten Jahren ihrer Haft Zeichen einer geistigen Depression nicht dargeboten habe; in den Gebärden und Handlungen sowie im Verstandesgebrauche seien Störungen gleichfalls nicht zutage getreten, so daß die Migge als völlig geistig gesund bezeichnet werden müsse.
Hiernach scheint mir dargetan zu sein, daß die in der Hauptverhandlung noch vorhandene melancholische Depression, die in der Hauptsache wohl auf die – vielleicht nicht ganz unbegründete – Furcht vor der Todesstrafe zurückzuführen war, in dem Momente wieder allmählich wich, wo die Verurteilte die Gewißheit hatte, daß ihre Straftat mit einer zeitigen Freiheitsstrafe abgegolten war.