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Ein viereckiges, düsteres Gemach mit zwei trüben Fenstern, die auf eine hohe Backsteinmauer hinausgehen; ein großer Tisch, der mit Flaschen und Kolben, Kasten voll Instrumenten, Schreibmaterial und Büchern bedeckt ist, ein Roßhaarsofa nebst zwei Stühlen, ein abgenützter Teppich, eine rauchgeschwärzte Zimmerdecke; hell und freundlich nur das knisternde Kohlenfeuer im Kamin; diesem gegenüber die ernste, unbewegliche Gestalt eines Mannes, der in tiefe Gedanken versunken dasitzt. So sieht es in Julius Molesworths Arbeitszimmer aus, an diesem für ihn so denkwürdigen Tage.
Es ist das Sprechzimmer, zugleich auch Wohn- und Schlafgemach des finstern, verschlossenen Mannes, das einzige Daheim, das er sein eigen nennt. Hinten in der Ecke lehnt ein zusammengeklapptes Feldbett. Vier kahle Wände ohne jeglichen Schmuck und Zierat. Was kümmert sich ihr einsamer Bewohner um solchen Tand? Er besitzt kein Geld für die kleinen Zierden des Lebens, wenn er überhaupt Geschmack daran fände. Etwaige Erinnerungszeichen aus den schönen Händen dankbarer Patientinnen, oder bewundernder Freundinnen, nimmt er wohl mit kühler Höflichkeit in Empfang, aber nicht um sie zu bewahren. Bei erster Gelegenheit wirft er sie als lästigen Plunder ins Feuer; er mag kein Zeugnis weiblicher Schwäche in feiner Nähe dulden. Nur die Stärke des Weibes erringt seine Hochachtung.
Unter den Büchern, welche die Bretter des altmodischen Gestells am andern Ende des Zimmers nur spärlich füllen, befindet sich auch, als einziges nicht medizinisches Werk, eine Bibel, auf deren Titelblatt in kräftigen Schriftzügen von Frauenhand folgende Zeilen stehen: »Dulde Armut, Hunger, Kälte, Mangel und Entbehrung, aber führe alles durch, was Du einmal unternommen hast und strebe bei Deinen Leistungen stets bis zur höchsten Stufe.«
Es war die Bibel seiner Mutter, welche die Worte für ihren Sohn geschrieben hatte. Er liebte diese Mutter, obwohl er ihr nie eine Liebkosung gespendet, seit er kein Knabe mehr war. Ihre Worte waren der Wahlspruch seines Lebens geworden, die Summe seiner Kämpfe, seiner Erfahrungen.
In tiefem Sinnen sitzt Doktor Molesworth in seinem Zimmer. In seinen unregelmäßigen, aber ausdrucksvollen Gesichtszügen scheint sich eine geheime Furcht oder Hoffnung zu bergen; unbeweglich sitzt er da, der Mann mit dem kraftvollen Körperbau, den bartlosen Wangen, der großen, nicht unschönen Nase, den dunkeln Brauen, den zusammengepreßten Lippen, die jeder weichen Regung spotten. Seine Augen sind halb geschlossen; in diesen aber liegt seine fesselnde Gewalt; selbst jetzt leuchtet ein Strahl unter den Lidern hervor, der für empfängliche weibliche Gemüter unwiderstehlich sein könnte, nicht zärtlich, nicht geistsprühend, aber der sonst so unschönen Erscheinung eine magnetische Kraft verleihend, wie sie mancher Adonis nicht besitzt. Wer aber diesem Banne verfällt, tut dies auf eigene Gefahr. Das Wesen des Mannes selbst wirkt eher abstoßend als anziehend.
Selbst die Schönste der Schönen, ein Weib, das aller Reiz der Anmut schmückt, dürfte nicht wagen, sich unaufgefordert dem einsamen Denker zu nahen. Wenn sie ihn auch liebte und danach schmachtete, ihm schmeichelnd die dunkle Locke aus der Stirn zu streichen, die seine Brauen beschattet, sie würde nur mit bangem Zagen die Hand erheben oder seinen Namen flüstern. Allein und sich selbst genügend, ohne von außen Hilfe, Ermutigung oder Zerstreuung zu bedürfen, kämpft er gegen die bösen Geister in seiner Brust oder ruft seine guten Engel wach. Er kennt nur den einen Wunsch: seinen Beruf vollkommen zu beherrschen; nur den einen Ehrgeiz: unter allen lebenden Aerzten für den geschicktesten, den gelehrtesten, den größten zu gelten.
Danach hatte er seit seiner Knabenzeit gestrebt; um dieses Ziel zu erreichen, Kälte, Hunger und Armut ertragen, nach dem Rat seiner Mutter. Er war ohne Murren bisher gering und unbekannt geblieben, in der sichern Zuversicht, daß der Ruf, den er sich unter der armen Bevölkerung des östlichen Stadtteils erworben, sich eines Tages bis in die Kreise der Reichen und Gebildeten verbreiten werde. Dann würde dem Verdienst die Auszeichnung nicht fehlen, welche Macht und Größe im Gefolge hat.
Vielleicht war der langersehnte Tag schon näher, als er glaubte. Erst kürzlich war ihm ein besonders schwieriger und verwickelter Fall anvertraut worden, dessen erfolgreiche Behandlung Aufsehen erregen und ihn zu Ruhm und Ehre führen mußte. Ein Mißlingen war nicht denkbar; das fühlte, das wußte er. Die ausgezeichnetsten Aerzte der Stadt hatten sich zwar vergebens bemüht, diese Krankheit zu heilen, er aber hatte ein Mittel entdeckt, das gerade für diesen Fall paßte und dessen Wirkung die ganze medizinische Welt in Erstaunen setzen mußte. Freilich gehörte Mut dazu, es zu verordnen, und ein unbeugsamer Wille, die genaue Anwendung durchzusetzen, aber Molesworth besaß diese Eigenschaften in hohem Maße, und sein Eifer war so groß, daß nichts ihn dämpfen, niemand ihn an der Ausführung hindern konnte. Eine Gelegenheit, wie sie sich hier bot, kam vielleicht im Leben nicht wieder; es galt, sie kühn zu ergreifen.
War es dieser interessante Fall, über den er so eifrig nachdachte, daß er das leise Knarren der Tür überhörte? Hatte er, wie er so dem flammenden Kamin gegenübersaß, einen Entschluß gefaßt über die Art des Verfahrens, das er in Anwendung bringen wollte? Wohl möglich, denn seine Züge erhellten sich, er sprang plötzlich freudig auf, nicht als wolle er ein Geheimnis verbergen, sondern als habe er eins entdeckt.
Ja, so ist es, rief er, in kleinen, häufig wiederholten Dosen muß es gegeben werden. Ich setze mein Leben zum Pfande, daß es gelingt.
Als er das Haupt hob, erblickte er gerade vor sich in dem Spiegel, der über dem Kaminsims hing, ein ihm zugewandtes Gesicht in der offenen Tür. Es lag in der entschlossenen, ruhigen Miene des Mannes, der da so plötzlich erschienen war, ein gewisses Etwas, das dem also Ueberraschten deutlich verkündete, eine entscheidende Stunde sei gekommen. Ob darauf gefaßt oder nicht, er erkannte in diesem Augenblick, daß es mit allen seinen Hoffnungen vorbei war, daß sie schwinden würden, wie ein wesenloses Trugbild, ein blendender Schein.
Wiewohl er das Gesicht im Spiegel sah, tat er doch, als bemerke er es nicht; erst mußte er seine Fassung wiedergewinnen und zu einem Entschluß gelangen. Dann wandte er sich anscheinend verwundert, doch höflich zu dem Eintretenden.
Entschuldigen Sie, sagte er, um diese Stunde bin ich für meine Patienten nicht zu sprechen.
Ich bin kein Patient, entgegnete Gryce.
Aber Sie kommen in Geschäften. Ihr Gesicht scheint
mir bekannt, doch besinne ich mich vergebens, wo ich es schon gesehen habe.
Es handelt sich hier nicht um mein Gesicht, nur um meinen Auftrag; der läßt sich mit kurzen Worten erledigen: Ich komme als Polizeibeamter mit dem Befehl, Sie zu verhaften, Doktor Molesworth, als des Mordes von Mildred Farley verdächtig.
Der Doktor, der am Tisch gestanden hatte, griff nach einem dort liegenden Papier, las die wenigen darauf verzeichneten Worte und machte dann eine leichte Verbeugung gegen den Detektiv. Dies war seine einzige Erwiderung auf die furchtbare Ankündigung, die er soeben vernommen.
Ich bin beauftragt, Sie in Haft zu nehmen, fuhr Gryce fort. Aber, wenn Sie vorher noch eine Verfügung zu treffen haben –
Ich bitte um eine halbe Stunde Frist, entgegnete der Doktor mit Festigkeit. Ich behandle gerade einen Fall – seine Stimme zitterte, er blickte wieder auf das Papier, welches er noch in der Hand hielt und nahm am Schreibtisch Platz. Unterbrechen Sie mich nicht, sagte er, die Feder ergreifend, ich habe einige wichtige Notizen zu machen. Leben oder Tod eines armen Weibes hängt davon ab.
Schreiben Sie, war die Antwort, ich bin kein Schwätzer.
Und Molesworth schrieb, ruhig, gedankenvoll, ganz in seinen Gegenstand vertieft, während der Beobachter, welchem nichts entging, kein Auge von den Arzneigläsern auf des Doktors Tisch verwandte. »Gift!« lautete die Aufschrift des einen.
Als Molesworth seine Aufzeichnung beendet hatte, erhob er sich mit der gleichen wunderbaren Ruhe, reichte Gryce das Papier und sagte:
Für Sie ist es vermutlich unverständlich, aber jeder Arzt kann es lesen. Bewahren Sie es auf, bis ich danach verlange.
Er schrieb nun noch einige Briefe, die er sämtlich dem Detektiv zur Durchsicht übergab, ehe er sie zusammenfaltete und adressierte. Als dies Geschäft besorgt war, nahm er wieder das Wort:
Jetzt bin ich bereit, Ihnen zu folgen. Es fragt sich nur, wohin Sie mich führen wollen. Sie sagen, ich sei des Mordes verdächtig. Um solche Anklage zu rechtfertigen, müssen wohl starke Gründe gegen mich vorliegen, stärkere als das neuliche Verhör ergeben hat, sonst wäre ich schon damals festgenommen worden. Ich will diese Gründe nicht näher untersuchen, aber, da ich die Tat nicht begangen habe, deren man mich zeiht, so weiß ich, Sie handeln nur auf einen Indizienbeweis hin. Ein solcher ist aber niemals untrüglich. Mir geschieht großes Unrecht, und für meine Kranken ist Ihr Verfahren geradezu ein Unglück, das sich nicht wieder gut machen läßt. Ich weiß, Sie haben in der Sache keine entscheidende Stimme, auch will ich mit Ihnen nicht über meine Schuld oder Unschuld streiten, sondern Sie nur um eine Gunst ersuchen, im Hinblick auf den unverdienten Schaden, den ich durch Sie erleiden muß. Ich bitte Sie, mir in Ihrem Beisein eine kurze Unterredung mit einem Manne zu gestatten, den ich durchaus sprechen muß.
Und wer wäre das? fragte der Detektiv.
Ein mir bekannter Arzt, Doktor Walter Kameron, wohnhaft in der Fünften Avenue Nummer –
Nichts auf der Welt hätte Gryce mehr überraschen können, als die Nennung dieses Namens. Warum, wußte er eigentlich selber nicht, denn auch Kameron hatte ja ihm gegenüber seine Bekanntschaft mit Molesworth erwähnt. Aber die ganze Angelegenheit schien ihm dadurch plötzlich in ein neues Licht gerückt zu sein.
Doktor Kameron ist verreist, entgegnete er; er ist von seiner Hochzeitsreise nach Washington noch nicht zurückgekehrt.
Ueber das ernste Gesicht des andern flog ein Schatten.
Ich muß ihn dennoch sehen, beharrte er. Bis jetzt haben Sie mir Ihren Haftbefehl noch nicht vorgezeigt. Nehmen Sie an, ich stände nur unter polizeilicher Aufsicht, und begleiten Sie mich nach Washington! Sie werden es nicht bereuen. Dann, als sehe er wohl ein, welches törichte Verlangen er gestellt habe, fügte er hinzu: Sie können nicht ohne die Erlaubnis Ihres Vorgesetzten handeln. Nun gut, so führen Sie mich zu ihm.
Das soll geschehen; aber sagen Sie mir, was Sie bei Doktor Kameron wollen.
Ein Hoffnungsstrahl brach aus Molesworths Augen und erhellte seine Züge.
Sie würden mich kaum verstehen, und doch – hat Sie wohl je ein ehrgeiziges Streben beseelt? fragte er plötzlich, das ältliche, fast wohlwollende Gesicht des Detektivs zweifelnd betrachtend.
Gryce lächelte.
Reden Sie, als wenn dem so wäre, entgegnete er.
So hören Sie: Nur noch die Hand brauche ich auszustrecken und das Ziel meines Ehrgeizes ist erreicht. Ich behandle einen schwierigen Fall, der in der medizinischen Welt Aufsehen erregt. Die Geschicklichkeit unserer berühmtesten Heilkundigen ist daran zu schanden geworden. Ich aber habe das wirksame Mittel entdeckt, die richtige Behandlungsweise herausgefunden. Auf dem Papier, das ich Ihnen gab, ist alles verzeichnet. Nun wissen Sie, was ich, von dieser Ueberzeugung erfüllt, mit Doktor Kameron, dem begabtesten und bedeutendsten unserer jungen Aerzte, zu besprechen habe, – was ich von ihm will.
Ich glaube Sie zu verstehen, erwiderte der Detektiv, aber bitte, erklären Sie sich deutlicher.
Nun denn: jenes arme Weib, von dem ich Ihnen sagte, soll ihr Leben nicht verlieren, noch die Wissenschaft die Aussicht auf eine wertvolle Entdeckung, weil ich der Freiheit beraubt bin. Bin ich selbst auch außer stande, die erforderlichen Versuche anzustellen, so wird es mir doch Beruhigung gewähren, wenn dies an meiner Statt ein Mann übernimmt, auf dessen Urteil und Fähigkeit ich mich verlassen kann. Ich weiß nur einen, zu dem ich volles Vertrauen habe und das ist Doktor Kameron. Von ihm, der ideales Streben mit Geistesschärfe verbindet, darf ich hoffen, daß er dem unausbleiblichen Widerspruch zum Trotz ganz in meinem Sinne den Fall behandeln wird. Habe ich mich jetzt deutlich erklärt und darf ich hoffen, daß man mir willfahren wird?
Molesworth blickte dem Detektiv ängstlich forschend ins Gesicht; aber nichts verriet seine Gedanken.
Sind die Verdachtsgründe, die gegen mich vorliegen, zu stark, um eine solche Vergünstigung zu gestatten? drängte der Doktor.
Gehen wir zum Polizeiinspektor! entschied Gryce.
Molesworth verbeugte sich dankend und traf seine letzten Vorkehrungen. Als sie im Begriff waren, das Zimmer zu verlassen, berührte er des Detektivs Arm.
Dürfen Sie mir mitteilen, auf wessen Zeugnis hin ich verhaftet werde?
Das ist nicht meines Amtes, war die kurze Antwort, ich bin nicht der Mund des Gesetzes, nur sein Arm.
Der Wagen, welcher vor der Tür hielt, brachte sie nach dem Polizeibureau. Was sich dort zugetragen, braucht nicht weiter erwähnt zu werden. Eine halbe Stunde später saßen sie abermals im Wagen und fuhren nach Jersey City. Die Reise nach Washington sollte zur Wahrheit werden.
Während Gryce die Fahrkarten löste, flüsterte ihm Molesworth zu:
Um eines bitte ich noch: wir müssen den Doktor überraschen. Ich stehe nicht besonders hoch in seiner Gunst, er würde schwerlich auf meine Beweisgründe hören, wenn ihm eine andere Wahl bliebe. Versprechen Sie mir, daß Sie ihn überrumpeln wollen, wie Sie es mit mir getan.
Der Detektiv am Schalter steckte eben sein kleines Geld ein; er sah ordentlich verjüngt aus. Offenbar war ihm die bevorstehende Reise nicht unangenehm.
Das soll geschehen, sagte er, es stimmt ganz mit meinen Wünschen überein.