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Als sie draußen standen, blickte der Doktor, welchen der letzte Schlag förmlich betäubt hatte, wie rat- und ziellos umher. Gryce nahm ihn am Arm und suchte ihm begreiflich zu machen, daß jetzt Eile nottue.
Eile? wiederholte Kameron mechanisch; was sollte mich wohl zur Eile treiben? Wo die Braut fehlt, wird der Bräutigam nicht vermißt.
Mir liegt natürlich zunächst die Pflicht ob, den Eltern über den Aufenthaltsort ihrer Tochter Mitteilung zu machen; aber ich dächte, auch für Sie gäbe es etwas zu tun.
Hier? Das mag sein.
Wollen Sie es versuchen? Die Dame ist jetzt allein – vielleicht gelingt es Ihnen –
Nein, unterbrach ihn der andere, voll Abscheu in Miene und Gebärde, das vermag ich nicht. So weit reicht weder meine Liebe, noch mein Erbarmen.
Er eilte nach dem Wagen und sprang hinein; Gryce folgte und nahm ihm gegenüber Platz.
Nach der Stadtbahn! rief er dem Kutscher zu.
Wir haben durch diese unerwartete Entdeckung volle zehn Minuten verloren, wandte er sich wie zur Entschuldigung an den Doktor, die müssen wir wieder einholen, so gut es geht.
Kameron nickte schweigend; eine völlige Gleichgültigkeit schien sich seiner bemächtigt zu haben. Jener fuhr indessen fort:
Ich möchte Ihnen doch auseinandersetzen, wie ich mir die Sache erkläre. Wollen Sie mich anhören?
Was bleibt mir anderes übrig? war die herbe Antwort.
Nun also: Fräulein Gretorex hatte sich mit Ihnen verlobt und schien sich als Ihre Braut glücklich zu fühlen, bis dies Glück durch einen Umstand gestört wurde, den wir nicht kennen; doch werden wir kaum fehlgehen, wenn wir ihn nicht mit Molesworth in Verbindung bringen. Nun wünscht sie die Brautschaft aufzulösen, aber ihre Mutter, an die sie sich wendet, sagt ihr, es sei zu spät. Einem unverständlichen Drange folgend, verläßt sie ihr Elternhaus drei Tage vor der festgesetzten Hochzeit, mit Hinterlassung des bestimmten Versprechens, rechtzeitig wieder zurück zu sein und den Ehebund zu schließen. Der Hochzeitstag kommt heran, ihre Rückkehr verzögert sich auf unbegreifliche Weise – aber noch ist der Tag nicht vorüber, und als ich sie um zwei Uhr sah, hatte sie noch sechs Stunden vor sich. Lag es damals in ihrer Absicht, Wort zu halten? Wir wissen es nicht. Aber sie war freudig erregt und erwartungsvoll; ganz wie ein Mädchen, das im Begriff steht, sich mit einem ihrer würdigen Manne zu vermählen, den sie achtet und liebt. Nun erscheint ein Fremder. Sie hat eine lange Unterredung mit ihm, und die Folge derselben ist eine gänzliche Veränderung ihres Wesens, die auf einen Umschwung in allen ihren Plänen schließen läßt. Wir erfahren, daß zwar eine Hochzeit stattfinden soll, aber der Name des Bräutigams ist ein anderer, und die Feier soll in demselben Gemach vor sich gehen, in welchem sie sich soeben ihrer Verzweiflung hingegeben hat. Was läßt sich daraus schließen? Gewiß mancherlei; aber mir drängt sich vor allem der Gedanke auf, daß Fräulein Gretorex in ihrem innersten Herzen den Mann liebt, welchen sie zu fliehen scheint. Vielleicht glaubt sie irgendeiner falsch verstandenen Pflicht genügen zu müssen und geht deshalb diese neue und überraschende Verbindung ein. Wenn dem so ist –
Dem sei wie ihm wolle, entgegnete der Doktor kalt, für mich ist sie in jedem Fall verloren.
Er liebt sie nicht, dachte der Detektiv; dann fuhr er fort: Sie geht einem traurigen Geschick entgegen. Eine Heirat, die auf solche Weise und unter so geradezu schimpflichen Umständen zustande kommt, setzt die junge Dame nicht nur in ihren eigenen Augen herab, sondern verstößt sie auch für immer aus der Gemeinschaft ihrer Verwandten und Freunde, aus allem Verkehr mit ihrer bisherigen Welt. Ihr Unglück ist besiegelt, wenn wir die Trauung nicht verhindern. Ihre Mutter ist die einzige Person, die hier noch Rat und Hilfe schaffen und der Sache Einhalt tun kann, da Sie sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlen – und zu ihrer Mutter eilen wir jetzt.
Des Doktors finstere Miene hellte sich nicht auf.
Sie haben recht, sagte er; teilen Sie Frau Gretorex so schnell wie möglich mit, in welcher Lage sich ihre Tochter befindet. Aber weshalb soll ich dabei zugegen sein?
Damit kein Schatten auf Ihren guten Namen fällt. Sie werden zur Trauung mit Fräulein Gretorex um acht Uhr erwartet. Wenn die Braut »zu krank« ist und die Feier daher nicht stattfinden kann, so wird die Welt Sie wegen dieses Mißgeschicks höchlichst bedauern. Wenn Sie aber nicht an Ort und Stelle sind –
Er hielt inne; des Doktors ganzes Wesen war auf einmal wie umgewandelt.
Schnell, schnell, rief er, damit wir noch zur rechten Zeit eintreffen, ich gebe alles darum, wenigstens meine Ehre zu retten.
Jetzt war es Kameron, der den Kutscher antrieb und zuerst aus dem Wagen sprang, um die Treppe zu dem Perron der Stadtbahn hinaufzueilen.
Es traf sich glücklich, daß ein Zug zur Abfahrt bereit stand, und als die beiden im Wagen saßen, atmeten sie erleichtert auf. In fünfundzwanzig Minuten konnten sie die 125. Straße erreichen, in fünfzehn Minuten quer durch die Stadt fahren und eine Viertelstunde später am Hause anlangen. Das waren fünfundzwanzig Minuten, und es fehlte noch eine Stunde und vierzig Minuten bis acht Uhr. Dann galt es, Frau Gretorex schleunigst von der kritischen Lage ihrer Tochter zu unterrichten; denn vor neun Uhr mußte sie ja bei ihr im Hotel sein. Ließ sich das bewerkstelligen? Die ruhige Zuversicht des Detektivs ließ keinen Zweifel an der Ausführbarkeit des Planes.
Es können jedoch Unfälle eintreten, die jede Berechnung zu schanden machen. Eben bemerkten sie noch mit Befriedigung, wie schnell ihre Fahrt von statten gehe, da erfolgte ein plötzlicher Stoß, und der Zug stand still. Die Ursache ward schnell bekannt: die Maschine war defekt geworden, und so mußte man zwischen zwei Stationen so lange halten, bis dem Uebelstand abgeholfen werden konnte.
Gryce und Kameron sahen einander entsetzt an: mindestens eine halbe Stunde Aufenthalt! Selbst wenn es ihnen gelang, um acht Uhr das Haus zu erreichen, so war es doch fast unmöglich, daß Frau Gretorex noch bis neun Uhr in dem Hotel sein und die Heirat ihrer Tochter verhindern konnte. Das Schicksal derselben war also besiegelt und zwar durch eine höhere Hand, der gegenüber sie ohnmächtig waren. Kameron fühlte sich bei diesem Gedanken tief ergriffen. Wie er Doktor Molesworth kannte, glaubte er nicht, daß ihr Los an seiner Seite ein glückliches werden könne. Jener stand völlig außerhalb der Welt, der sie angehörte; wie sollte ihr stolzes Gemüt seine schroffe Art und Weise, sein rauhes Wesen ertragen? Im Geist sah er sie mit all ihren vornehmen Neigungen, ihrer feinen Bildung, unauflöslich an diesen strengen, verschlossenen, barschen Mann gekettet, der bei drückender Mittellosigkeit, von Ehrgeiz getrieben, nichts kannte als seinen eigenen engen Gesichtskreis, der ihm jeden freien Ausblick verschloß. Kameron empfand Mitleid mit der Betörten. Nicht jenes Mitleid, das der Liebe verwandt ist. Lieben konnte er das Weib nie mehr, das seinem Stolz eine so tiefe Wunde geschlagen; jeder Keim seines Gefühls war in seinem Herzen erstickt. Und doch erkannte er klarer als je zuvor, wie schön sie war, wie reizend und fesselnd in ihrer ganzen Erscheinung. Erst jetzt wußte er, wie begehrenswert sie sei, nun er sie für immer verloren. Deutlich stand sie ihm vor der Seele – nicht das verzweifelte, fassungslose Weib, das er in jenem verhaßten Moment durch den Vorhang erspäht – nein, die Genofeva, wie er sie bei seinem letzten Besuch gesehen. Damals hatte er in ihrem schüchternen, fast flehenden Blick, in ihrem bestrickenden Lächeln ein innigeres Gefühl zu lesen gemeint, und dies Bild war unauslöschlich in seine Erinnerung eingegraben. Stets sah er ihr Gesicht vor sich wie in jenem Zimmer und er vermochte es nicht aus seinen Gedanken zu bannen.
Um sich zu zerstreuen, stand er vom Sitze auf, trat auf die Plattform, sprach mit verschiedenen ängstlichen Mitfahrenden, mit dem Zugführer – vergebens! Während der endlos langen Wartezeit war er kaum imstande, sich zu vergegenwärtigen, daß er nicht als glücklicher Bräutigam einem fröhlichen Hochzeitsfest entgegenfahre, daß ihn kein ehrenvoller Empfang, kein Gruß der Liebe erwarte. Was er auch tat und sprach, überall schwebte ihm jenes entzückende Bild vor Augen, und die schrecklichen Ereignisse der letzten Stunden erschienen ihm wie ein unheimlicher, wüster Traum.
Während der ganzen Zeit hatte Gryce mit keinem Wort das Schweigen gebrochen. Erst als sich der Zug endlich in Bewegung setzte, fand er die Sprache wieder.
Fünfunddreißig Minuten verloren, bemerkte er, das ist freilich schlimm. Jetzt müssen uns die Götter günstig sein, damit wir noch unser Ziel erreichen. Lassen Sie uns an die Wagentür treten, wir können dann gleich hinaus – jede Sekunde ist kostbar!
Kaum hielt der Zug an der 125. Straße, so war auch Gryce schon aus dem Wagen und die Treppe der Hochbahn hinunter, Kameron folgte, und in atemlosem Lauf gelangten sie an die Bahn, welche die Stadt durchkreuzt. Sie fanden sofort Anschluß und stiegen richtig um dreiviertel auf acht an der St. Nikolaus-Avenue aus. Nur noch eine kleine Strecke zu Fuß, und sie hatten das Haus erreicht. Da rollte ein Wagen an ihnen vorüber.
Großer Gott! keuchte Kameron, ist das ein Hochzeitsgast?
Ein zweiter Wagen folgte, ein dritter, immer neue kamen auf der Straße einhergefahren.
Der kalte Schweiß trat dem Doktor auf die Stirn. Himmel, daran habe ich gar nicht gedacht, stöhnte er.
Es war kaum anders zu erwarten, entgegnete der Detektiv. Bis zuletzt haben die Eltern auf die Rückkehr der Tochter gehofft, es war daher unmöglich, die Gäste noch zu benachrichtigen, daß die Hochzeit nicht stattfinden könne. Alle Vorbereitungen müssen getroffen worden sein.
Entsetzlich! murmelte der Doktor und blieb stehen, als sei er außer stande, einen Schritt vorwärts zu tun. Doch überwand er die augenblickliche Schwäche und folgte seinem voraneilenden Begleiter.
Unterdessen fuhren die Wagen einer nach dem andern in langer Reihe vor, die Insassen stiegen aus, die Türen wurden zugeschlagen. Alles schien im besten Gange, keine Verwirrung, keine Unruhe war bemerkbar.
Was soll das heißen? rief Kameron, den Detektiv krampfhaft am Arm fassend, die Gäste treten ein, man bewillkommnet sie, das ganze Haus ist von oben bis unten erleuchtet. Mir steht der Verstand still. Hoffen denn die törichten Eltern noch immer auf ihre Rückkunft?
Gryce zog ihn schleunigst mit sich fort.
Vorwärts, rief er, halten Sie sich nicht auf. Vergessen Sie alles andere, sorgen Sie nur, daß wir unbemerkt ins Haus gelangen. Führt keine Türe durch das Souterrain?
Das wohl, aber treten wir lieber durch die Seitenpforte ein, das fällt niemand auf, dort erwartet man mich.
Sie machten sich Bahn durch die Schar der Neugierigen, die ihnen den Weg versperrten, und erreichten den Seiteneingang. Lichterglanz strahlte ihnen aus den Fenstern entgegen, alles war mit Grün geschmückt. Beim Oeffnen der Tür vernahmen sie buntes Stimmengewirr, in das sich die festlichen Klänge eines Orchesters mischten. Nicht das Festgepränge fesselte jedoch ihre Aufmerksamkeit, sondern die stattliche Gestalt des Hausmeisters, der sie mit so freudigem Willkomm begrüßte, als erwarte man sie schon mit Ungeduld. Dies erhöhte noch das Geheimnisvolle der ganzen Lage. Nur mühsam brachte Kameron die Worte heraus: Wo ist Madame Gretorex? Ich muß sie sofort sprechen.
Die gnädige Frau sind noch bei der Toilette, war des Dieners Antwort, wünschen der Herr Doktor vielleicht unterdessen auf sein Zimmer zu gehen?
Gryce trat jetzt vor: Führen Sie uns unverzüglich zu Ihrer Herrin, sagte er, und bringen Sie ihr meine Karte, die Sache hat Eile.
Damit schritt er dem erstaunten Diener voran die Treppe hinauf, ohne sich an die Verwunderung zu kehren, welche seine wenig elegante Erscheinung unter den geputzten Leuten erregte, und unbekümmert, ob der Doktor ihm folge oder nicht.
Letzterem flüsterte der Diener im Hinaufgehen zu: Die gnädige Frau hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, die Braut habe sich etwas verspätet, Sie möchten die Güte haben –
Ich kann nicht warten, unterbrach ihn Kameron, entrüstet über diesen Versuch, ihm den wahren Stand der Dinge zu verheimlichen. Bitten Sie Ihre Herrin, uns sofort vorzulassen, es ist von höchster Wichtigkeit.
Gryce kam dem Doktor im oberen Vorsaal entgegen. Dort das letzte Zimmer ist für Sie in Bereitschaft gesetzt, fügte er. Man will uns scheint's hintergehen. Es gehört wahrhaftig Mut dazu, die Sache soweit zu treiben. Wenn wir nicht Wichtigeres zu tun hätten, wäre ich wirklich neugierig darauf, wie sie alles drehen und wenden wollen und welche Ausflüchte die Mutter ersonnen hat, um den Gästen und uns Sand in die Augen zu streuen.
Daran ist jetzt nicht mehr zu denken, entgegnete der Doktor bestimmt, die Wahrheit muß ans Licht.
Gryce aber schüttelte den Kopf und versetzte, auf die Wanduhr deutend:
Wir haben noch eine Stunde vor uns. Ist die Mutter bereit, auf der Stelle mit uns zu gehen, so kann Herr Gretorex unterdessen der Versammlung drunten die Mitteilung machen, seine Tochter sei plötzlich von einer so heftigen Krankheit befallen worden, daß ihre Hochzeit am heutigen Abend unmöglich stattfinden könne. Mag man ihm glauben oder nicht, jedenfalls wird das Gerede, welches entsteht, Ihnen keinen Schaden tun. Morgen läßt sich dann der Geschichte eine Wendung geben, wie sie am besten zu dem Stand der Dinge paßt.
Ehe der Doktor noch antworten konnte, vernahm man ein Rauschen von Gewändern. In prachtvollem Samtkleid trat Frau Gretorex über die Schwelle und stand in würdevoller Haltung vor ihnen.
Wie festgewurzelt verharrten die Männer einen Augenblick an ihrem Platze und vermochten kaum die nötige Fassung zu erringen. Aus der Miene der Dame sprach weder Scham noch Verwirrung, sondern nur vornehme Zurückhaltung und stolze Höflichkeit.
Sie haben mich sprechen wollen, sagte sie zu Kameron gewandt, den Detektiv gänzlich übersehend. Meine Tochter wird gleich fertig angekleidet sein, bitte, gedulden Sie sich noch einen Augenblick; es ist gerade acht Uhr, entschuldigen Sie die kleine Verzögerung.
Ihre Tochter? stieß der Bräutigam in atemloser Hast hervor, ist sie denn hier?
Gewiß, Herr Doktor, erwiderte die Mutter mit dem schneidenden Ton verletzten Stolzes, meine Tochter ist hier; wo anders sollte sie denn sein an ihrem Hochzeitsabend? Bei diesen Worten warf sie einen vernichtenden Blick auf den Detektiv, der jedoch viel zu sehr in Staunen versunken war, um darauf zu achten.
Hier? wiederholte Kameron, den so viel Kühnheit vollständig verwirrte. Entschuldigen Sie, aber ich dachte – Sie lächelte verbindlich:
Soll ich meiner Tochter mitteilen, daß der Bräutigam bereit ist, sie zu empfangen? fragte sie mit einem vielsagenden Blick auf den Anzug des Doktors.
Kameron starrte sie stumm und hilflos an, so daß der Detektiv sich berufen fühlte, dazwischenzutreten.
Madame, sagte Gryce, Sie verzeihen, aber jeder Augenblick ist kostbar. Ich muß gerade herausreden. Ihre Tochter –
Aber Frau Gretorex war nicht gewillt, irgendwelche unberufene Einmischung zu dulden; zu dem Doktor gewandt fuhr sie fort: Meine Tochter wird Sie durch ihr Mädchen rufen lassen, sobald sie mit der Brauttoilette fertig ist. Brauchen Sie selbst vielleicht noch jemand, der Ihnen behilflich ist?
Kameron raffte sich mit Gewalt zusammen. Er ergriff die Hand der Name und sagte, sich höflich verneigend: Madame, wenn Sie auch einen Mann nicht beachten wollen, dessen Dienste Sie gebraucht haben, so werden Sie doch mir Gehör geben. Wenn Ihre Tochter sich hier im Hause befindet, so kann sie erst vor wenigen Minuten zurückgekehrt sein und in diesem Fall –
Sie sind gänzlich im Irrtum, werter Herr, unterbrach ihn Frau Gretorex; meine Tochter ist seit Mittag wieder zu Hause; sie kam mit ihrer Kousine aus Montclair zurück, als wir eben anfangen wollten, uns ihretwegen zu beunruhigen. Daß sie mit ihrer Toilette noch nicht fertig ist, hat einen ganz anderen Grund; ich glaube, ihr Schleier mußte noch einmal gesteckt werden.
Des Doktors Erstaunen war grenzenlos.
Ist es denn Wahrheit, was Sie reden? fragte er. Wie kann Ihre Tochter seit Mittag hier im Hause sein, da ich Sie noch vor einer Stunde im C-Hotel gesehen habe? Sie wollen mich hintergehen. Obgleich ich Ihre Tochter von Grund meines Herzens bemitleide, kann ich sie doch nicht heiraten. Diese späte Rückkehr zu ihrer Pflicht ist nur ein neuer Beweis für ihr verstecktes, doppelzüngiges Wesen.
Jetzt war die Reihe, sich zu entsetzen, an Frau Gretorex. Sie starrte den Doktor au, als habe er den Verstand verloren und trat dann zornglühend auf Gryce zu.
Das ist Ihr Werk, rief sie entrüstet. Sie sind weiter gegangen, als Sie sollten. Haben Sie meine Depesche nicht erhalten?
Nein, gnädige Frau.
Ich habe Ihnen sofort nach der Rückkehr meiner Tochter telegraphiert. Die Sache hatte sich sehr einfach und zu allgemeiner Befriedigung aufgeklärt; es lohnte nicht mehr, ein Wort darüber zu verlieren. Sie haben aber gerade am unrechten Orte geschwatzt, während ich Ihnen Schweigen anempfahl; durch Ihre Schuld ist das Lebensglück meiner Tochter bedroht und ihr guter Ruf geschädigt. Sie haben ein Unrecht begangen, das sich nicht wieder gut machen läßt, ich werde es Ihnen nie verzeihen. Damit ließ sie den Detektiv verblüfft stehen, wandte sich zu Kameron und sagte:
Ihre Behauptung, daß Sie meine Tochter vor einer Stunde gesehen haben, ist mir unverständlich. Sie kann unmöglich begründet sein, da Genofeva nach ihrer Rückkehr heute mittag das Haus nicht mehr verlassen hat. Was aber das versteckte Wesen betrifft, über das Sie klagen, so müssen Sie wissen, daß meine Tochter sich durch die vielen Aufregungen und Vorbereitungen der letzten Zeit in ihrer Gesundheit ernstlich angegriffen fühlte. Sie hoffte, sich bei vollständiger Ruhe wieder zu erholen und kam plötzlich auf den Einfall – den sie jetzt mit uns aufrichtig bedauert – nach Montclair zu gehen, ohne jemand von ihrer Absicht in Kenntnis zu setzen. Sie hat jedenfalls ihren Zweck erreicht, denn noch nie sah ich sie so frisch und blühend, so ganz würdig, Ihre Lebensgefährtin zu werden, als in diesem Augenblick, da Sie zögern wollen, ihr die Hand zu reichen.
Statt aller Antwort wandte sich Kameron an den Detektiv.
Ist es denn möglich, daß ein Irrtum vorliegt und wir wirklich eine andere gesehen haben?
In zwei Minuten sollen Sie Gewißheit erhalten, sagte Gryce und war verschwunden.
Der Doktor verharrte regungslos und brachte kein Wort über die Lippen. Er brauchte nicht lange zu warten. Schon erschien der Detektiv wieder, machte der Dame des Hauses eine tiefe Verbeugung und flüsterte Doktor Kameron zu: Abermals ein Fall vermeintlicher Identität; alles verhält sich so, wie Frau Gretorex behauptet. Sie haben sich getäuscht und mich zum Narren gemacht; ich kann meinen Verdruß darüber nicht anders los werden, als indem ich mich schleunig entferne.
Kameron erwiderte nichts; er war außer sich vor Freude. So waren denn alle die entsetzlichen Begebenheiten der letzten vier Stunden nichts gewesen als ein leeres Possenspiel! Seine Heirat war gesichert, seine Braut fleckenlos; kein Molesworth in ihrer Vergangenheit, keine Furcht vor Eifersucht in der Zukunft. Er hätte Frau Gretorex's Knie umfassen mögen vor Zerknirschung; er stammelte Entschuldigungen, aber Worte vermochten seine Gefühle nicht auszudrücken. Er brannte vor Ungeduld, seine schöne Braut zu sehen, strahlte vor Glückseligkeit und geberdete sich wie ein Mensch, der plötzlich aus dem Abgrund der Verzweiflung auf den Gipfel der Wonne und des Entzückens versetzt worden ist.
Die Mutter, welche wohl begreifen mochte, was in seinem Innern vorging, lächelte nur und fragte, ob er sich umkleiden wollte. Dies brachte den Doktor schnell zur Besinnung.
Ich war freilich auf das festliche Ereignis weder gefaßt noch vorbereitet, entgegnete er errötend. Die Hochzeitsgesellschaft wird warten müssen, bis ich nach meinem Frack geschickt habe.
Frau Gretorex rief einen Diener herbei, dem sie die nötigen Befehle erteilte.
In einer halben Stunde, sagte sie, kann das Fehlende hier sein; das Orchester wird unterdessen spielen, um die Gäste zu unterhalten.
Sie können ihnen der Wahrheit gemäß mitteilen, ich sei durch einen Eisenbahnunfall aufgehalten worden. Vertreiben Sie ihnen die Zeit so gut es geht, und mir gönnen Sie den Anblick meiner Braut, nach welchem ich schmachte, rief Kameron erfreut.
Sie Ungeduldiger, versetzte die Mutter sichtlich erleichtert, ich will sehen, ob sich Ihr Verlangen erfüllen läßt.
Bald darauf erschien ein zierliches Kammermädchen lächelnd an des Doktors Zimmertür.
Das gnädige Fräulein ist fertig angekleidet, lispelte sie, und will den Herrn einen Augenblick sprechen, wenn er es wünscht. Sie deutete auf eine Tür am andern Ende des Vorsaals, und Kamerun folgte der Weisung. Ihm brannte das Herz, ob vor Liebe oder wiedererwachtem Stolz, er wußte es selbst nicht. Wenige Schritte, und er stand vor dem bezeichneten Gemach, dessen Tür nur angelehnt war. Als er die hohe, anmutige Gestalt von dem glänzenden Gewande, dem duftigen Schleier umflossen erblickte, da schlugen seine Pulse schneller, und es hätte des lieblichen Lächelns kaum bedurft, mit dem sie ihn begrüßte, um ihn in das höchste Entzücken zu versetzen.
Ich habe Sie warten lassen, flüsterte sie, während er durch den Schleier hindurch ihr in die strahlenden Augen blickte und wie geblendet von ihrer Schönheit vor ihr stand. Jetzt bin ich fertig, aber Mama sagt, Sie seien es noch nicht. Sie böser Mann – bei Ihren Kranken in der Stadt herumzufahren, statt nur an Ihre Braut zu denken.
Er lachte beglückt. Waren sie beide denn noch dieselben Menschen, wie eine Woche zuvor? Er murmelte ein zärtliches Schmeichelwort, das sie hold erröten machte, und war eben im Begriff, ihrem Winke zu folgen und sich zurückzuziehen. Da sah er plötzlich, wie ihr Blick erstarrte und ihre Züge einen Ausdruck des Schreckens annahmen. Unwillkürlich wandte er sich, um nach der Ursache dieser jähen Furcht zu forschen. Im Vorsaal war nichts zu sehen, ganz und gar nichts. Nur eine Person mit einer kleinen Handtasche am Arm, eine Putzmacherin oder dergleichen, stand in Mantel und Schleier wartend da, um eingelassen zu werden.
Betroffen über die Leichtigkeit, mit welcher er heute aus einer Stimmung in die andere geriet, wollte sich Kameron eben wieder seiner Braut zuwenden, um sich von der Grundlosigkeit seiner Besorgnis zu überzeugen, als die Zimmertür, die bis dahin offengestanden, sich leise schloß. Er sah sich allein, mit einer neuen Furcht im Herzen, deren schriller Mißton wenig zu den festlichen Klängen des Hochzeitsmarsches stimmte, welche nun bald erschallen sollten.