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XVII.
Aus den Erinnerungen eines Zuchthaus-Predigers.

Konferenzvortrag von weil. Hermann Schulz, Prediger und Seelsorger am Zuchthause, und geistlichem Pfleger an den Kreisgerichtsgefängnissen zu Weimar. 1852-1873.

Herausgegeben durch stud. jur. Schulz, Dresden-Gruna.

(Schluß.)

Zu den bisher genannten Ausrüstungen kommen glücklicherweise auch äußerliche Hilfsmittel, welche den Dienst insofern erleichtern, als sie einen Einblick in das Leben des Gefangenen gewähren. Hierher gehört der, wenn auch meist sehr dürftige

Auszug aus den Akten,

der mit jedem Delinquenten übergeben wird, der aber auch durch einen Einblick in die geschlossenen Akten vervollständigt werden kann.

Der Geistliche muß bemüht sein, sich durch Fragen einen Einblick in den religiösen Zustand des Deliquenten, seine häusliche Erziehung und häuslichen Verhältnisse, sowie in die besonderen Umstände zu verschaffen, welche zu der Übertretung und dem Verbrechen geführt haben. Dazu hat der Geistliche die Pflicht, über jeden Pflegling ein Tagebuch zu führen, damit er zu jeder Zeit imstande ist, gewissenhaftes Zeugnis zu geben.

Viele Sträflinge freilich gehen wieder, wie sie gekommen sind. Das sind die Rückfälligen, denen der Weg zum Zuchthause mit guten Vorsätzen gepflastert ist. Für solche fehlt uns ein Asyl, wo sie zwangsweise in halber Freiheit aufbewahrt werden, weil eine bloße Polizeiaufsicht oder Beaufsichtigung entlassener Sträflinge nichts hilft. Andere wieder verlassen das Haus, und man hört nichts wieder von ihnen. Immerhin ein gutes Zeichen, daß sie sich keine strafbare Handlung haben zu schulden kommen lassen. Lassen Sie mich noch einige Beispiele erwähnen:

Die B. aus F., 29 Jahre alt, war wegen Mordes zu lebenslänglichem Zuchthause verurteilt. Ihr vierjähriges Kind war plötzlich verschwunden, und auf Befragen erklärte sie, sie habe es an eine Schauspielergesellschaft verkauft. Nachdem aber die Leiche des Kindes in der Elster aufgefunden worden war, gestand sie, daß sie den Knaben ins Wasser geworfen habe, und wurde wegen dieses Mordes zu lebenslänglichem Zuchthause verurteilt. Mit verletzender Ruhe und Fühllosigkeit hatte sie ihr Verbrechen gestanden. Sie war ein widerwärtiges Frauenzimmer, das mit seinen Mitgefangenen im Unfrieden lebte und die Gefangenschaft nur mit Widerstreben trug. Sie bestürmte alle, ihr zur Begnadigung zu verhelfen. »Lieber den Kopf vor die Füße, als gefangen sein!« das war ihr ständiges Wort. Nach drei Jahren wurde sie kränklich, ging aber meistens noch in die Kirche. Am 1. Dezember 1857 ließ sie mich gegen Abend zu sich rufen, denn sie wäre sehr krank. So fand ich sie auch recht schwach, daß sie kaum ein lautes Wort sprechen konnte. Sie verlangte, mit mir allein zu sein, denn sie wollte beichten, und ich mußte mich zu ihr aufs Bett setzen, damit ich sie nur verstehen konnte.

Sie sagte: »Ich kann das Kind nicht aus den Gedanken kriegen. Des Nachts habe ich keine Ruhe, denn da steht mir der Knabe immer vor Augen. Sie wolle mir die ganze Geschichte erzählen.« Nachdem sie darauf ihre Not geschildert hatte, die sie zu dem entsetzlichen Entschlusse geführt habe, fuhr sie fort:

»Ich ging mit dem Kinde fort und sagte ihm: ich muß dich ins Wasser werfen, denn ich habe kein Brot für dich. Das Kind bat, wirf mich nicht ins Wasser, ich will mir Brot betteln! Darauf suchte es Blumen, gab mir den Strauß und bat: wirf mich nicht ins Wasser! Als wir aber auf dem Stege angekommen waren, faßte ich den Knaben und warf ihn in die Elster.«

Sie sagte weiter: »jetzt, da sie sterben werde, läge ihr die Untat schwer auf dem Herzen, und sie wäre in Angst, ob sie wohl von Gott in Gnaden aufgenommen werden würde.« – – Ich tröstete sie und fragte: »Soll ich morgen in der Betstunde für dich beten?« Aber sie meinte, dann sei es dazu zu spät. Als ich sie verließ, schlug es sechs Uhr, und um acht kam der Wärter und meldete mir den Tod der B.

Ein trauriges Gegenstück ist folgendes: Der sechsundsiebzigjährige Schneider H. aus W. wurde wegen Unzucht mit Kindern unter vierzehn Jahren zur Verbüßung einer dreijährigen Zuchthausstrafe eingeliefert. Schon bei seinem ersten Vortritt machte der alte Sünder einen widerlichen Eindruck. Er hatte keine Tränen, keine Reue, denn, sagte er – »es war nur eine Spielerei!« Er litt an Altersschwäche, war meist in der Krankenstube und ging seinem Ende allmählich entgegen.

Da, nach einem Jahre ließ er mich gegen Abend rufen, daß ich ihm das Abendmahl reichen solle. Ich ging vorher in seine Zelle, um mich erst von seinem Seelenzustande zu überzeugen. Ich redete ihm wegen seines Verbrechens ins Gewissen, aber er erwiderte dreist: »Ich weiß gar nicht, was Sie für Umstände machen! In meiner Jugend haben wir jungen Leute das öfters getan, und wenn es herauskam, wurden wir mit drei bis vier Wochen Gefängnis bestraft. Hätte ich gewußt, daß das jetzt anders ist, so hätte ichs nicht getan.«

Ich ermahnte ihn zu einer besseren Erkenntnis, aber es war zu spät, denn am nächsten Morgen schon war er tot.

Daß Shakespeare die Blutphantasien der Lady Macbeth nach dem Leben gezeichnet hat, beweist mir der Sträfling D. aus K. Dieser zwanzigjährige Sohn eines dortigen Bauern und Gutsbesitzers, war ein der Fleischeslust ergebener Mensch, vor dem sich die Mädchen des Dorfes zu hüten hatten. Da machte er sich an ein sechzehnjähriges, unerfahrenes und gutgeartetes Mädchen, welches sich seine Aufmerksamkeiten gefallen ließ, sich aber zu nichts weiter hergab.

Einst brachte er sie vom Pfingstballe nach der Mühle, wo sie diente, und sie ging, nichts Böses ahnend, mit ihm auf den Scheunenboden. Hier warf er sie nieder, stopfte ihr den Mund und, da sie sich mit allen Kräften wehrte, stieß er ihr sein Taschenmesser in die Brust. Während sie durch ein leises Zucken der Beine noch die letzten Lebenszeichen von sich gab, befriedigte er an ihr seine Lust.

D. wurde wegen Notzucht und Tötung zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt. Nachdem er fünf Jahre verbüßt hatte, wurde er bettlägerig und fing manchmal an zu phantasieren. Der Krankenwärter berichtete einmal, daß er gerufen habe: »Bring' mir den Wasserstotz, daß ich mir das Blut abwasche!« Der Krankenwärter antwortete ihm, daß kein Blut da sei, doch D. erwiderte: »Ja, hier an meiner Hand und dem Hemde!«

Um ihn zu beruhigen, brachte der Wärter endlich das Wassergefäß, und der Gefangene begann sich die Hände und das Hemd eifrig zu waschen. In der folgenden Nacht begann er wieder zu toben und rief, daß er fort müsse. »Ich muß zu meinem Vater, zum Pfingsttanze! Ich bin nicht wieder dort gewesen!«

Er wollte sich durchaus nicht halten lassen, so daß die anderen Gefangenen ihn gewaltsam ins Bett bringen mußten, wo er ganz erschöpft niederfiel.

Am anderen Morgen sagte er zum Wärter: »Ich war zu Hause. Es war noch alles so wie sonst. Es war Pfingsttanz!« Und dann begann er zu lachen, daß der Wärter von Entsetzen geschüttelt ward. Acht Tage darauf reichte ich ihm das Abendmahl, und am Tage darauf starb er infolge der Auszehrung.

Vielleicht entsinnt sich mancher der älteren Herren noch des in der Gartenlaube veröffentlichten, Aufsehen erregenden Artikels, überschrieben:

Frau Werther.

Er betraf die wegen Mordes zum Tode verurteilte, aber zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigte Frau A. W. aus O. Sie war beschuldigt, ihr sechzehn Tage altes, drittes uneheliches Kind, welches sie im Trierschen Institut zu Leipzig geboren hatte, ermordet, beziehentlich in der Saale ertränkt zu haben, da einige Zeit später eine Kindesleiche in dem Flusse aufgefunden worden war. Sie hatte hartnäckig geleugnet und behauptet, sie habe das Kind nach ihrem Weggange aus dem Institut einer Frau Werther in Leipzig übergeben, die aber nirgends zu finden war und durch jenen, vom Advokaten Sommer in Sondershausen eingesandten Aufsatz ausfindig gemacht werden sollte. Frau Werther fand sich nicht, und die W., welche am 13. September 1865 ins Zuchthaus eingeliefert wurde, blieb hartnäckig bei der Beteuerung ihrer Unschuld. Man sah ihr aber bald an, daß etwas in ihr vorging, daß sie sich vielleicht mit Selbstmordgedanken herumtrug oder sich Gewissensbisse machte. Schon im Januar 1866, als sie durch die Nachricht, daß ihr Großvater aus Gram über sie gestorben sei, gerührt war, war sie nahe am Geständnis, aber die Eisrinde wollte noch nicht brechen. Acht Tage benutzte ich die Predigt, um die Lebensgeschichte der Verbrecherin mit zu verweben, und schon nachmittags bat sie um Vorlaß und gestand mir nicht nur die Tat, sondern erzählte auch ausführlich die Einzelheiten, wie sie im Morgengrauen des 12. Mai 1864 das Kind in Halle von der Brücke herab in die Saale geworfen habe. Dieses Geständnis aber war nicht nur für die Verbrecherin eine Beruhigung, sondern auch, wie mir auf meinen Bericht mitgeteilt wurde, für die damaligen Mitglieder des Gerichtshofes. Im Jahre 1885 ist die W. aus dem Zuchthause in Tonna begnadigt entlassen worden.

Ein anderer Fall: H. aus W. hatte am Charfreitag nachmittags 4 Uhr den Landwirt S. aus I. auf der Erfurter Chaussee, kaum 300 Schritte vor der Stadt, erschossen und ihn berauben wollen, jedoch fliehen müssen. Am Tage nach der Tat wurde er ergriffen. Trotz Leugnens wurde er, da damals die Todesstrafe aufgehoben war, zu lebenslänglichem Zuchthause verurteilt. Aber obwohl alle, auch sein Verteidiger, von seiner Schuld überzeugt waren, hat er nie ein Geständnis abgelegt. Ich verkehrte viel mit ihm, auch geschäftlich in meiner Behausung. Er betrug sich immer gut, ließ sich aber auch da zu keinem Geständnis herbei. Nach zehnjähriger Haft ist er im Zuchthause gestorben.

S. aus G., welcher aus Eifersucht einen Rivalen von der Straße aus erschossen hatte und lebenslang verurteilt war, ist ebenfalls ohne Geständnis im Zuchthause gestorben.

S. ein wohlhabender Landwirt aus I., welcher wegen Giftmordes an seiner Frau lebenslänglich büßen sollte, beteuerte zehn Jahre hindurch seine Unschuld, hat sich, wenigstens bis zu seiner Überführung nach Tonna, trotz jahrelanger Bettlägerigkeit und geistlichen Zuspruchs zu keinem Geständnis bewegen lassen. –

Die allerschwerste Aufgabe eines Gefängnisgeistlichen ist die Todesvorbereitung und Begleitung eines Delinquenten zum Schaffot. –

Schließlich möchte ich noch einen Zweig meiner Tätigkeit im Verkehr mit Gefangenen berühren, welche zwar keine Verbrecher waren, aber doch gefangen saßen. Das waren die

Militärstrafgefangenen.

Die meisten, es waren manchmal zehn bis sechzehn Gefangene, hatten wegen Diebstahls, Insubordination und Desertion manchmal bis zu fünf Jahren Festungshaft. Zu ihnen gehörte ein gewisser Sch. aus E., der schon zweimal den Versuch gemacht hatte, zu desertieren. Endlich desertierte er als Gefangener zum dritten Male, wurde aber schon nach einigen Stunden wieder aufgegriffen. Wohl wissend, was ihm bevorstand, stieß er sich das Taschenmesser in die Brust, glücklicher- oder unglücklicherweise aber nicht tödlich. Sch. war ein rabiater Kerl und suchte sich nach diesem mißglückten Selbstmordversuch durch Verhungern umzubringen. Schon hatte er vier Tage keine Nahrung zu sich genommen, da kam am Abend der Oberstabsarzt Dr. H. zu mir und sagte:

»Pastor! Sch. ist soeben zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Du bist der Einzige, der etwas für Sch. tun kann. Geh morgen früh zum Herrn Minister v. W. und lege eine Fürbitte ein.« Das tat ich denn auch. Bei meinem Vortrage sagte ich: »es geht einem doch nahe, daß ein Mensch, der nur seinem Freiheitsdrange gefolgt ist, zehn Jahre lang unter Mördern und Spitzbuben zubringen soll.« Se. Exzellenz antwortete: »Sie haben recht, es geht einem nahe, und es ist mir lieb, daß Sie gekommen sind, ehe ich dem gnädigsten Herrn Vortrag halte. Was meinen Sie mit drei Jahren Arbeitshaus? Sind Sie damit zufrieden?«

Ich war es, und er fuhr fort: »Aber ich knüpfe das an eine Bedingung, Sie müssen dafür sorgen, daß Sch. wieder Nahrung zu sich nimmt, denn ich will keinen Skandal in der Presse. Können Sie mir das versprechen?«

Ich versprach es, und dann kehrte ich in die Kaserne zurück, wo ich bei dem Lazarettverwalter die thüringische Lieblingsspeise, eine gut gebratene Bratwurst und einen feinen Kartoffelsalat, bestellte. Dann begab ich mich zu Sch., der schon ziemlich schwach war, und stellte ihm das Törichte seines Selbstmordversuches vor. Er werde bei seiner kräftigen Natur nach vierzehn Tagen auch noch nicht tot sein. Er aber antwortete mir, daß er lieber sterben wolle, ehe er ins Zuchthaus ginge. Nun hatte ich ihn auf dem Punkte, wo ich ihn haben wollte, und sagte:

»Ich verspreche Ihnen, daß Sie nicht ins Zuchthaus kommen sollen, wenn Sie in meiner Gegenwart essen; sondern nur drei Jahre nach Eisenach ins Arbeitshaus, was, wie Sie wissen, nur eine leichte, nicht entehrende Strafe ist.«

Er schaute mich ungläubig an, aber als ich ihm mein Ehrenwort gab, und als nun das wohlriechende Gericht kam, gab er seinen Widerstand auf, aß und war gerettet. Leider mußte er schon nach einem Jahre in eine Irrenanstalt in Jena eingeliefert werden, wo er auch gestorben ist.


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