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Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Amy Belden.

Es war an einem trüben Apriltag, als ich zum zweitenmal in meinem Leben an der Station R. ausstieg und die breite, belebte Straße hinabschritt, welche nach dem Hotel führte. Diese beliebte New Yorker Sommerfrische rüstete sich schon für die zu erwartenden Gäste, aber ich wollte es mir dort nicht behaglich machen, sondern sofort unsern Klienten, Herrn Monell, aufsuchen, um von ihm zu erfahren, in welcher Weise man sich jener Frau Belden am besten nähern könne.

Ich hatte das Glück, ihn unterwegs in seinem leichten Wagen zu treffen, eine Begegnung, die mir außerordentlich angenehm war, da sie mir die Gelegenheit zu einer ungestörten Unterredung bot ohne die Verzögerung, welche ein Besuch in seinem Hause notwendigerweise verursacht haben würde.

»Nun, und wie geht es Ihnen denn?« fragte mich mein Freund, als wir nach den ersten Begrüßungen rasch der Stadt zufuhren.

»Wie Sie sehen, recht gut,« antwortete ich, und da ich nicht darauf hoffen durfte, seine Aufmerksamkeit auf meine Angelegenheiten zu lenken, bis ich ihn bezüglich der seinigen zufriedengestellt haben würde, so erzählte ich ihm, was ich von seiner damals anhängigen Prozeßsache wußte, und dieses Thema war so unerschöpflich, daß wir schon zweimal rund um die Stadt gefahren waren, als er sich erinnerte, daß er noch einen Brief zur Post zu besorgen habe. Da derselbe von Wichtigkeit war und keinen Aufschub duldete, begaben wir uns sofort nach dem Postamt, in welches er eintrat, während ich draußen blieb, um die ab- und zugehenden Leute zu beobachten.

Unter diesen fiel mir, – warum, kann ich nicht sagen, – eine Frau in mittlerem Lebensalter auf, deren Aeußeres eigentlich nichts Bemerkenswertes hatte; und doch setzte es mich einigermaßen in Erstaunen, als sie mit zwei Briefen, einem größeren und einem kleineren, herauskam und, meinen Blicken begegnend, dieselben schnell unter ihrem Shawl verbarg. Was stand in jenen Briefen, fragte ich mich, und wer konnte die Person sein, daß der zufällige Anblick eines Fremden sie zu einer so verdächtigen Handlungsweise veranlaßte?

Doch in diesem Augenblick gesellte sich Monell wieder zu mir und lenkte meine Aufmerksamkeit von der Frau ab. In der nunmehr folgenden Unterhaltung hatte ich sowohl sie als auch ihre Briefe ganz vergessen. Entschlossen, meinem Klienten keine Gelegenheit zu geben, noch einmal die Rede auf seinen endlosen Rechtsfall zu bringen, rief ich beim ersten Peitschenknall aus: »Ich hatte Sie doch nach etwas fragen wollen, – jetzt fällt es mir wieder ein. Kennen Sie hierorts eine Person Namens Belden?«

»Eine Witwe Belden wohnt allerdings hier; von einer andern Person dieses Namens weiß ich nichts.«

»Lautet ihr Vorname vielleicht Amy?«

»Ja, Frau Amy Belden heißt sie.«

»Das wäre das eine,« erwiderte ich. »Wer ist sie, was ist sie, und wie weit erstreckt sich Ihre Bekanntschaft mit ihr?«

»Sie ist die höchst ehrenhafte Witwe eines hier ansässig gewesenen Möbel-Schreiners und wohnt dort unten an der Straße. Wenn Sie vielleicht einem hilflosen, alten Bettler ein Nachtquartier verschaffen, oder für verlassene Kinder bestens gesorgt wissen wollen, so müssen Sie sich an jene Frau wenden. Was meine Bekanntschaft mit ihr anbelangt, so kenne ich sie ebenso wie viele alte Mitglieder unserer Kirche, die jenen Hügel dort krönt; wenn ich ihr einmal begegne, so spreche ich ein paar Worte mit ihr, das ist alles.«

»Eine ehrenhafte Witwe, sagten Sie; hat sie Familie?«

»Nein, sie lebt für sich allein und besitzt ein kleines Einkommen, wie ich glaube; sie beschäftigt sich mit Näh- und anderen Arbeiten für wohlthätige Zwecke. Aber warum in aller Welt fragen Sie mich danach?«

»Geschäftsangelegenheiten,« erklärte ich achselzuckend. »Frau Belden, – das bleibt aber unter uns, – ist in einen Prozeß verwickelt, den wir zu führen haben, und es liegt mir daran, soviel als möglich über sie in Erfahrung zu bringen. Was Sie mir soeben mitgeteilt haben, genügt mir noch nicht, und ich würde viel darum geben, wenn ich Gelegenheit hätte, sie persönlich zu beobachten, ohne daß sie von meiner Absicht etwas merkt. Könnten Sie mir nicht dazu verhelfen? Unser Geschäft würde Ihnen Dank dafür wissen.«

»Ich denke, das wird sich machen lassen. Sie pflegte im Sommer, wenn das Hotel angefüllt war, Mieter zu nehmen, und ist vielleicht zu bewegen, daß sie ein gutes Bett einem meiner Freunde giebt, der gern in der Nähe des Postamtes wohnen möchte, da er ein geschäftliches Telegramm erwartet, das er unverzüglich beantworten muß.«

Herr Monell zwinkerte bei diesen Worten schlau mit dem Auge, ohne zu ahnen, wie er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

»Das brauchen Sie ihr gar nicht vorzureden; teilen Sie ihr nur mit, daß ich eine besondere Abneigung dagegen habe, in einem Hotel zu schlafen, und daß Sie niemand wüßten, der mich für die kurze Zeit meines hiesigen Aufenthaltes besser beherbergen könnte als sie.«

»Aber wie wird man im Städtchen von meiner Gastfreundschaft urteilen, wenn ich es unter solchen Umständen erlaube, daß Sie in einem anderen Hause wohnen als dem meinigen?«

»Das weiß ich nicht,« versetzte ich, »vermutlich wird man Sie stark durchhecheln; aber ich denke, Ihre Gastfreundschaft wird diesen Angriff ertragen können.«

»Nun, wenn Sie darauf bestehen, so wollen wir einmal zusehen, wie sich die Sache einrichten läßt.« Nach diesen Worten lenkte er auf ein einfaches, aber hübsches Landhäuschen zu und hielt kurz darauf vor demselben. »Dies ist ihr Haus,« meinte er, aus dem Wagen springend, »lassen Sie uns hineingehen und den Sturm eröffnen.«

Als ich zu den Fenstern hinaufschaute, welche sämtlich bis auf die beiden, die von der Veranda auf die Straße gingen, mit Läden geschlossen waren, dachte ich bei mir: »Wenn sie hier jemanden zu verbergen beabsichtigt, dessen Anwesenheit im Hause sie geheimhalten will, so ist es Thorheit, zu hoffen, daß sie mich aufnehmen wird, wie gut ich auch empfohlen sein mag.«

»Da sie keine Dienstboten hat, wird sie ohne Zweifel selbst an die Thür kommen; halten Sie sich also bereit,« mahnte mein Freund, indem er anklopfte.

Ich hatte kaum Zeit zu bemerken, daß die Fenstervorhänge links plötzlich herabgelassen wurden, als sich im Innern des Hauses ein rascher Schritt hören ließ; gleich darauf öffnete sich die Thür, und ich sah vor mir jene Frau, die ich am Postamt erblickt hatte, und deren Manöver mit den Briefen mir so auffällig gewesen war. Ich erkannte sie auf den ersten Blick, obgleich sie sich anders angezogen und irgend eine Aufregung durchgemacht hatte, die den Ausdruck ihres Gesichtes ein wenig unsicher und verwirrt erscheinen ließ.

Als Herr Monell mich mit den Worten vorstellte: »Einer meiner Freunde, ein Rechtsanwalt aus New York,« machte sie eine etwas altmodische Verbeugung, um mir dadurch ihre Hochachtung auszudrücken, doch ohne die Verlegenheit, welche sie offenbar empfand, verdecken zu können.

»Wir sind gekommen, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten, Frau Belden; aber ist es nicht erlaubt einzutreten?« fuhr mein Klient freundlich fort, »ich habe oftmals schon von Ihrer hübschen Einrichtung gehört und möchte sie gern einmal selbst in Augenschein nehmen.« Ohne die überraschte Miene der Frau zu beachten, betrat er mit einer höflichen Verneigung das kleine Zimmer, dessen roter Teppich und helle, mit Bildern geschmückte Wände uns einladend durch die halbgeöffnete Thür zur Linken entgegenblickten.

Als Frau Belden sah, daß wir durch eine Art Staatsstreich in ihr Allerheiligstes eingedrungen waren, machte sie gute Miene zum bösen Spiele, bat auch mich, meinem Klienten zu folgen, und schickte sich an, uns als liebenswürdige Hausfrau zu empfangen.

Was Herrn Monell anbelangt, so gab er sich alle erdenkliche Mühe, so angenehm als möglich zu erscheinen. Selbst ich mußte über seinen köstlichen Humor herzlich lachen, obschon mich die Furcht quälte, unsere Bemühungen, mir hier ein zeitweiliges Heim zu verschaffen, möchten vergebens sein.

Unterdessen hatte auch Frau Belden ihre Befangenheit verloren und nahm an unserem Gespräch mit einer Ungezwungenheit teil, die ich von einer Frau in ihren Verhältnissen nicht erwartet hätte. In ihrer Ausdrucksweise und in ihrem ganzen Benehmen zeigte sie eine bedeutende Bildung, die sich mit einer sanften Weiblichkeit auf das angenehmste verband; sie wäre die letzte Frau auf der Welt gewesen, der ich eine Verstecktheit zugetraut hätte, wäre mir nicht der eigentümlich zaudernde Blick ihrer Augen aufgefallen, als Herr Monell mit dem eigentümlichen Zwecke unseres Besuches herausrückte.

»Ich weiß es wirklich nicht,« versetzte sie, mich scharf anschauend, »es würde mir Vergnügen machen, wenn ich Ihnen dienen könnte; aber ich habe in der letzten Zeit keine Mieter mehr genommen und fürchte, daß ich es dem Herrn nicht bequem genug werde herrichten können; – kurzum, Sie müssen mich entschuldigen.«

»Aber das können wir nicht,« wandte Herr Monell ein. »Erst locken Sie uns in dieses kleine Paradies, und dann weisen Sie Ihren Freund, der Sie um weiter nichts bittet, als einen Bekannten eine einzige Nacht hier beherbergen zu sollen, kalt zurück? Das kann nicht Ihr Ernst sein, Frau Belden; dafür kenne ich Sie zu gut. Wenn Lazarus selbst käme, so würde er von Ihrer Thür nicht weggewiesen werden, um wieviel weniger ein so anspruchsloser, junger Mann, wie mein Freund es ist.«

»Sie sind sehr gütig,« entgegnete sie, ein wenig geschmeichelt, »doch ich habe kein Zimmer in Ordnung; das Haus ist soeben erst gereinigt worden, und dabei das unterste zu oberst gekehrt; doch Frau Wright drüben –«

»Mein junger Freund wird hier bei Ihnen wohnen,« beharrte Monell; »aus gewissen Gründen bin ich außerstande, ihn bei mir einzulogieren, und nun will ich wenigstens die Genugthuung haben, daß er bei der besten Hauswirtin in ganz R. untergebracht ist.«

»Ja,« bestätigte ich, ohne jedoch zu großes Interesse zu zeigen, »es thäte mir leid, wenn ich gezwungen wäre, irgendwo anders ein Unterkommen zu suchen.«

Ihr unruhiges Auge wanderte unentschlossen nach der Thür hin. »Es hat mich noch niemand ungastlich genannt,« hob sie wieder an; »aber alles befindet sich noch in der abscheulichsten Unordnung. – Wann würden Sie belieben zu kommen?« fragte sie plötzlich.

»Ich hoffte, sogleich hierbleiben zu dürfen,« versetzte ich, »ich habe einige Briefe zu schreiben und beanspruche weiter nichts, als mich hier niedersetzen und sie abfassen zu können.«

»Bei dem Wort ›Briefe‹ sah ich, wie sie mit der Hand nach der Tasche fuhr; aber offenbar geschah dies unwillkürlich; denn ihr Gesichtsausdruck wechselte nicht, und sie antwortete schnell: »Gut, dann bleiben Sie hier; wenn Sie mit dem zufrieden sind, was ich Ihnen bieten kann, so sehe ich nicht ein, warum ich Herrn Monell nicht gefällig sein soll.« Mit größter Zuvorkommenheit reichte sie mir die Hand und eilte, ohne meine Danksagung zu beachten, mit Monell hinaus an dessen Wagen, wo sie meine Reisetasche und seinen Dank in Empfang nahm. »Ich will zusehen, daß ich sobald als möglich ein Zimmer für Sie in Ordnung bringen kann,« sprach sie, nachdem sie wieder eingetreten war, »mittlerweile machen Sie es sich bequem, und thun Sie, als ob Sie zu Hause wären. Wünschen Sie zu schreiben, so finden Sie das Nötige in diesem Schubfach.«

Mit diesen Worten schob sie ein Tischchen vor den Lehnstuhl, auf welchem ich saß, und entwickelte eine solche Liebenswürdigkeit, daß ich über meine Stellung jener Frau gegenüber ein Gefühl der Verlegenheit empfand, welches an Scham grenzte.

»Ich danke Ihnen,« antwortete ich, »das notwendige Schreibmaterial führe ich immer bei mir.« Ich öffnete meine Reisetasche und legte mir alles zum Schreiben zurecht.

»Dann will ich Sie nicht länger stören,« entgegnete sie und huschte fast unhörbar aus dem Zimmer.


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