Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Sobald Kameron Boden unter den Füßen fühlte, kniete er nieder und tastete im Dunkeln nach den Enden der Leiter. Sie waren an einer oben angebrachten Eisenstange mittelst Haken befestigt, die Leiter konnte daher leicht ausgehängt und heraufgezogen werden. Nachdem der Doktor auf solche Weise alle Verbindung zwischen dem oberen und unteren Stock abgeschnitten und die Leiter oben im Gang niedergelegt hatte, war er der frohen Zuversicht, daß »Q,, der Neugierige«, wie er sich nannte, nicht imstande sein werde, ihm zu folgen.
Beim Schein eines brennenden Streichholzes erkannte er, daß zwei Stubentüren auf den Gang führten. Die erste, die er zu öffnen versuchte, war verschlossen; dort also hatte Molesworth wahrscheinlich Zuflucht gefunden. Dagegen ließ sich die andere Türe öffnen; es war ein Raum, der zugleich als Eßzimmer, Speisezimmer und Küche zu dienen schien. Nachdem er eins von den Lichtern, die auf dem Kaminsims standen, angezündet, konnte er seine Umgebung näher ins Auge fassen. Von dem großen Schlafsofa schweifte sein Auge zu dem Bücherbrett mit den altertümlichen Bänden, zu Töpfen und Pfannen, zu einer Bronzefigur von wirklichem künstlerischen Wert und vielen andern nicht zusammengehörigen Gegenständen und Geräten, die der menschenfeindliche Sonderling, der in dem Bau hauste, darin gesammelt hatte. Indessen hatte Kameron Wichtigeres zu tun, als sich mit dem abwesenden Hausbesitzer zu beschäftigen.
Sein dringendstes Verlangen ging natürlich dahin, Molesworth von der Gefahr zu unterrichten, in welcher er schwebte. Er trat daher wieder auf den Gang hinaus, ungewiß, ob er klopfen oder rufen solle, um sich ihm bemerklich zu machen. Da vernahm er von unten her Stimmengewirr, und wie er oben ängstlich darauf horchte, sah er plötzlich in der Falltüre den Kopf des Mannes auftauchen, dessen Wachsamkeit er vor allem fürchtete.
Hollah, nur noch einen Schub, dann wird's gehen, rief Q. dem Manne unten zu, auf dessen Schultern er zu stehen schien. So, nun reichen Sie mir Ihre Hand herunter, bester Herr, und ich bin an Bord.
So große Lust auch Kameron verspürte, den Menschen wieder durch das Loch zurückzustoßen, statt ihm heraufzuhelfen, er wagte nicht, ihm den begehrten Beistand zu verweigern. Q. kletterte vollends durch die Oeffnung der Falltüre hindurch und stand im nächsten Augenblick an des Doktors Seite.
Sie sehen, ich hatte Lunte gerochen, rief er, mit scharfem Blick umherspähend, und da die Männer unten mich als Kundschafter aussenden wollten, bin ich Ihrem Beispiel gefolgt. Aber wie sind Sie denn eigentlich ganz allein heraufgekommen, Sie können doch nicht geflogen sein? – Aha, ich sehe schon, lachte er, da liegt ja die Leiter; Sie haben sie heraufgezogen. Das sieht nicht gerade wie eine Einladung aus.
Kameron lachte mit, so wenig ihm danach zumute war. Glaubten Sie, ich sei willens, mir meine Nachtruhe von der Gesellschaft unten stören zu lassen? Die wäre mir höchlich im Wege, da nur einer hier bequeme Unterkunft finden kann.
Q. hatte indessen schon alle Schubladen aufgezogen, in alle Kisten und Kasten hineingeguckt. Sie verstehen sich gut auf Ihren Vorteil, das merke ich, sagte er, aber nun ich einmal hier bin, so gestatten Sie wohl, daß ich bleibe. Ich kann auf der Diele schlafen und werde Ihnen nicht lästig fallen, verlassen Sie sich darauf. Schnarchen tue ich auch nicht, sonst wäre ich ja zum Geheimpolizisten völlig untauglich.
Der Doktor sah ein, daß er gute Miene zum bösen Spiel machen müsse, haben Sie etwas zu essen gefunden? fragte er.
Damit sieht's windig aus, war die Antwort, nichts zu brocken und zu beißen; einen Topf Essiggurken, ein Säckchen mit Mehl und weiße Bohnen, weder Brot noch Kartoffeln – so ein elendes Hungernest ist mir noch nicht vorgekommen.
An die Falltüre tretend, rief er hinab:
Alles leer, auf Ehrenwort, wie gefegt! Morgen können wir Bohnen kochen, davon gibt's noch einen Scheffel voll.
Die wenig verbindlichen Antworten, die zurückschallten, machten ihn nicht ärgerlich; er fand auf jede eine launige Erwiderung und wußte auch dem Widerspruch, der sich bei der Ankündigung erhob, daß er zu bleiben gedenke, wo er sei, durch Witze und Scherzworte zu begegnen.
So verstummten denn allmählich die scheltenden Stimmen unten und niemand hinderte ihn mehr an der Ausführung seiner etwaigen Plane.
In Molesworths Zimmer blieb indessen alles totenstill, aber Kameron stellte sich die peinliche Lage des Flüchtlings lebhaft vor; vielleicht stand er jetzt lauschend in der Dunkelheit, bemüht, sich Gewißheit zu verschaffen, wer der neue Ankömmling sei; ob er von ihm für seine Person Gefahr zu fürchten habe; ob sein Schlupfwinkel entdeckt sei. Lange konnte es auch gewiß nicht dauern, bis sich die Aufmerksamkeit des unruhigen Kameraden der verschlossenen Türe zuwandte.
Diese Besorgnis erwies sich als nur zu Wohl begründet. Q. warf dem Doktor einen fragenden Blick zu. Der andere steckt gewiß da drinnen, bemerkte er, der muß auch ein Pfiffikus sein, wie Sie.
Ich weiß nicht, entgegnete Kameron, aber da er nicht hier ist, wird er wohl dort sein; hoffentlich friert er nicht so, wie wir.
Da will ich doch gleich ein Feuer anzünden, rief jener lebhaft und machte sich sofort ans Werk. Die Beschäftigung beruhigte einstweilen seinen Forschungstrieb, den Kameron so sehr fürchtete. Das Feuer kam erst nach vieler Mühe zustande, als die Nacht bereits weit vorgerückt war.
Kameron lag auf dem Sofa am Kamin; er horchte auf den draußen tobenden Sturm und auf jeden Laut, der aus dem Nebenzimmer herüberdringen konnte; dabei beobachtete er unablässig das Gesicht des nicht weit von ihm ruhenden Q., der sein Lager dicht an Molesworths Zimmerwand bereitet hatte, welche nur aus Brettern bestand. Lange, unheimliche Schatten dehnten sich auf Fußboden und Decke, und jedesmal, wenn sich der Doktor vornüber beugte, um Holz auf das Feuer zu legen, schien es, als ob ein drohender Riesenarm auf ihn herab fahre, um nach ihm zu greifen.
Mitternacht war längst vorüber; von Zeit zu Zeit schwieg der Sturm, um sich dann wieder mit doppelter Gewalt zu erheben. In einer solchen Pause schrak der Doktor plötzlich beim Ton einer Stimme zusammen, die in hastigen, abgebrochenen Lauten an sein Ohr schlug; woher dieselben kamen, ward ihm erst allmählich klar:
»Der Vorsaal ist ganz hell. – Niemand auf der Treppe. – Komme unbemerkt hinunter. – Nur ruhig bleiben. – (Hier folgte ein klagender Seufzer.) O, wie starr ihre Augen sind!« –
Gerechter Himmel, was für Reden! Kamerons Blicke flogen nach dem Detektiv hinüber. Konnten die Worte aus seinem Munde kommen? Nein, Q.'s Lippen blieben fest geschlossen, und die entsetzliche Stimme sprach weiter:
»Wie soll ich sie tragen? – So? – Nein, man sieht ihr Gesicht. Oder so? – Aber jetzt hängt die Hand herunter. – O Gott, die furchtbare Aufgabe. –«
Es war Molesworth. Er durchlebte offenbar noch einmal im Traum die Vergangenheit einer schrecklichen Stunde und verriet im Schlafe, was keine Folter ihm in wachem Zustande entrissen hätte. Wenn der anscheinend so ruhig daliegende Geheimpolizist ihn hörte, war die Entdeckung unvermeidlich, Kamerons Herz stand still vor Entsetzen; er erwartete jeden Augenblick, ihn aufspringen zu sehen, um in atemloser Spannung auf die merkwürdigen Enthüllungen des Träumers zu lauschen.
Jetzt begann das schnelle, eintönige Gemurmel von neuem:
»Wie schwer sie ist! – Ein toter Körper, wie viel er wiegt. – Es muß ihr Herz sein – das ist schwer wie Blei – wie Blei. –«
Kameron war fassungslos. Mußte er hier liegen und hören, wie Molesworth sich selbst verriet und das Geheimnis preisgab, von dem seine Ehre, sein Glück abhing? Er hatte aufschreien mögen, um diese verräterischen Worte zu übertönen, oder an das Lager des Detektivs schleichen, um ihm die Ohren zuzuhalten. Da er aber alles vermeiden mußte, was ihn selbst bei Q. in Verdacht bringen konnte, so hielt er an sich, so qualvoll es auch für ihn war.
Er legte den Kopf zurück und schloß die Augen. Trotz der eiskalten Nacht trat ihm aber der Angstschweiß aus allen Poren, als die Stimme jetzt wieder mit schaurig hohlem Klang anhob:
»Habe manche Tote gesehen. – Noch keine in Armen getragen. – Das Blut erstarrt in den Adern. – Ich kann nicht zurück. – Die Musik, das Lachen der Gäste. – Weiter mit der furchtbaren Last – die Stufen hinunter – die Treppe – immer weiter – weiter –«
Jetzt war alle Hoffnung aus. Daß es Molesworth sei, ließ sich nicht mehr verbergen. Keiner außer ihm hatte je ein totes Mädchen in seinen Armen aus einem Hause der Freude und Festlichkeit getragen.
Und wiederum ertönte die Stimme:
»Meine Hochzeitsnacht – aber mein Herz ist erstorben – keine Hochzeit mehr für mich – sie ist tot – kalt und tot – das helle Auge starr – das Lächeln erloschen. – Genofeva – Genofeva!«
Der Name hatte nur noch gefehlt. Kameron warf einen schnellen Blick nach dem Geheimpolizisten, dessen Gesichtsausdruck ihm verändert erschien. Aber mehrere bange Minuten vergingen, jener sprach nicht und rührte sich nicht, so daß der Doktor die Hoffnung zu hegen begann, er übe nicht Verstellung, sondern schlafe wirklich.
Kameron holte nun tiefer und tiefer Atem, und trotz der empfindlichen Kälte ließ er das Feuer ausgehen, um Q., falls derselbe wirklich schlief, durch kein Geräusch zu wecken. Da dieser in derselben ungezwungenen Lage, die er von Anfang an eingenommen, verharrte, bildete sich der Doktor immer zuversichtlicher ein, er habe wirklich nichts gehört, und so ließ auch allmählich seine Wachsamkeit nach, bis er infolge seiner völligen Erschöpfung in einen tiefen traumlosen Schlummer versank.
Er mochte wohl eine Stunde oder mehr geschlafen haben, als ihn ein Geräusch im Zimmer erwecke. Sofort stand ihm alles Erlebte mit furchtbarer Deutlichkeit wieder vor der Seele. Er blickte beim Schein des tief herabgebrannten Lichtes nach der Nische hin, in welcher Q. gelegen hatte. Die Stelle war leer. Hastig wandle er den Kopf nach der Türe, hinter welcher der Detektiv soeben verschwand.
Jetzt ist alles verloren. Er geht zu Molesworth, um ein Verhör mit ihm anzustellen, war Kamerons erster Gedanke. Geräuschlos verließ er sein Lager und schlich durch das Zimmer in den Gang hinaus. Dort vernahm er jedoch kein Rufen und Klopfen an Molesworths Türe, wie er erwartet hatte. Q. hatte soeben die Leiter hinabgelassen, und, ehe sich Kameron dessen versah, war er hinuntergeklettert und seinen Blicken entschwunden.
Trotz seiner Ueberraschung bei dem unerwarteten Ereignis zögerte der Doktor keinen Augenblick, sich dasselbe aus jede Gefahr hin zunutze zu machen. Kaum waren die Schritte des Geheimpolizisten verhallt, als er kräftig an Molesworths Türe rüttelte und rief: Oeffnen Sie, öffnen Sie so schnell wie möglich, um Gottes willen! Ich muß mit Ihnen reden.
Hatte er es gehört? Würde er antworten? Die Spannung war entsetzlich. Aber schon im nächsten Augenblick ward ein leichter Tritt vernehmbar, der Schlüssel drehte sich im Schloß, der Riegel ward zurückgeschoben, und die Tür ging auf.
Was gibt es? Wer ist der Mann und –
Still! Es ist ein Geheimpolizist. Sie haben im Schlaf gesprochen. Er muß wissen, daß Sie hier sind. Kommen Sie schnell heraus, steigen Sie die Leiter hinunter und verbergen Sie sich in einer dunkeln Ecke, bis Sie Gelegenheit finden, hinauszuschlüpfen.
Ich weiß ein besseres Mittel, zu entkommen. Halten Sie ihn bis sechs Uhr morgens von meinem Zimmer fern; dann mag er hineingehen. Er wird mich nicht finden.
Aber wie –
Fragen Sie nicht. Lassen Sie ihn eintreten, aber nicht lange verweilen. Um sechs Uhr oder später, keine Minute früher. Noch ein Lebewohl murmelnd, schloß Molesworth die Türe, schob den Riegel vor, und alles war wieder still. Kameron vernahm nichts als das laute Pochen seines eigenen Herzens.
Was kann er meinen? Wie will er entfliehen? waren die Fragen, die vor seinem Geiste aufstiegen. Wir sind im zweiten Stock, sein Zimmer geht auf den Fluß, wenn ich nicht irre. Der ist so wild und reißend, es wäre Wahnsinn, sich in die brausende Flut hinauszuwagen.
Jetzt hörte er Q. zurückkehren und schlich leise wieder auf sein Lager, von wo er mit weit offenen Augen nach dem eintretenden Detektiv blickte, der ein großes Tierfell hinter sich herzog, das er unten von der Wand genommen.
Wenn man eine solche Bettdecke haben kann, wird man doch nicht unnützerweise zu Tode frieren wollen, lachte er. Bedaure, Sie gestört zu haben; hätte Ihnen auch eins mitbringen sollen. Ich kann noch ein solches holen, wie meins, wenn Sie wünschen – ein ganz prachtvolles Fell.
Aber der Doktor lehnte dankend ab; ihm genügte der zweite Ueberzieher, um sich zuzudecken. So lag denn der Geheimpolizist bald wieder in seiner Nische, und Kameron beobachtete ihn, solange das Licht brannte, dann horchte er in der Finsternis auf seine Atemzüge. Draußen tobte der Sturm noch immer, und wenn er einmal eine Weile schwieg, so war es nur, um sich mit einer Wut wieder zu erheben, vor welcher das Haus in allen Fugen zitterte und die Herzen derer erbebten, die sich darin geborgen hatten.