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Zweites Kapitel.

Ich fange an alt zu werden, erzählte Gryce, und habe meine Schwächen. Doch gibt es noch immer Sachen, die man nur mir allein anvertraut, solche nämlich, bei denen die Ehre angesehener Leute auf dem Spiele steht. Daher nahm es mich nicht wunder, als ich vor drei Tagen zu einer Dame, sagen wir Frau A., gerufen wurde, wegen eines Geschäfts, das die strengste Verschwiegenheit erforderte. Ich beeilte mich, dem Ruf Folge zu leisten, denn Frau A. ist eine hochangesehene Dame, und ihr Mann besitzt Einfluß in weiten Kreisen.

Frau A. hatte meine Ankunft bereits sehnlich erwartet und teilte mir sofort mit, was sie bekümmerte.

Sie sehen mich in einem schwierigen Dilemma, Herr Gryce, sagte sie, es hat sich in meiner Familie ein Vorfall zugetragen, der uns möglicherweise in Schmach und Schande stürzen kann. Ich brauche Ihre Hilfe, um zu entscheiden, ob unsere Furcht begründet ist oder nicht. Ist letzteres der Fall, so werden Sie vergessen, daß Sie jemals in dieses Haus gerufen worden sind.

Ich verbeugte mich, im stillen begierig, die Ursache ihrer ungewöhnlichen Erregung zu erfahren. Einen Sohn, der ihr durch seine Ausschweifungen Sorge machen konnte, besaß sie nicht, und ihr Mann war über jeden Verdacht erhaben. Die Dame ließ mich nicht lange im Dunkeln.

Ich habe eine Tochter, Herr Gryce, sagte sie, es ist unser einziges Kind, das wir immer zärtlich geliebt haben. Hier blickte sie sich ängstlich um, als fürchte sie, belauscht zu werden; sie hat uns verlassen, fuhr sie fort, aber nur wenige Leute im Hause wissen darum; sie ging fort, ohne zu sagen wohin – plötzlich, auf unbegreifliche Weise, nur die notdürftige Erklärung ihres Schrittes hinterlassend – und – und –

Aber gnädige Frau, unterbrach ich sie, wenn sie überhaupt eine Erklärung zurückgelassen hat, so – –

Frau A. nahm einen kleinen zerknitterten Zettel aus der Tasche und reichte ihn mir.

Dieser Brief kam durch die Post, sagte sie. Ich hätte meiner Tochter keine verständige Bitte versagt, wäre sie zu mir gekommen, denn ich war daheim, als sie das Haus verließ.

Rasch hatte ich die wenigen Zeilen durchflogen; sie lauteten:

»Liebe Mutter!

Ich brauche Ruhe. Deshalb gehe ich auf einige Tage fort, werde aber am 27. wieder zurück sein. Mache Dir keine Sorge,

Deine Dich liebende –,«

Nun? fragte ich, was ist denn so ungewöhnlich hierbei? Sie sagt, sie werde am 27. zurücksein, und heute ist erst der 24.

Nie zuvor, erhielt ich zur Antwort, ist meine Tochter von uns gegangen, ohne zuvor unsere Erlaubnis einzuholen. Der Augenblick könnte auch nicht schlechter gewählt sein. Die Einladungskarten zu ihrer Hochzeit, die am 27. stattfinden soll, sind bereits abgeschickt.

Gryce hielt plötzlich inne – Doktor Kamerun war erschreckt emporgefahren.

Kein Wunder, daß Sie Anteil daran nehmen, bemerkte der Detektiv in trockenem Tone, da Ihre eigene Hochzeit so nahe bevorsteht.

Der Doktor hatte sich schon wieder gesetzt; er wandte den Kopf vom Lichte ab, bemüht, seiner Erregung Herr zu werden, während Gryce fortfuhr:

Noch schien mir kein Grund für Frau A.'s verzweifelte Angst vorzuliegen; ich erkundigte mich daher, ob sie glaube, daß ihre Tochter das Haus verlassen habe, um der bevorstehenden ehelichen Verbindung zu entfliehen.

Ich weiß nicht, was ich denken soll, erwiderte sie trostlos, meine Tochter ist seit einiger Zeit völlig verändert. Auch meinem Mann ist es aufgefallen. Wir hatten jedoch keine Ahnung, daß sie etwas so Schreckliches beabsichtige. Wohin sie nur gegangen ist? Was wird aus ihr werden? Was sollen wir der Welt sagen? Wie können wir es ihrem Bräutigam mitteilen?

Sie glauben also –

Daß sie an vorübergehender Geistesstörung leidet; die Aufregungen der letzten Wochen mögen schuld daran sein. Es wird am Ende nichts übrig bleiben, als zu warten, ob sie zu ihrem Hochzeitstag zurückkommt.

Hierauf wußte ich nur eine Erwiderung: Warum ziehen Sie ihren Bräutigam nicht ins Vertrauen, teilen ihm Ihre Besorgnis mit und versichern sich seines Beistandes, um sie aufzusuchen?

Die Antwort auf diese Frage überraschte mich:

Unser und sein Stolz verbieten das, erwiderte die Dame. Bei derartigen Erklärungen würde sicher manches zur Sprache kommen, was für ihn ebenso demütigend wäre wie für uns. Zudem ist die Lage vielleicht weniger verzweifelt, als wir meinen. Die Möglichkeit, daß sie wirklich rechtzeitig zurückkehrt, ist ja nicht ausgeschlossen. Wir müßten dann zeitlebens bedauern, uns ihm gegenüber auf Bekenntnisse eingelassen zu haben.

Seit wie lange ist Ihnen denn schon die Veränderung im Wesen Ihrer Tochter aufgefallen? fragte ich.

Erst seitdem die letzten Vorbereitungen zur Hochzeit getroffen wurden. Mich wundert, daß ihr Bräutigam nie eine Bemerkung darüber hat fallen lassen; denn gerade ihm gegenüber benahm sie sich am seltsamsten. Seit Wochen gewährte sie ihm jede Zusammenkunft nur wie eine besondere Gunst, ja sie weigerte sich sogar in den letzten Tagen mehrmals geradezu, ihn zu empfangen.

Und welche Gründe gab sie dafür an?

Ermüdung, Verstimmung, einen dringenden Brief, eine Schneiderin, die nicht warten dürfe – die erste beste Ausrede, die ihr einfiel.

Dennoch wurden die Vorbereitungen zur Hochzeit fortgesetzt?

Freilich, und die Einladungen herumgeschickt!

Der Ton der letzten Worte gab mir zu denken. Frau A. galt für herablassend, menschenfreundlich, wohltätig, aber sie war eine Weltdame. Ein Verstoß gegen gesellschaftliche Sitte und Herkommen schien ihr ein Ding der Unmöglichkeit. Nachdem ihre Tochter einmal dem angesehenen Manne ihr Jawort gegeben, war dies in ihren Augen unwiderruflich, da sie sich außer stande fühlte, das Gerede und Aufsehen zu ertragen, welches ein Bruch nach sich ziehen mußte. Dies erwägend sagte ich:

Wenn ich Ihnen in Ihrer Bedrängnis beistehen soll, müssen Sie mir gegenüber vollkommen offen sein. Hat Ihre Tochter je den Wunsch ausgesprochen, die Verlobung rückgängig zu machen?

Sie hat einmal gefragt, erwiderte Frau A., ob es zu spät dazu sei. Hierauf konnte ich ihr nur eine Antwort geben, und sie hat nie wieder etwas davon erwähnt. Aber, fügte die unglückliche Mutter schnell hinzu, das war nur eine geistige Verirrung. Sie hat nichts an ihrem Bräutigam auszusetzen – ist durchaus nicht gegen ihn eingenommen.

Nur gegen die Ehe? fragte ich.

Ohne Zweifel.

Und Sie glauben, daß sie den Mann liebt, den sie heiraten soll?

Die Antwort erfolgte zögernd: Als er ihr seinen Antrag machte, war sie beglückt.

Glauben Sie, daß sie einen andern liebt? fragte ich kühn.

Die Mutter schrak entsetzt zurück. O nein, sagte sie, sicherlich nicht. Wie wäre das möglich? In unserm ganzen Bekanntenkreise kommt ihm keiner gleich.

Dies war für den betreffenden Herrn sehr schmeichelhaft, befriedigte mich jedoch nicht.

Mädchen haben zuweilen wunderliche Grillen, wie Sie wissen, sagte ich.

Meine Tochter ist kein junges, unerfahrenes Ding, mein Herr; sie hat sich bisher in allen Lebenslagen klug und urteilsfähig gezeigt.

Hierauf hatte ich nichts zu erwidern. Ich sah, daß Frau A. in vollem Ernst überzeugt war, ihre Tochter leide an einer Art Geistesstörung. Sie teilte mir mit, daß sie in letzter Zeit selbst den Umgang mit der Familie gemieden und sich einzig und allein mit der Sorge um ihre Garderobe beschäftigt habe. Für ihre Schneiderin war sie stets zu sprechen, fügte sie hinzu; jede andere Verabredung mußte zurückstehen, sobald es sich um die Anprobe der neuen Kleider handelte, die eins nach dem andern ins Haus geschickt wurden. Selten hat wohl eine Braut sich so eingehend mit diesen Dingen befaßt. Schon darum ist noch nicht alle Hoffnung auf ihre Rückkehr geschwunden, denn sie wird ihre neuen Kleider doch sehen wollen.

Sie hat ihre Kleider also nicht mitgenommen?

Sie hat gar nichts bei sich.

Wie, keinen Koffer?

Nichts. Das heißt, nur eine kleine Handtasche.

Woher wissen Sie das?

Wir sahen sie ja fortgehen, ganz als wolle sie Stadtbesorgungen machen.

Aber Geld hatte sie doch?

Jedenfalls nicht viel. In ihrem Pult lag ein Päckchen Banknoten. Mein Mann sagt, es sei fast die ganze Summe, die er ihr in letzter Zeit gegeben. Mehr als fünf Dollars wird sie schwerlich bei sich haben.

Dieser Punkt war nicht ohne Bedeutung. Das Mädchen wußte sich entweder zu Bekannten begeben haben oder sie hatte wirklich den Verstand verloren. Auf mein Befragen nannte mir Frau A. die Häuser, in welchen ihre Tochter zu verkehren pflegte, fügte jedoch hinzu, daß die beste Freundin ihrer Tochter sich augenblicklich in Europa aufhalte, und sie mit den übrigen Familien nicht vertraut genug sei, um sie zu solcher Zeit aufzusuchen.

Und sie hat wirklich kein Gepäck bei sich?

Nein. Bei der Durchmusterung ihrer Sachen habe ich nichts vermißt. Auch ihren Schmuck und ihre Uhr hat sie zurückgelassen.

Dies beunruhigte mich. Ich suchte in dem Blick der Mutter zu lesen, ob sie wirklich nichts Schlimmeres befürchte, als was sie mir gegenüber geäußert hatte. War sie denn blind für die so naheliegende Möglichkeit? Darüber mußte ich mir Gewißheit verschaffen.

Bei meinen Bemühungen, Ihre Tochter aufzufinden, Frau A., sagte ich, wird mir der Umstand, daß sie so wenig Geld bei sich hat, sehr zustatten kommen. Aber zuerst muß ich mich überzeugen, ob nicht eine dritte Person – männlichen Geschlechts – bei der Sache beteiligt ist. Sie sind also ganz sicher, daß sie sich nicht insgeheim für einen Unbekannten interessiert?

Ich kann Ihnen nur ihre eigenen Worte wiederholen, versetzte die arme Mutter. Als ich sie das letztemal sah (das war vorgestern abend), war sie so fieberhaft erregt und so anders als sonst, daß ich nicht umhin konnte, meine Besorgnis zu äußern, sie könne noch vor der Hochzeit erkranken. Da brach sie in ein unnatürliches Lachen aus, das mir noch in den Ohren klingt und sagte: Ich denke gar nicht daran, krank zu werden, wenigstens gewiß nicht, bis ich den Doktor geheiratet habe.

Der Detektiv schwieg einen Augenblick. Dann fragte er:

Sagte ich Ihnen bereits, daß Fräulein A.'s Bräutigam Arzt ist?

Dies war mehr, als der von Ungewißheit gefolterte Zuhörer ertragen konnte. Doktor Kameron sprang auf und rief in heftigem Ton:

Sie treiben Ihr Spiel mit mir! Es handelt sich um meine eigene Braut, und Sie wickeln hier vor mir eine endlos weitläufige Geschichte ab! Alles, was ich zu wissen begehre, ist, ob ich meine Braut zur bestimmten Zeit am Altar finde oder das Opfer eines öffentlichen Skandals werden soll, der meine ganze spätere Laufbahn schädigen muß. Jetzt ist es halb fünf Uhr, um acht –

Ich weiß es, unterbrach ihn der andere, aber mein Name ist Ebenezer Gryce; »Eile mit Weile«, ist mein Wahlspruch. Habe ich Ihre Zeit in Anspruch genommen, um meine Geschichte zu erzählen, so geschah dies nur, weil –

Aber des Doktors Geduld war zu Ende.

Nur eines sagen Sie mir, rief er aus: ist Fräulein Gretorex in ihr Elternhaus zurückgekehrt, ja oder nein?

Nein, war die Antwort.

Sie hat auch keine Nachricht gegeben?

Der Detektiv schüttelte den Kopf.

Doktor Kameron biß sich auf die Lippen, stieß dann ein heiseres Lachen aus und wandte sich nach dem Fenster.

Die Trauung wird demnach nicht stattfinden, sagte er in trockenem Ton, und ich kann den Hochzeitswagen wieder abbestellen.

Im Gegenteil, flüsterte Gryce, zu ihm herantretend, wir brauchen den Wagen sofort. Bis er hier ist, hören Sie meine Geschichte zu Ende.

Wollen Sie mich noch länger auf die Folter spannen? Gut, es sei, ich ergebe mich. Sagen Sie, was Sie wissen und wohin Sie mich führen wollen!

Nach dem C-Hotel, entgegnete der andere und drückte auf die elektrische Klingel.

Eine schöne Fahrt an meinem Hochzeitstage. Und der Zweck?

Dort befindet sich eine Person, die sich Mildred Farley nennt und täuschend aussieht, als wäre sie das Original des Bildes über Ihrem Kaminsims.

Den Doktor überlief es kalt.

Ist es das wirkliche Original? fragte er.

Wenn ich das wüßte, bedürfte ich Ihrer nicht. Ich würde dann mit Frau Gretorex hinfahren.

Und weshalb tun Sie das nicht so wie so?

Das Erscheinen einer so stadtbekannten Persönlichkeit in dem Hotel am Hochzeitstag ihrer Tochter würde Aufsehen erregen. Bei Ihnen ist das etwas anderes. Sie sind Arzt; Ihre Anwesenheit erweckt nirgends Argwohn. Ich verschaffe Ihnen Gelegenheit, die junge Dame zu beobachten, ohne von ihr gesehen zu werden.

Und wenn sie wirklich die Fremde ist, für die sie sich ausgibt?

So fahren Sie so schnell als irgend möglich nach dem Hochzeitshaus, in der sichern Voraussicht, dort Ihre Braut zu begrüßen.

Doktor Kameron zauderte nicht länger.

Der Wagen war bestellt, und während des Wartens beendete der Detektiv seinen Bericht. Reden Sie nur, sagte der Doktor, ich kann jetzt zuhören. Das Schlimmste weiß ich ja.

Es scheint, daß Frau Gretorex zu dem Scharfsinn der Polizei ein ganz unbegrenztes Vertrauen hegt, begann Gryce wieder, sonst hätte sie schwerlich glauben können, daß die Auskunft, die ich von ihr erhalten, mir die Erfüllung meiner Aufgabe binnen drei Tagen ermöglichen würde. Lief doch alles, was ich wußte, darauf hinaus, daß ihre Tochter das Haus verlassen hatte, ohne Gepäck mitzunehmen. Um nicht auf eine falsche Fährte zu geraten und die so kostbare Zeit zu verlieren, ließ ich mir vor allem die Photographie der jungen Dame einhändigen und bat um Erlaubnis, auch bei der Dienerschaft Erkundigungen einziehen zu dürfen.

Aber, rief die geängstigte Mutter, niemand im Hause ahnt etwas davon, daß meine Tochter sich ohne Wissen und Willen ihrer Eltern entfernt hat. Sobald die Dienstboten ins Vertrauen gezogen werden, ist das Geheimnis schon so gut wie verraten.

Ich werde meine Fragen so einzurichten wissen, daß kein Mensch ihren wahren Zweck argwöhnen soll.

Die Dame sah mich mit seltsamem Blicke an. Eine Dienerin, sagte sie, ist kürzlich aus dem Hause entlassen worden. Es geschah auf Wunsch meiner Tochter, welche eine Abneigung gegen die Person gefaßt hatte. Ich selbst hatte nichts gegen sie und war mit ihrer Arbeit zufrieden; bei dem reizbaren Gemütszustand meiner Tochter schien es mir jedoch besser, ihr den Willen zu tun. Vielleicht könnten Sie sich an dieses Mädchen wenden.

Hier schien sich eine Handhabe zu bieten. Gab denn Ihre Tochter Gründe für ihre Abneigung an? fragte ich.

Nichts Erhebliches; sie meinte, es sei eine neugierige, zudringliche Person; wahrscheinlich hatte sie sich zuviel mit der Aussteuer ihrer jungen Herrin zu schaffen gemacht, entgegnete Frau Gretorex; ihr Ton ließ deutlich erkennen, eine Dienerin könne unmöglich etwas über den Aufenthalt ihrer stolzen Tochter wissen, was ihr, der Mutter, verborgen geblieben. Auf mein Verlangen erhielt ich jedoch das Mädchens Adresse und begab mich in die bezeichnete Wohnung, nachdem alle übrigen polizeilichen Vorkehrungen getroffen waren.

Es wäre unnötig, Ihnen weitläufig über meine Unterredung mit der Dienerin zu berichten. Sie verlief wie tausend andere, die ich bei ähnlichen Gelegenheiten gehabt. Ohne es selbst gewahr zu werden, plauderte sie alles aus, was sie über Fräulein Gretorex wußte und vieles andere, was nicht zur Sache gehörte. Ihr Geschwätz drehte sich hauptsächlich um ein Mädchen, welches häufig ins Haus kam, um für ihre Herrin zu nähen; ich mußte es wohl oder übel mit anhören, um den einen wichtigen Umstand zu erfahren, den sie mitzuteilen hatte, daß sie nämlich einmal die junge Dame beim Briefschreiben überrascht habe. Diese sei rot vor Zorn über die Störung geworden, habe die Dienerin heftig gescholten und ihr mit der Entlassung gedroht, die denn auch später erfolgte. –

Und der Brief? fragte Doktor Kameron, der sich vergeblich mühte, äußerlich ruhig zu erscheinen.

Er war nur eben begonnen: »Mein geliebter D–« war alles, was das Mädchen lesen konnte. Vielleicht an den künftigen Ehegatten gerichtet, wer weiß?

Höchst wahrscheinlich, lautete des Doktors spöttische Erwiderung.

Der Detektiv wußte genug. Also nicht an den künftigen Gatten, sagte er ernst. Auch sonst ist unter ihren Bekannten keiner, dessen Namen diesen Anfangsbuchstaben trägt. Dies bestärkte mich in meiner ursprünglichen Vermutung, daß nämlich bei Fräulein Gretorex's Verschwinden eine dritte Person die Hand im Spiele habe. Ich traf meine Maßregeln danach, schickte eine genaue Beschreibung ihrer Person und Kleidung an die verschiedensten Orte, ließ überall nach ihr forschen und alle ihre Freunde ausfragen. Sogar hier in Ihrem Sprechzimmer, Herr Doktor, hat ein Geheimpolizist eine halbstündige Unterredung mit Ihnen geführt, ohne daß Sie eine Ahnung hatten, was sein eigentlicher Zweck sei. Alle Bemühungen schienen jedoch fruchtlos bleiben zu sollen. Da erhielt ich am heutigen Morgen die Nachricht, daß eine Person, auf welche meine Beschreibung paßt, in einem gewissen Speisehaus zu Mittag gegessen und sich dann nach dem C-Hotel begeben habe, wo sie in Zimmer 153 zu finden sei. Eine halbe Stunde später war ich dort und fünf Minuten darauf hatte ich sie gesehen.

Und war es – war es – stammelte der Doktor.

Ich sagte Ihnen schon, daß ich das Original jenes Bildes zu sehen glaubte, bemerkte Gryce. Doch kann ich nicht darauf schwören, daß es Fräulein Gretorex ist. Sie trägt wohl die Züge der verschwundenen Braut, aber ihre Kleidung ist nicht ganz dieselbe, in welcher das Fräulein ihr Elternhaus verlassen haben soll. Ein alter Praktikus, wie ich, legt Gewicht auf dergleichen Unterschiede. So steht z. B. in der Beschreibung: » ein feines blaues Tuchkleid mit schwarzer Borte besetzt«; nun hat jene Person zwar ein blaues Kleid an, aber von grobem Stoff und ohne schwarze Borte. Auch trägt sie eine Uhr, und wir wissen, daß Fräulein Gretorex die ihrige zurückgelassen hat. Indessen, fuhr er fort, als sähe er Doktor Kamerons Miene sich erhellen, während er doch nach einer ganz andern Richtung blickte, die Kleidung läßt sich leichter verändern als das Gesicht. Für die kleinen Abweichungen von der Beschreibung weiß ich zwar noch keine Erklärung, aber nach meiner Ueberzeugung ist die Person im Zimmer 153 des C-Hotels die Dame, welche wir suchen. Mit Ihrer Hilfe werden wir bald Gewißheit darüber erlangen.

Wenn aber, sagte der Doktor mit finsterem Blick, jener Dritte, von dem Sie sprachen, die Hand im Spiele hat –

Der Wagen ist da! rief Gryce. Er erhob sich entschlossen, und der Doktor folgte ihm ohne Widerrede.


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