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Achtes Kapitel.
Der Indizien-Beweis.

Jetzt hatte die Spannung ihren Höhepunkt erreicht; der Schleier, welcher das schreckliche Trauerspiel in Dunkel hüllte, schien sich alsbald zu lüften, wenn nicht ganz zu heben, und ich fühlte das Verlangen, die Szene zu fliehen, den Ort zu verlassen, und nichts mehr zu erfahren.

Nicht, daß ich eine besondere Furcht hegte, Eleonore könne sich selbst verraten; die kalte Ruhe ihres Gesichtes, die Regungslosigkeit ihrer Züge boten mir eine genügende Sicherheit gegen die Möglichkeit einer solchen Katastrophe. Wenn aber der Verdacht ihrer Cousine nicht aus Haß entsprang, sondern auf Thatsachen beruhte, wenn ihr schönes Antlitz wirklich nur eine Maske war, was sich nach den Worten ihrer Cousine und ihrem eigenen Benehmen hinterher kaum anders annehmen ließ: wie konnte ich es da über das Herz bringen, noch länger hier zu sitzen und mit anzusehen, wie die tückische Schlange der Lüge und der Sünde aus dem Kelch dieser weißen Rose hervorkroch?

Und doch ist der Bann der Ungewißheit so mächtig, daß, obwohl die Mienen vieler der Anwesenden meine eigenen Gefühle wiederspiegelten, kein einziger aus der ganzen Versammlung die Absicht verriet, sich zu entfernen, am allerwenigsten ich.

Der Coroner, auf welchen die Anmut Marys zu Eleonorens offenbarem Nachteil einen so guten Eindruck hervorgebracht hatte, war der einzige im ganzen Saal, der sich in diesem Moment unbewegt zeigte; er wandte sich der Zeugin mit einem Blicke zu, der zwar achtungsvoll war, aber doch etwas Strenges hatte, und begann: »Sie sind von Ihrer Kindheit an ein Mitglied der Familie Leavenworth gewesen?«

»Von meinem zehnten Jahre an,« lautete die Antwort.

Es war das erste Mal, daß ich ihre Stimme hörte, und es überraschte mich, daß dieselbe derjenigen ihrer Cousine so ähnlich und doch auch wieder so unähnlich klang; gleich im Ton, fehlte ihr, sozusagen, das Modulationsfähige, sie traf das Ohr ohne Vibration und verklang ohne Widerhall.

»Seit jener Zeit sind Sie wie eine Tochter behandelt worden?«

»Jawohl, mein Herr, wie eine Tochter; kein Vater hätte mehr für uns thun können.«

»Sie und Fräulein Mary Leavenworth sind Cousinen, glaube ich. Wann ist letztere in die Familie eingetreten?«

»Zu derselben Zeit als ich, unsere beiderseitigen Eltern waren Opfer des nämlichen Unglücks; hätte sich der Onkel nicht unserer angenommen, so wären wir als Kinder in eine fremde Welt geschleudert worden. Aber er –« hier hielt sie inne, und ihre feinen Lippen zitterten merklich, – »er nahm uns in der Güte seines Herzens in seine Familie auf und gab uns, was wir beide verloren hatten, – einen Vater und eine Heimat.«

»Sie sagen, er sei Ihnen sowohl als auch Ihrer Cousine ein Vater gewesen, er habe Sie beide adoptiert; wollen Sie damit andeuten, daß er Sie nicht nur mit dem gegenwärtigen Luxus umgab, sondern daß er Ihnen dasselbe auch für die Zukunft in Aussicht stellte, mit einem Wort, daß er beabsichtigte, Ihnen einen Teil seines Vermögens zu hinterlassen?«

»Nein, mein Herr! Er gab mir von Anfang an zu verstehen, daß sein Besitztum dereinst auf meine Cousine übergehen würde.«

»Ihre Cousine war ihm nicht näher verwandt als Sie selbst, Fräulein Leavenworth. Hat er nicht einmal einen Grund für diese Parteilichkeit angegeben?«

»Nur seine Vorliebe, mein Herr.«

Ihre Antworten über diesen Punkt waren so kurz und befriedigend gewesen, daß an Stelle der unbehaglichen Zweifel, welche von Anfang an den Namen und die Person dieses Mädchens umschwebt hatten, ein allmählich wachsendes Zutrauen trat. Bei dieser Aussage zumal, die mit so ruhiger leidenschaftsloser Stimme abgegeben wurde, fühlte die Jury sowohl wie ich, der ich doch mehr Grund zum Argwohn hatte, daß der bisher gehegte Verdacht bei einem so gänzlichen Fehlen eines Motives zur That, wie jene Aeußerung bekundete, sehr stark erschüttert werden mußte.

Mittlerweile fuhr der Coroner fort: »Wenn Ihr Oheim alles das für Sie that, was Sie mir erzählt haben, so empfanden Sie wohl eine große Zuneigung zu ihm?«

»Jawohl,« entgegnete sie, und um ihren Mund lagerte sich ein Zug großer Entschiedenheit.

»Sein Tod muß also ein schwerer Schlag für Sie sein?«

»So ist es.«

»Schwer genug, um Sie beim ersten Anblick der Leiche in Ohnmacht sinken zu lassen.«

Eleonore nickte stumm mit dem Kopf.

»Und doch schienen Sie darauf gefaßt zu sein.«

»Gefaßt?«

»Die Dienstboten sagen, Sie wären sehr aufgeregt gewesen, als Ihr Onkel beim Frühstück nicht erschien.«

»Die Dienstboten?« Ihre Zunge schien ihr am Gaumen zu kleben; sie war kaum im stande zu sprechen.

»Als Sie aus dem Bibliothekzimmer zurückkehrten, sollen Sie sehr blaß gewesen sein.«

Begann sie es zu ahnen, daß in dem Geiste des Mannes, der sie mit solchen Fragen angriff, ein Zweifel über sie oder gar ein wirklicher Verdacht bestand? So aufgeregt hatte ich sie seit jenem denkwürdigen Moment im oberen Zimmer nicht gesehen; doch ihr Mißtrauen, wenn sie überhaupt ein derartiges Gefühl hegte, konnte von keiner langen Dauer sein. Mit sichtbarer Anstrengung beherrschte sie sich und antwortete mit ruhiger Handbewegung: »Das ist nichts Auffallendes, mein Oheim war ein sehr methodischer Mann, die geringste Veränderung in seinen Gewohnheiten würde bei uns sicherlich Befürchtungen hervorgerufen haben.«

»Sie waren also beunruhigt?«

»Bis zu einem gewissen Grade – ja.«

»Wer hat die Oberaufsicht über die Gemächer Ihres Onkels, Fräulein Leavenworth?«

»Ich, mein Herr.«

»Dann kennen Sie auch ohne Zweifel einen gewissen Toilettentisch, der in seinem Schlafzimmer steht und ein Schubfach enthält?«

»Gewiß.«

»Wie lange ist es her, daß Sie an jenes Schubfach gegangen sind?«

»Gestern.« Sie zitterte merklich bei diesem Geständnis.

»Um welche Zeit?«

»Um die Mittagsstunde – soviel ich weiß.«

»Lag der Revolver, welchen er besaß, zu jener Zeit an seiner gewohnten Stelle?«

»Ich glaube wohl, beachtet habe ich es nicht.«

»Drehten Sie den Schlüssel um, als Sie das Schubfach öffneten?«

»Jawohl.«

»Zogen Sie den Schlüssel heraus?«

»Nein, mein Herr.«

»Fräulein Leavenworth, der Revolver, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben werden, liegt vor Ihnen auf dem Tisch; wollen Sie ihn gefälligst einmal ansehen?« Er nahm die Waffe auf und reichte sie ihr hin.

Wenn er die Absicht gehegt hatte, sie durch diese plötzliche Aufforderung zu erschrecken, so hatte er seinen Zweck vollkommen erreicht. Beim ersten Anblick der mörderischen Waffe schrak sie zurück, und ein entsetzter, aber schnell unterdrückter Aufschrei entfuhr ihren Lippen. »O nein! nein!« stöhnte sie, mit den Händen abwehrend.

»Ich muß darauf bestehen, daß Sie sich den Revolver ansehen, Fräulein Leavenworth,« beharrte der Coroner; »als man ihn fand, waren alle Kammern geladen.«

Sofort wich der Ausdruck des Schreckens von ihrem Antlitz. »O dann –« Sie sprach nicht weiter, sondern streckte die Hand nach der Waffe aus.

Der Coroner jedoch, sie fest ansehend, fuhr fort: »Trotzdem ist vor kurzer Zeit aus demselben gefeuert worden. Die Hand, welche den Lauf reinigte, vergaß die Patronenkammer, Fräulein Leavenworth.«

Sie schrak nicht wieder zurück; aber ein hoffnungs- und hilfloser Ausdruck legte sich über ihr Antlitz, und sie schien dem Umsinken nahe. Doch schnell kam die Reaktion, und sie erhob das Haupt mit einer Kraftanstrengung, wie ich sie noch niemals bei einem Weibe beobachtet hatte; dann rief sie aus: »Nun – und was soll das?«

Der Coroner legte den Revolver hin; Männer und Frauen schauten einander an, und alles schien vor dem zu bangen, was jetzt folgen würde.

Ich hörte einen zitternden Seufzer an meiner Seite, und als ich mich umwandte, sah ich, wie Mary mit heißem Erröten nach ihrer Cousine hinstarrte, als würde sie sich jetzt erst der Thatsache bewußt, daß außer ihr noch andere fühlten, wie ein gewisses Etwas Eleonore umschwebte.

Endlich fand der Coroner den Mut fortzufahren: »Sie fragen mich. Fräulein Leavenworth, was das soll? Darauf muß ich Ihnen erwidern, daß kein Einbrecher, kein gedungener Meuchelmörder sich dieses Revolvers zu seiner That bedient und sich dann die Mühe genommen haben würde, denselben nicht nur zu reinigen, sondern auch von neuem zu laden und ihn wieder in das Schubfach zu schließen, aus welchem er ihn genommen hatte.«

Sie gab darauf keine Antwort; aber ich sah, wie Gryce sich mit einem bedeutsamen Nicken des Kopfes eine Notiz machte.

»Auch würde es,« fügte der Coroner noch ernster hinzu, »für jemanden, der nicht daran gewöhnt war, zu allen Stunden in Herrn Leavenworths Zimmer aus- und einzugehen, unmöglich gewesen sein, so spät in der Nacht in das Zimmer des Verstorbenen zu gelangen, sich den Revolver von dem Aufbewahrungsorte zu nehmen, das Gemach zu durchschreiten und Herrn Leavenworth so nahe zu schleichen, wie dies laut Feststellung des Thatbestandes geschehen sein muß, ohne ihn zu veranlassen, wenigstens den Kopf nach einer Seite zu wenden. Das kann er nach der Erklärung des Doktors nicht gethan haben.«

Es war ein furchtbarer Verdacht, und alles blickte auf Eleonore.

Doch das Aufwallen äußerster Entrüstung that sich nicht bei ihr kund, sondern bei ihrer Cousine; Mary fuhr empört von ihrem Sitze auf, warf einen raschen Blick um sich und öffnete die Lippen, um zu sprechen.

Eleonore dagegen kehrte sich ihr halb zu, winkte ihr, sich in Geduld zu fassen, und entgegnete mit kalter, berechnender Stimme: »Sie können nicht so unbedingt gewiß sein, daß sich alles zutrug, wie Sie behaupten. Hätte mein Onkel selbst aus irgend einem Anlaß, sagen wir gestern, den Revolver abgefeuert, – was doch sicher möglich, wenn nicht wahrscheinlich ist, – so würden Sie dieselben Resultate beobachtet und dieselben Schlüsse gezogen haben.«

»Fräulein Leavenworth,« fuhr der Coroner fort, »die Kugel ist aus dem Haupte ihres Oheims entfernt worden!«

»Ah –«

»Sie entspricht den im Toilettentisch aufgefundenen Patronen und trägt die Nummer derjenigen, die man bei diesem Pistol gebraucht.«

Nach diesen Worten ließ sie den Kopf sinken; ihre Augen suchten den Boden, und ihre ganze Haltung drückte die äußerste Entmutigung aus.

Als der Coroner dies sah, wurde er noch ernster. »Fräulein Leavenworth,« fuhr er fort, »ich habe Ihnen noch einige Fragen bezüglich des vergangenen Abends vorzulegen. Wo haben Sie denselben verbracht?«

»Allein auf meinem Zimmer.«

»Sie haben Ihren Onkel und Ihre Cousine noch im Laufe des Abends gesehen?«

»Nein, mein Herr. Nachdem ich vom Tische aufgestanden war, habe ich niemand mehr gesehen – Thomas ausgenommen,« fügte sie nach kurzer Pause hinzu.

»Und wie kam es, daß Sie ihn sahen?«

»Er brachte mir die Karte eines Herrn.«

»Darf ich nach seinem Namen fragen?«

»Auf der Karte stand der Name ›Le Roy Robbins.‹«

Die Sache schien bedeutungslos; aber das plötzliche Zusammenzucken der neben mir sitzenden Dame bewirkte, daß sie mir in Erinnerung blieb.

»Wenn Sie auf Ihrem Zimmer sind, Fräulein Leavenworth,« fragte der Coroner weiter, »pflegen Sie da Ihre Thür offen zu lassen?«

Eleonore erschrak, faßte sich aber schnell wieder. »Das ist nicht meine Gewohnheit, mein Herr.«

»Warum ließen Sie die Thür in der vergangenen Nacht offen?«

»Es war mir zu warm.«

»Aus keinem andern Grunde?«

»Ich bin außer stande, einen anderen anzuführen.«

»Wann schlossen Sie dieselbe?«

»Als ich mich zur Ruhe begab.«

»War das ehe die Dienstboten hinaufgingen oder nachher?«

»Nachher.«

»Hörten Sie es, als Herr Harwell das Bibliothekzimmer verließ und sich auf sein Zimmer begab?«

»Allerdings.«

»Wie lange ließen Sie danach die Thür noch offen?«

»Ich – ich – einige Minuten, ich kann es nicht genau sagen,« stotterte sie.

»War es länger als 10 Minuten?«

»Ja.«

»Länger als zwanzig?«

»Vielleicht.« – Wie blaß ihr Gesicht war und wie sehr sie zitterte!

»Fräulein Leavenworth! Nach dem Befunde erfolgte der Tod Ihres Oheims nicht sehr lange, nachdem Herr Harwell ihn verlassen hatte. War Ihre Thür offen, so konnten Sie nicht umhin, zu hören, wenn jemand in sein Zimmer ging, oder ein Pistol abgefeuert wurde, haben Sie etwas gehört?«

»Ich habe keinen Lärm gehört, nein, gewiß nicht!«

»Haben Sie nichts gehört?«

»Keinen Pistolenschuß.«

»Entschuldigen Sie meine Beharrlichkeit, Fräulein Leavenworth; aber haben Sie wirklich gar nichts gehört?«

»Ich hörte eine Thür schließen.«

»Welche Thür?«

»Die zum Bibliothekzimmer führende.«

»Wann?«

»Das weiß ich nicht,« entgegnete sie, krampfhaft die Hände zusammenpressend, »ich kann es Ihnen nicht sagen. Warum legen Sie mir so viele Fragen vor?«

Ich sprang auf: denn sie schwankte und war einer Ohnmacht nahe. Doch bevor ich sie erreichen konnte, hatte sie sich wieder aufgerichtet und ihre frühere Fassung wiedergewonnen.

»Entschuldigen Sie.« sagte sie, »ich bin heute morgen etwas verwirrt; was war es doch, wonach Sie mich fragten?«

»Ich wollte wissen,« entgegnete der Coroner, und seine Stimme wurde scharf, offenbar zeugte ihr gegenwärtiges Benehmen wider sie. »wann Sie das Bibliothekzimmer schließen hörten?«

»Ich vermag nicht, die Zeit genau anzugeben; aber es war, nachdem Herr Harwell heraufgekommen war und ich meine eigene Thür geschlossen hatte.«

»Einen Pistolenschuß haben Sie nicht gehört?«

»Nein, mein Herr.«

Der Coroner warf einen raschen Blick auf die Jury, und fast alle Geschworenen senkten die Augen zu Boden.

»Fräulein Leavenworth, man hat uns berichtet, daß Hannah, eine der Dienerinnen, in der verflossenen Nacht zu Ihnen ging, um sich eine Arzenei zu holen. Ist sie bei Ihnen gewesen?«

»Nein, mein Herr.«

»Wann hörten Sie zuerst von ihrem seltsamen Verschwinden?«

»Heute morgen vor dem Frühstück. Molly begegnete mir in der Halle und fragte mich, wo Hannah sei; nachdem wir einige Worte mit einander gewechselt hatten, kamen wir zu dem Schluß, daß sie das Haus heimlich verlassen haben müsse.«

»Was dachten Sie sich, als Ihnen diese rätselhafte Flucht bekannt wurde?«

»Ich wußte nicht, was ich davon denken sollte.«

»Brachten Sie diesen Vorfall mit der Ermordung Ihres Onkels nicht in irgend welchen Zusammenhang?«

»Ich wußte damals noch nichts von dem Morde.«

»Aber nachher?«

»Es mag mir wohl der Gedanke gekommen sein, die Verschwundene könnte von der That etwas gewußt haben; aber ich kann es jetzt nicht mehr mit Bestimmtheit behaupten.«

»Können Sie mir etwas aus dem Vorleben des Mädchens erzählen?«

»Nicht mehr, als Ihnen meine Cousine mitgeteilt hat.«

»Wissen Sie nicht, warum sie des Abends so traurig war?«

Ueber Eleonores Wange huschte ein zorniges Rot. »Nein mein Herr!« versetzte sie kühl abweisend, »ich bin nicht die Vertraute ihrer Geheimnisse gewesen.«

»Dann können Sie uns wohl auch nicht sagen, wohin sie von hier aus gegangen sein mag?«

»Gewiß nicht.«

»Fräulein Leavenworth, wir sind genötigt, Ihnen noch eine andere Frage vorzulegen. Nach den Zeugenaussagen sind Sie es gewesen, welche den Befehl gab, die Leiche Ihres Oheims von der Stelle, wo sie gefunden worden war, in das nächste Zimmer zu schaffen.«

Sie neigte zustimmend den Kopf.

»Wissen Sie nicht, daß es ungesetzlich ist, den Körper eines tot angetroffenen Menschen aus der Lage zu rücken, in welcher er sich befand, ausgenommen in Gegenwart und auf Geheiß des zuständigen Beamten?«

»In dieser Hinsicht habe ich nicht nach meinem Verstande, sondern nach meinem Gefühl gehandelt.«

»Dann war es wohl auch Ihr Gefühl, welches Sie antrieb, an dem Tische, vor dem Ihr Oheim ermordet ward, stehen zu bleiben, anstatt der Leiche zu folgen und für deren Verbringung an einen geeigneten Platz zu sorgen, oder Sie waren vielleicht,« fuhr er mit erbarmungslosem Spott fort, »viel zu sehr damit beschäftigt, ein Stück Papier beiseite zu schaffen, statt an das zu denken, was die Sachlage von Ihnen gefordert hätte.«

»Ein Stück Papier?« wiederholte sie, das Haupt entschlossen hebend, »wer behauptet, ich hätte ein Stück Papier vom Tisch genommen? Ich bin mir nicht bewußt, das gethan zu haben.«

»Ein Zeuge hat beschworen, daß er sah, wie Sie sich über den Tisch beugten, auf welchem verschiedene Schriftstücke lagen, während eine Zeugin Ihnen wenige Minuten später in der Halle begegnete und bemerkte, daß Sie ein Stück Papier in die Tasche schoben. Daraus ergiebt sich die Berechtigung meines Schlusses, Fräulein Leavenworth.«

Das war ein direkter Angriff, und aller Augen richteten sich auf Eleonore, um zu sehen, wie sie ihn aufnahm; aber ihre stolzen Lippen zuckten nicht einen Moment. »Sie haben den Schluß gezogen,« entgegnete sie kühl, »an Ihnen liegt es auch, die Thatsache zu beweisen.«

Eine solche Antwort hatte niemand erwartet, selbst der Coroner war ein wenig verwirrt; doch bald faßte er sich wieder und sagte: »Fräulein Leavenworth, ich muß Sie noch einmal danach fragen, ob Sie vom Tisch etwas weggenommen haben oder nicht?«

Sie kreuzte die Arme über die Brust. »Ich lehne es ab, Ihnen darauf eine Antwort zu erteilen,« sagte sie ruhig.

»Verzeihen Sie mir,« versetzte er; »aber es ist nötig, daß Sie es thun.«

»Sollte sich ein verdächtiges Blatt Papier in meinem Besitz vorfinden,« sprach sie, und ein Zug der Entschlossenheit legte sich um ihren Mund, »dann wird es für mich an der Zeit sein, zu erklären, auf welche Weise ich dazu gekommen bin.«

Diese trotzige Weigerung schien den Coroner stutzig zu machen. »Begreifen Sie auch, was man aus Ihrer Weigerung schließen wird?«

Sie senkte das Haupt. »Ich fürchte, ja,« antwortete sie.

Gryce faßte mit der Hand nach der Troddel des Fenstervorhanges und spielte nachlässig mit derselben.

»Und Sie bestehen auf Ihrer Weigerung?« fragte der Coroner.

Sie verschmähte es gänzlich, darauf zu antworten, und auch der Coroner drang nicht mehr in sie.

Es war jetzt allen klar geworden, daß Eleonore nicht nur auf ihre Verteidigung bedacht war, sondern daß sie ihre Lage durchaus begriff und gerüstet war, ihre Stellung zu behaupten. Selbst ihre Cousine, die bis jetzt ihre äußere Ruhe und Fassung bewahrt hatte, verriet eine starke, unbezwingbare Aufregung. Es schien ihr doch etwas anderes zu sein, selbst eine Anklage zu erheben, als es mit anzusehen, wie dieselbe sich auf den Gesichtern aller Anwesenden mehr oder minder deutlich zeigte.

»Fräulein Leavenworth,« begann der Coroner wieder, seine Angriffsweise ändernd. »Sie hatten immer freien Zutritt zu den Gemächern Ihres Onkels, nicht wahr?«

»Jawohl.«

»Sie hätten also sein Zimmer spät in der Nacht betreten, es durchschreiten und sich an seine Seite stellen können, ohne ihn auch nur in einem Grade zu stören, daß er den Kopf nach Ihnen umgewandt hätte?«

»Ohne Zweifel,« antwortete sie, die Hände krampfhaft in einander pressend.

»Der Schlüssel zum Bibliothekzimmer fehlt, Fräulein Leavenworth.«

Sie gab keine Antwort darauf.

»Es ist durch Zeugenaussagen erhärtet worden, daß Sie vor der wirklichen Entdeckung des Mordes allein nach der Thür des Bibliothekzimmers gingen, wollen Sie mir wohl mitteilen, ob damals der Schlüssel im Schlosse steckte?«

»Er steckte nicht darin.«

»Sind Sie dessen gewiß?«

»Vollkommen.«

»Hatte jener Schlüssel vielleicht etwas Eigentümliches an sich in Größe oder Gestalt?«

Sie bemühte sich, den plötzlichen Schreck zu unterdrücken, welchen diese Frage ihr verursachte, ließ ihre Blicke anscheinend unbefangen über die Gruppe der Dienstboten gleiten und murmelte endlich zitternd: »Er unterschied sich allerdings ein wenig von den andern.«

»In welcher Beziehung?«

»Der Griff war abgebrochen.«

»Ah, meine Herren, der Griff war abgebrochen,« bemerkte der Coroner, sich an die Jury wendend; »Sie würden denselben also wiedererkennen, Fräulein Leavenworth, falls er Ihnen vorgezeigt würde?«

Sie warf einen scheuen Blick auf ihn, als ob sie erwartete, den Schlüssel in seiner Hand zu sehen; da dies aber nicht der Fall war, so faßte sie wieder Mut und antwortete gleichgültig: »Das würde ich wohl, mein Herr.«

»Gut denn,« versetzte er mit einer entlassenden Handbewegung; »das ist alles, meine Herren,« fügte er hinzu, sich an die Geschworenen wendend, »Sie haben die Aussagen der Mitglieder des Hauses gehört und –«

In diesem Augenblick trat Gryce leise auf ihn zu und berührte seinen Arm. »Nur einen Moment,« sagte er und flüsterte dem Coroner einige Worte ins Ohr; dann zog er sich wieder zurück, schob die rechte Hand in die Brusttasche und heftete die Augen auf den Kronleuchter.

Ich wagte kaum zu atmen. Hatte er dem Coroner die Worte wiederholt, die er oben in der Halle zufälligerweise vernommen?

»Fräulein Leavenworth,« sagte der Coroner, sich ihr zuwendend, »Sie haben erklärt, Sie wären gestern abend nicht bei Ihrem Onkel gewesen, hätten sein Zimmer überhaupt nicht betreten; bleiben Sie bei dieser Behauptung stehen?«

»Gewiß!«

Er schaute auf Gryce, der aus seiner Brusttasche ein seltsam beschmutztes Taschentuch hervorzog.

»Es ist merkwürdig,« fuhr er fort, »daß dieses Ihnen gehörige Tuch, welches der Beamte dort in der Hand hält, sich heute morgen in jenem Zimmer vorfand.«

Während Marys Gesicht den Ausdruck tiefster Verzweiflung zeigte, preßte Eleonore die Lippen fest zusammen und erwiderte: »Ich kann darin nichts Auffallendes erblicken, ich war heute morgen in dem Zimmer.«

»Und ließen es dort liegen?«

Ein Zug der Entmutigung glitt über ihr Gesicht, und sie antwortete nicht.

»So beschmutzt, wie es hier ist,« fuhr der Inquirent fort.

»Ich weiß von keinem Schmutz. Was ist es? Lassen Sie mich sehen!«

»Sogleich; doch zunächst wünschen wir zu erfahren, auf welche Weise es in das Zimmer Ihres Onkels gekommen ist.«

»Das kann auf sehr verschiedene Arten geschehen sein. Es ist vielleicht schon einige Tage her, daß ich es dort ließ, ich erzählte Ihnen ja, daß ich das Zimmer öfters zu besuchen pflege; aber zunächst lassen Sie mich einmal nachsehen, ob es auch wirklich mein Taschentuch ist,« bat sie und streckte die Hand danach aus.

»Dem muß wohl so sein; denn man sagte mir, Ihre Anfangsbuchstaben seien in eine der Ecken gestickt,« entgegnete er, während Gryce ihr das Tuch reichte.

»Diese Schmutzflecken,« rief sie entsetzt, »sie sehen aus wie –«

»Wie das, was sie in der That sind,« ergänzte der Coroner. »Wenn Sie jemals ein Pistol gereinigt haben, so müssen Sie es wissen, Fräulein Leavenworth.«

Mit dem Ausdruck des tiefsten Abscheus schleuderte sie das Tuch aus der Hand und starrte es unverwandt an, als es auf dem Boden lag. »Ich weiß nichts davon, meine Herren,« sagte sie, »es ist allerdings mein Taschentuch; aber –« Sie sprach den Satz nicht aus, sondern wiederholte nur: »Ich weiß in der That nichts davon, meine Herren!«

Damit war ihr Verhör geschlossen.

Jetzt wurde Kate, die Köchin, abermals aufgerufen und gefragt, wann sie das Taschentuch zum letztenmal gewaschen habe.

»Dieses Taschentuch? O, an irgend einem Tage der Woche.« stotterte sie und warf einen wie um Vergebung flehenden Blick auf ihre Herrin.

»An welchem Tage?«

»Ich wünschte, ich könnte es vergessen, Fräulein Eleonore, aber ich kann es nicht; es ist das einzige derartige Tuch im ganzen Hause; vorgestern erst habe ich es gewaschen.«

»Wann bügelten Sie es?«

»Gestern morgen,« kam es stockend über ihre Lippen.

»Und wann haben Sie es auf Fräulein Leavenworths Zimmer gebracht?«

Die Köchin fuhr sich mit dem Zipfel der Küchenschürze nach den Augen. »Gestern nachmittag mit der übrigen Wäsche, kurz vor dem Essen. Ich konnte wirklich nicht anders, Fräulein Eleonore,« schluchzte sie, »es ist die Wahrheit!«

Nachdem der Coroner die Zeugin entlassen hatte, wandte er sich wieder an Eleonore mit der Frage, ob sie über diesen Punkt noch etwas hinzuzufügen oder zu erklären habe.

Sie rang stumm die Hände, schüttelte langsam den Kopf und sank lautlos und ohnmächtig auf ihren Stuhl zurück.

Während der nun folgenden Aufregung machte ich die Bemerkung, daß Mary ihrer Cousine nicht zu Hilfe kam, sondern es Molly und Kate überließ, ihre Herrin zum Bewußtsein zurück zu bringen. Nach wenigen Sekunden war dies insoweit geschehen, daß sie dieselbe nach ihrem Zimmer geleiten konnten. Als sie dies thaten, bemerkte ich, wie ein hochgewachsener Mann ihnen folgte.

Hierauf trat ein peinliches Schweigen ein; dann erhob sich ein Geschworener und schlug vor, die Jury für heute zu vertagen. Dies schien mit den Wünschen des Coroners übereinzustimmen; denn er stand auf und setzte den Fortgang der Untersuchung auf 3 Uhr am nächsten Nachmittag fest, die Erwartung aussprechend, daß alsdann alle Geschworenen zur Stelle sein würden.

Jetzt entfernten sich alle, und in wenigen Minuten war der Saal leer bis auf Mary Leavenworth, Gryce und mich.


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