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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Flickwerk.

Indem ich von der Annahme ausging, daß Clavering mir an jenem Morgen mit mehr oder weniger Genauigkeit eine eingehende Schilderung seiner Erlebnisse und seines Verhältnisses zu Eleonore Leavenworth gegeben hatte, legte ich mir die Frage vor, welche Thatsachen notwendig wären, um die Wahrheit jener Annahme darzuthun, und stellte folgende Punkte fest:

Erstens: Clavering mußte zu der betreffenden Zeit, d. h. im verflossenen Juli, hier im Lande gewesen sein und in einem Kurort im Staate New York gewohnt haben.

Zweitens: dieser Kurort mußte derselbe sein, in welchem sich Eleonore zu der nämlichen Zeit aufgehalten hatte.

Drittens: die beiden mußten in engeren Beziehungen zu einander gestanden haben.

Viertens: sie mußten zu derselben Zeit jenes Bad verlassen haben, und zwar auf so lange, daß sie in einem etwa 20 Meilen davon entfernt gelegenen Orte mit einander hatten getraut werden können.

Fünftens: ein methodistischer Geistlicher, welcher seitdem verstorben war, mußte dazumal in einem Umkreise von 20 Meilen von besagtem Kurplatze gewohnt haben.

Jetzt fragte ich mich, wie es mir möglich sein würde, den Thatbestand zu ermitteln. Claverings Leben war mir noch zu wenig bekannt, als daß es mir hätte einen Anhalt bieten können; ich ließ ihn daher vorläufig beiseite und nahm den Faden von Eleonores Geschichte auf. Ich fand auch wirklich bald heraus, daß sie im Juli zu R., einem besuchten Badeort in unserem Staate, gewesen war; aber hatte auch er sich dort aufgehalten? Dies zu ergründen, war meine erste Aufgabe, und so beschloß ich denn, am folgenden Morgen nach R. zu gehen.

Bevor ich jedoch ein Unternehmen von solcher Tragweite begann, hielt ich es für ratsam, so viele Thatsachen zu sammeln, als mir die kurz bemessene Zeit gestattete. Ich suchte zuerst Gryce auf.

Ich fand ihn auf einem Sofa in seinem Wohnzimmer liegen, ein Anfall von Rheumatismus fesselte ihn an das Haus; seine Hände waren mit Bandagen umwickelt und seine Füße steckten in den Falten eines dicken, roten Shawls. Er grüßte mich mit kurzem Kopfnicken, entschuldigte sich wegen seines Leidens und ging dann ohne weitere Umschweife auf das Thema los, welches uns beide so sehr beschäftigte, indem er sich mit leichtem Spott danach erkundigte, ob ich sehr überrascht gewesen sei, den Vogel ausgeflogen zu finden, als ich mich an jenem Nachmittag nach dem ›Hoffmann-Hause‹ begeben hatte.

»Ich bin allerdings sehr erstaunt gewesen, daß Sie ihn gerade jetzt entschlüpfen ließen,« antwortete ich; »aus der Dringlichkeit, mit welcher Sie mir rieten, seine Bekanntschaft zu machen, glaubte ich entnehmen zu dürfen, daß Sie ihm eine wichtige Rolle in unserem Trauerspiel zugedacht hätten.«

»Daß ich ihn so leicht entschlüpfen ließ, ist kein Beweis vom Gegenteil. Doch lassen wir das für jetzt. Hat Clavering Ihnen keinerlei Aufschluß gegeben, bevor er sich empfahl?«

»Das ist eine Frage,« entgegnete ich nach einigem Nachdenken, »die äußerst schwer zu beantworten ist. Durch gewisse Umstände gezwungen, kann ich nicht so offen mit Ihnen darüber sprechen, wie ich es eigentlich sollte; doch will ich Ihnen mitteilen, was ich darf. Allerdings hat sich Clavering mir gegenüber ausgesprochen, aber in einer so dunklen Art und Weise, daß ich vorerst noch einige Nachforschungen anstellen muß, bevor ich Boden genug unter meinen Füßen fühle, um Sie ins Vertrauen ziehen zu können. Er hat mir vielleicht einen Schlüssel gegeben –«

»Warten Sie einen Augenblick,« unterbrach mich Gryce, »hat er das wissentlich und in böser Absicht gethan, oder unwissentlich und in gutem Glauben?«

»In gutem Glauben, sollte ich meinen.«

Gryce schwieg einen Augenblick. »Es ist sehr schlimm, daß Sie sich nicht ein wenig deutlicher ausdrücken wollen,« sagte er endlich; »ich fürchte, daß Ihre Nachforschungen auf eigene Hand mißglücken werden. Sie sind an das Geschäft nicht gewöhnt und werden Ihre Zeit nur verlieren, abgesehen von den falschen Fährten, auf welche Sie geraten könnten, und der auf unwichtige Einzelheiten vergeudeten Kraft.«

»Das hätten Sie bedenken sollen, ehe Sie mich zu Ihrem Gehilfen in dieser Angelegenheit erkoren.«

»Und Sie bestehen fest darauf, dieses Feld allein zu bearbeiten?«

»Herr Gryce,« erwiderte ich, »die Sache steht folgendermaßen: Nach allem, was ich weiß, ist Clavering ein Ehrenmann von tadellosem Rufe; ich ahnte nicht einmal, aus welchem Grunde Sie mich auf seine Spur geschickt haben; doch bin ich, indem ich dieselbe verfolgte, auf gewisse Thatsachen geraten, die einer näheren Untersuchung wert sind.«

»Nun gut,« versetzte er, »das müssen Sie am besten wissen; aber unterdessen entflieht die Zeit, es muß etwas geschehen, und zwar bald; das Publikum wird schon ungeduldig.«

»Das weiß ich, und aus diesem Grunde bin ich zu Ihnen gekommen, Sie um solche Unterstützung zu bitten, wie Sie sie mir bei dem jetzigen Stand der Angelegenheit leisten können. Sie sind im Besitz gewisser, auf jenen Mann bezüglicher Thatsachen, die ich wissen muß; wäre dies nicht der Fall, so könnte ich mir Ihr Verfahren mir gegenüber gar nicht erklären. Lassen Sie uns also offen reden. Wollen Sie mir sagen, was Ihnen über Herrn Clavering bekannt ist, ohne von mir eine sofortige Erwiderung dieses Vertrauens zu verlangen?«

»Da fordern Sie wirklich viel von einem berufsmäßigen Detektiv.«

»Das weiß ich und unter anderen Verhältnissen würde ich lange gezögert haben, ehe ich eine solche Forderung an Sie richtete; aber wie die Sachen liegen, kann ich ohne ein derartiges Zugeständnis von Ihrer Seite nicht vorgehen. Unter allen Umständen –«

»Halt, einen Augenblick! Ist Clavering nicht der Geliebte von einer der jungen Damen?«

So ängstlich ich bemüht war, das Geheimnis des Interesses, welches ich für jenen Engländer empfand, zu bewahren, mußte ich doch bei der Plötzlichkeit dieser Frage erröten.

»Ich vermute das,« fuhr er fort, »weil er weder ein Verwandter noch ein Freund des Hauses ist und doch in irgend einem Verhältnis zu der Familie steht.«

»Ich sehe nicht ein, warum Sie gerade einen solchen Schluß ziehen,« versetzte ich. »Clavering ist ein Fremder in der Stadt; er hat sich nicht einmal lange hier zu Lande aufgehalten und somit gar nicht die Zeit gehabt, ein solches Band zu knüpfen, wie Sie andeuten.«

»Es ist nicht das erstemal, daß Clavering in New-York war: ich weiß bestimmt, daß er schon vor einem Jahre einige Zeit hier zugebracht hat.«

»Das wissen Sie?«

»Ja.«

»Was wissen Sie noch mehr? Warum soll ich im Dunkeln nach Dingen umhertappen, von denen Sie bereits Kenntnis haben? Erhören Sie meine Bitte, Herr Gryce, Sie werden es nicht bereuen; es ist kein selbstsüchtiges Motiv, das mich leitet. Habe ich Erfolg, so soll der Ruhm Ihnen gehören, scheitert mein Unternehmen, so mag die Schmach der Niederlage auf mich fallen.«

»Einverstanden!« murmelte er; »wie steht es aber mit der Belohnung?«

»Mein Lohn wird der sein, eine Unschuldige von der schweren Anklage zu befreien, welche sie bedroht.«

Diese Versicherung schien Gryce zu befriedigen. »Aber,« sagte er, »was wollen Sie denn eigentlich wissen?«

»Zuerst, wie sich Ihr Verdacht überhaupt auf Clavering lenken konnte; welche Gründe veranlaßten Sie zu der Annahme, daß ein Mann von seiner Bildung und Stellung in irgend welcher Weise in jene Angelegenheit verwickelt sein könne?«

»Das ist eine Frage, die Sie mir gar nicht hätten vorlegen sollen,« entgegnete er.

»Wieso?«

»Aus dem einfachen Grunde, weil es in Ihrer Macht lag, dieselbe zu beantworten, bevor ich es thun konnte.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Erinnern Sie sich nicht des Briefes, welchen Mary Leavenworth in Ihrer Gegenwart auf die Post gab, als sie mit Ihnen von ihrer Wohnung zu der Freundin in der 37. Straße fuhr?«

»Am Nachmittage der Coroners-Untersuchung?«

»Ja.«

»Allerdings; aber –«

»Haben Sie denn gar nicht daran gedacht, sich die Aufschrift des Briefes anzusehen, bevor er in den Kasten gesteckt wurde?«

»Dazu hatte ich keine Gelegenheit und kein Recht.«

»War der Brief nicht in Ihrem Beisein geschrieben worden?«

»Gewiß.«

»Und Sie haben das Ihrer Aufmerksamkeit nicht einmal für wert erachtet?«

»Ich sehe nicht ein, wie ich Fräulein Leavenworth hätte hindern können, den Brief eigenhändig in den Kasten zu stecken.«

»Freilich, das wäre zu schwierig gewesen,« spottete er.

»Aber auf welche Weise haben Sie es denn erfahren? – Ah! Jetzt fällt mir ein,« fügte ich hinzu, indem ich mich daran erinnerte, daß er den Wagen besorgt hatte, in welchem wir damals fuhren, »der Mann auf dem Kutscherbock stand in Ihrem Solde.«

Gryce schielte geheimnisvoll nach seinen umwickelten Füßen. »Sie haben den Nagel nicht ganz auf den Kopf getroffen,« erwiderte er. »Ich hörte, daß ein Brief, der vermutlich für mich von Interesse war, zu der und der Stunde in den Briefkasten an der Ecke von der und der Straße gesteckt worden sei. Sofort telegraphierte ich an die Poststation, zu welcher jener Kasten gehörte, man solle auf einen Brief achten, dessen Adresse mit Bleistift geschrieben sei. Als ich persönlich der Depesche nachfolgte, entdeckte ich, daß ein merkwürdiges, mit einer Briefmarke zugeklebtes Billet soeben eingetroffen war. Es wurde mir erlaubt, die Aufschrift anzusehen –«

»Und sie lautete?«

»An Henry R. Clavering. Hoffmann-Haus. New-York.«

Ich that einen tiefen Atemzug. »Und auf diese Weise wurde Ihre Aufmerksamkeit zum erstenmale auf jenen Mann gelenkt?«

»Ja.«

»Seltsam! Doch bitte, fahren Sie fort.«

»Nun, ich verfolgte die Spur natürlich weiter, indem ich im ›Hoffmann-Hause‹ selbst nachfragte. Ich erfuhr, daß Herr Clavering daselbst wohne, daß er vor etwa drei Monaten direkt vom Liverpooler Dampfer dorthin gekommen sei, seinen Namen als ›Henry R. Clavering, London‹ eingetragen und eines der besten Zimmer gemietet habe. Obwohl man nichts Bestimmtes über ihn wußte, so hatte man ihn doch immer mit höchst achtbaren Personen verkehren sehen, die ihn mit ganz besonderer Rücksicht behandelten; auch mußte er seinem Auftreten nach ein wohlbemittelter Mann sein. Hierauf trat ich in das Hotelbureau, um sein Benehmen beobachten zu können, wenn man ihm das seltsam aussehende Billet von Mary Leavenworth einhändigen würde.«

»Und glückte Ihnen das?«

»Nein. Gerade in dem entscheidenden Augenblick trat jemand zwischen uns beide, so daß ich nicht sah, was ich wollte. Indessen hörte ich noch an demselben Abend von den Dienstleuten, daß er bei Empfang des Briefes in große Aufregung geraten sei. Ich schickte sofort meine Leute aus und ließ Herrn Clavering zwei Tage lang scharf überwachen. Aber wir erzielten damit nichts; sein Interesse an dem Mord, wenn es überhaupt ein solches war, hüllte sich in das tiefste Geheimnis, und obwohl er sich häufig auf der Straße sehen ließ, eifrig die Zeitungen las und sich in der Nähe des Hauses in der fünften Avenue aufhielt, betrat er dasselbe nicht, machte auch keinen Versuch, sich mit irgend einem Mitglied der Familie in Verbindung zu setzen. Mittlerweile kreuzten Sie meinen Pfad. In der Hoffnung, daß es Ihnen gelingen würde, hinter Claverings Zusammenhang mit der Familie Leavenworth zu kommen, übergab ich Ihnen den Mann und –«

»Sie fanden an mir einen schwer zu behandelnden Kollegen.«

Gryce verzog den Mund, als ob er in einen sauren Apfel gebissen hätte, antwortete jedoch nicht, so daß ein kurzes Schweigen eintrat.

»Haben Sie daran gedacht, sich zu erkundigen,« fragte ich endlich, »wo Clavering den Abend des Mordes verbracht hat?«

»Ja; aber ohne besonderen Erfolg. Daß er an jenem Abende ausgewesen war, darin stimmten alle überein, auch darin, daß er in seinem Bette lag, als der Hausknecht kam, um Feuer zu machen; aber weiter war nichts herauszubringen.«

»So wissen Sie also nichts, was jenen Mann mit dem Mord in Verbindung setzen könnte, als sein auffallendes Interesse an demselben und die Thatsache, daß eine Nichte des Ermordeten einen Brief an ihn geschrieben hat?«

»Das ist alles.«

»Nun noch eine Frage: Haben Sie gehört, in welcher Art und Weise und zu welcher Zeit er sich an jenem Abend eine Zeitung verschaffte?«

»Nein, ich brachte nur in Erfahrung, daß man ihn, die › Evening-Post‹ in der Hand, aus dem Speisesaal eilen und sich unverzüglich auf sein Zimmer begeben sah, ohne daß er die Mahlzeit auch nur berührt hätte.«

»Hm, das sieht eben nicht danach aus –«

»Hätte Clavering irgend einen Anteil an dem Verbrechen gehabt, so würde er sich entweder kein Diner bestellt haben, bevor er die Zeitung gelesen, oder, nachdem er es bestellt, es auch wirklich genossen haben.«

»Danach halten Sie also Herrn Clavering nicht für schuldig?«

Gryce zuckte die Achseln, blickte nach den Papieren, die aus meiner Tasche hervorsahen, und rief: »Nach dem, was Sie mir mitgeteilt haben, muß ich ihn beinahe für schuldig halten.«

Ohne weiter darauf einzugehen, nahm ich meine früheren Fragen wieder auf. »Auf welche Weise ist es Ihnen gelungen, auszukundschaften, daß Clavering vergangenen Sommer in der Stadt war? Erfuhren Sie das auch im ›Hoffmann-Hause‹?«

»Nein, die Nachricht stammt aus einer anderen Quelle, und zwar aus London.«

»Aus London?«

»Ja; ich habe dort einen Kollegen, der sich mir zuweilen in Angelegenheiten unseres Berufes gefällig erweist.«

»Aber wie ist das möglich? Sie haben seit dem Morde doch gar keine Zeit gehabt, nach London zu schreiben und von dort Antwort zu erhalten.«

»Das ist auch gar nicht nötig; für mich genügt es, meinem Freunde den Namen einer Person zu telegraphieren, alsdann weiß er, daß ich über dieselbe, sobald es angeht, alle Einzelheiten wissen will, die er aufzutreiben vermag.«

»Sie telegraphierten ihm also den Namen Clavering?«

»Ja, in Chiffre-Schrift.«

»Und haben Sie eine Antwort erhalten?«

»Heute morgen.« Er griff in seine Brusttasche und überreichte mir ein zusammengefaltetes Papier.

»Entschuldigen Sie meine Hast,« sagte ich; »aber das Detektivgeschäft ist mir neu, wie Sie wissen.«

In dem ziemlich umfangreichen Schriftstück hieß es, daß Clavering im Alter von 43 Jahren stehe und mit seiner Mutter zu Portland-Place in London lebe. Sein jährliches Einkommen wurde auf etwa 5000 Pfund geschätzt. Er hatte sein Vermögen zum Teil von seinem Vater, zum Teil von seinem Onkel geerbt. Im Jahre 1875 reiste er nach Amerika, kehrte jedoch schon nach 3 Monaten zurück, weil seine Mutter erkrankt war; von dem, was er in der neuen Welt getrieben, wußte man nichts. In der letzten Zeit bemerkte man, daß er sehr schweigsam war, das Eintreffen der Post ungeduldig erwartete und namentlich auswärtige Briefe mit großer Spannung erbrach; auf einem in den Papierkorb geworfenen Couvert las man den Namen ›Amy Belden‹. Seine amerikanischen Korrespondenten wohnen meistens in Boston, zwei jedoch in New York; die Namen derselben sind nicht bekannt, doch hält man sie für Bankiers. Er brachte viel Gepäck mit und richtete einen Teil seines Hauses für eine Dame ein, doch wurde derselbe bald darauf wieder geschlossen. Vor zwei Monaten ging er wiederum nach Amerika und hat seitdem zweimal nach Portland-Place telegraphiert: vor kurzem sind einige Briefe von ihm, aus New York datiert, eingetroffen, einer derselben, der mit dem letzten Dampfer ankam, war in F., im Staate New York, aufgegeben.«

Das Papier entfiel meiner Hand: F. war eine kleine Stadt in der Nähe des Badeorts R.

»Das Schreiben Ihres Freundes ist der beste Trumpf in meinen Karten,« erklärte ich; »es berichtet mir gerade dasjenige, was ich zu erfahren wünschte. Mit Hilfe dieser Nachrichten werde ich binnen einer Woche das Geheimnis ergründen, welches Henry Clavering umgiebt,« fügte ich hinzu, indem ich das wichtigste des Gelesenen in mein Notizbuch eintrug.

»Und wann,« fragte Gryce, »darf ich wohl darauf hoffen, auch meine Hand im Spiel zu haben?«

»Sobald ich die Ueberzeugung gewinne, daß ich auf der rechten Fährte bin.«

»Wie lange Zeit werden Sie dazu gebrauchen?«

»Nicht lange; ich habe bloß einen Punkt festzustellen und –«

»Warten Sie einen Moment, vielleicht kann ich etwas für Sie thun.« Mit diesen Worten deutete Gryce nach dem in einer Ecke stehenden Schreibtisch, bat mich, das oberste Schubfach zu öffnen und ihm die Ueberbleibsel eines teilweise verbrannten Papiers zu bringen, welche ich dort finden würde.

Ich folgte seiner Weisung, holte drei oder vier übel zugerichtete Papierstreifen hervor und legte sie vor ihn auf den Tisch.

»Es ist dies ein weiteres Resultat der Nachforschungen, welche Fobbs an jenem Tage unter den Kohlen anstellte,« bemerkte Gryce. »Sie glaubten, der Schlüssel sei alles gewesen, was er gefunden; das war aber nicht der Fall; eine zweite Untersuchung der Kohlen brachte dies hier zu Tage, und es war von nicht gewöhnlichem Interesse.«

Rasch und angstvoll beugte ich mich über die versengten Papierfetzen; es waren vier an der Zahl, und sie erschienen auf den ersten Blick als die Ueberreste eines gewöhnlichen Bogens Briefpapier, als seien sie streifenweis zu Fidibussen zusammengelegt worden. Als ich sie jedoch genauer betrachtete, erblickte ich auf der einen Seite Spuren von Buchstaben und, was noch bedeutsamer war, mehrere Tropfen verspritzten Blutes. »Was halten Sie davon?« wandte ich mich an Gryce.

»Das ist es gerade, wonach ich Sie fragen wollte.«

Ich bezwang meinen Widerwillen und nahm die Papierschnitzel in die Hand. »Es scheinen Bruchstücke eines alten Briefes zu sein,« bemerkte ich.

»Ohne Zweifel!« entgegnete Gryce ein wenig spöttisch.

»Ein Brief, der, nach den auf der beschriebenen Seite bemerkbaren Blutstropfen zu urteilen, zur Zeit des Mordes auf Herrn Leavenworths Tisch gelegen haben muß.«

»Ganz richtig!«

»Das Papier ist zerschnitten und die Streifen zusammengerollt worden, vermutlich mit der Absicht, sie alsdann dem Feuer zu übergeben, in welchem sie gefunden wurden.«

»Sehr wohl,« sagte Gryce, »fahren Sie nur fort.«

»Die Handschrift, soweit sie erkennbar ist, rührt von einem gebildeten Manne her, aber nicht von Herrn Leavenworth; denn diese kenne ich genau, aber – halt!« rief ich plötzlich aus, »haben Sie vielleicht etwas Klebstoff zur Hand? Wenn ich diese Streifen auf ein Blatt Papier ziehen würde, so daß sie glatt bleiben, dann könnte ich Ihnen leichter sagen, was ich davon halte.«

»Dort auf dem Schreibtisch steht Klebstoff,« erwiderte Gryce.

Ich holte mir das Fläschchen und begann die Streifen genauer zu prüfen, um sie besser ordnen zu können. Nachdem ich zwei derselben aufgezogen hatte, gelangte ich zu der Ueberzeugung, daß zwei andere Streifen von derselben Breite dazu gehörten, um den Raum zwischen ihnen auszufüllen, und daß das Schreiben nicht mit dem unteren Ende der Seite abschloß, sondern auf einer anderen weitergeführt worden war. Ich nahm den dritten Streifen auf und betrachtete ihn genau. Die Stellung der Worte zeigte mir, daß es der Randstreifen eines zweiten Blattes war; ich klebte ihn also für sich allein auf und prüfte den vierten, dessen Worte jedoch nicht zu dem vorigen paßten. Ich zog ihn daher dem dritten Streifen gegenüber auf.

»Das haben Sie brav gemacht!« rief Gryce. Als ich ihm jedoch das Blatt vor die Augen hielt, fügte er hinzu: »Zeigen Sie es mir nicht, sondern betrachten Sie es selbst, und sagen Sie mir dann, was Sie davon denken.«

»Gut,« antwortete ich, »so viel ist gewiß, daß der Brief von irgend einem ›Haus‹ an Herrn Leavenworth gerichtet war, und was das Datum anbetrifft, so steht hier der Buchstabe ›z‹, nicht wahr?« Dabei deutete ich auf einen Schriftzug, der unter dem Worte ›Haus‹ stand und kaum noch erkennbar war.

»Ich glaube fast; doch fragen Sie mich nicht.«

»Es muß ein z sein; datiert also vom 1. März 1876, und unterzeichnet –«

Gryce blickte aufmerksam nach der Decke.

»Von Henry Clavering,« behauptete ich bestimmt.

»Hm, wie wollen Sie das wissen?«

»Warten Sie einen Augenblick, und ich will es Ihnen beweisen.« Ich nahm aus meiner Tasche die Karte, durch welche sich Clavering bei mir eingeführt hatte, und legte sie unter die letzte Zeile der versengten Streifen.

Ein Blick genügte. Henry Ritchie Clavering stand auf der Karte, H... chie ... in der nämlichen Handschrift auf dem Briefe.

»Ohne Zweifel ist es Clavering,« bestätigte Gryce; doch war er keineswegs überrascht.

»Und nun,« fuhr ich fort, »wollen wir an den Inhalt des Schreibens gehen.«

Ich fing mit dem ersten Worte des ersten Streifens an und las die Worte laut, wie sie folgten, indem ich bei den Lücken pausierte. »Herr Hor – Hochge – eine Nichte – welche Sie – die auch würdig – der Liebe und des Vertr – jeder andere Mann – schön so entz – einung – Unterhaltung – Jede Rose hat ihre – Rose ist keine Ausnahme – liebensw – zend – zärtlich – imstande – zu quälen und zu mißach – der ihr vertraute – wenn – nicht glauben wollen – ihr schönes, grausames Gesicht – H... chie ...«

»Es klingt fast wie eine Beschwerde gegen eine der Nichten des Herrn Leavenworth,« sagte ich und erschrak über meine eigenen Worte.

»Wie so?« fragte Gryce.

»Nun,« antwortete ich, »merkwürdigerweise habe ich gerade von diesem Briefe sprechen hören. Er enthält wirklich eine Klage gegen eine der Nichten des Ermordeten und ist von Clavering geschrieben.« Hierauf erzählte ich ihm Harwells Mitteilung betreffs des Schreibens.

»Ah, dann hat Harwell also gesprochen. Ich glaubte fast schon, er habe das Reden abgeschworen.«

»Harwell und ich sind während der vergangenen beiden Wochen fast täglich zusammen gewesen,« entgegnete ich, »es wäre seltsam, wenn er mir nichts zu sagen gehabt hätte.«

»Und er behauptet, daß er einen von Clavering an den Verstorbenen gerichteten Brief gelesen habe?«

»Ja; aber den Wortlaut hat er vergessen.«

»Diese wenigen Bruchstücke werden ihm den Rest ins Gedächtnis zurückrufen.«

»Ich würde es ihm lieber nicht verraten, daß wir im Besitz dieses Beweismittels sind; wir wollen niemand ins Vertrauen ziehen, wenn es nicht unbedingt nötig ist.«

»Einverstanden,« lautete Gryces trockene Entgegnung.

Ich machte mich jetzt daran, aus den vorhandenen Bruchstücken des Briefes, soweit es anging, etwas Verständliches herzustellen, und brachte nach vieler Mühe folgendes zusammen:

»– Haus, März 1. 1876.
Herrn Horatio Leavenworth.

 

Hochgeehrter Herr!

Sie besitzen eine Nichte, welche Sie – – die auch würdig zu sein – – der Liebe und des Vertrauens – – – Jeder andere Mann – – – so schön, so entzückend ist sie in Erscheinung und Unterhaltung. Aber jede Rose hat ihre Dornen, und auch diese Rose ist keine Ausnahme – – liebenswürdig, reizend und zärtlich, ist sie dennoch imstande, jemand zu quälen und zu mißachten, der ihr vertraute, und – – – wenn Sie mir nicht glauben wollen, so fragen Sie ihr schönes, grausames Gesicht – – – –

Hochachtungsvoll
Henry Ritchie Clavering.«

»Das genügt uns,« sagte Gryce, nachdem ich ihm das Ergebnis meiner Arbeit vorgelesen hatte; »der allgemeine Inhalt des Briefes ist uns klar, und das ist alles, dessen wir fürs erste bedürfen.«

»Der ganze Ton ist nicht gerade schmeichelhaft für die Dame, welche das Schreiben betrifft; der Absender muß ein schweres Herzeleid empfunden oder es sich wenigstens eingebildet haben, um eine solche Sprache über eine Dame zu führen, die er trotz allem liebenswürdig, reizend und zärtlich nennt.«

»Es kommt vor, daß ein derartiges Herzeleid zu einem geheimnisvollen Verbrechen treibt.«

»Ich glaube, zu wissen, welcher Art jenes Herzeleid ist,« versetzte ich; »aber,« fügte ich hinzu, als ich ihn überrascht aufblicken sah, »für jetzt muß ich es ablehnen, Ihnen meine Vermutungen mitzuteilen, bis ich sie noch besser begründen kann.«

»Dann liefert Ihnen also der Brief nicht das fehlende Glied?«

»Nein; er ist ein recht schätzbares Beweismittel, aber nicht das Schlußglied der Kette, welches ich noch suche.«

»Und doch muß der Brief von ganz besonderer Wichtigkeit sein, sonst würde sich Eleonore nicht die Mühe genommen haben, ihn – erstens von dem Tisch ihres Oheims zu nehmen und zweitens –«

»Warten Sie!« unterbrach ich ihn. »Was veranlaßt Sie zu der Annahme, daß es gerade dieses Papier gewesen sei, welches die junge Dame an jenem verhängnisvollen Morgen von Herrn Leavenworths Tisch genommen hat oder genommen haben soll?«

»Nun, der Umstand, daß dasselbe zusammen mit dem Schlüssel gefunden wurde, den sie damals in das Kaminfeuer fallen ließ, und daß es gleichfalls mit Blut befleckt ist.«

Ich schüttelte den Kopf; Eleonore hatte mir ja erzählt, das fragliche Schriftstück sei von ihr gänzlich zerstört worden.

»Warum schütteln Sie den Kopf?« fragte Gryce.

»Weil mich Ihre Gründe nicht befriedigen.«

»Wieso?«

»Erstlich hat Fobbs nicht erwähnt, daß er ein Papier in ihrer Hand gesehen habe, als sie sich über das Feuer beugte, – also können jene Fetzen möglicherweise in der Kohlenschütte gelegen haben, und das ist doch, wie Sie mir zugestehen werden, kein geeigneter Aufbewahrungsort für ein Papier, auf welches man so großes Gewicht legt; – dann aber sehen die Schnitzel so aus, als hätten sie zu Haarwickeln oder ähnlichen Dingen gedient, eine Thatsache, die sich durch Ihre Hypothese schwer erklären läßt.«

Das Auge des Detektivs heftete sich auf meine Halsbinde mit dem Ausdruck des höchsten Interesses. »Sie sind ein sehr scharfsichtiger Jurist,« bemerkte er, »und ich muß Sie aufrichtig bewundern, Herr Raymond.«

Etwas verdutzt über dieses unerwartete Lob, schaute ich ihn mit einem zweifelhaften Blick an und fragte: »Was ist denn Ihre Ansicht über diesen Gegenstand?«

»O, Sie wissen ja, daß ich gar keine Ansichten habe; seitdem ich die Angelegenheit Ihren Händen überließ, machte ich mir keine weiteren Gedanken darüber.«

»Und doch –«

»Und doch steht so viel fest, daß der Brief, von welchem diese Bruchstücke herrühren, sich zur Zeit des Mordes auf dem Bibliothektisch befunden haben muß, daß ferner, als die Leiche weggeschafft wurde, Fräulein Eleonore ein Papier vom Tische nahm, daß sie endlich, als sie sich beobachtet und die Aufmerksamkeit auf jenes Schriftstück und den Schlüssel gelenkt sah, sich der Wachsamkeit des zu ihrer Beobachtung bestellten Beamten zu entziehen suchte und den Schlüssel in das Feuer schleuderte, in welchem man diese nämlichen Schnitzel entdeckt hat. Die Schlußfolgerung überlasse ich ruhig Ihrem Urteil.«

»Nun wohl,« antwortete ich, aufstehend, »so lassen Sie uns jetzt die Schlußfolgerungen beiseite legen; ich muß mich vorerst von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit meiner Theorie überzeugen, um ein Urteil über das fällen zu können, was mit dem Morde in Zusammenhang steht.«

Ich ließ mir dann noch von Gryce die Adresse seines Untergebenen, der ›Spürnase‹, einhändigen, um mir für den Notfall seine Dienste zu sichern, und begab mich unverzüglich nach Herrn Veeleys Hause.


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